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Ich schließe wie im letzten Brief: In Gedanken bin ich bei Dir, meine Kleine. Tag und Nacht.

In Liebe

Matthias Hase betrachtete noch einmal die nach rechts geneigten Buchstaben. Dann faltete er den Brief zweimal und fuhr mit dem Daumennagel über die Knickstellen. Seine kleine Mandy, sein Püppchen. Ihr Bild war Tag und Nacht bei ihm. Die feinen blonden Haare zu Zöpfchen geflochten, die hochgebunden worden waren und so eine Schlaufe bildeten. »Affenschaukeln« hatten sie es genannt. Im hellen Licht hatten Mandys Haare immer einen rötlichen Schimmer gehabt. Sonnenlicht verstärkte auch ihre Sommersprossen, die im Winter fast unsichtbar waren.

Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie heute, als erwachsene Frau, aussah. Für ihn war sie immer noch die Kleine, sein Püppchen, was wohl auch daran liegen mochte, dass er nicht miterlebt hatte, wie sie zur Frau herangereift war.

Seine Schwester war ein kleines, zartes Kind gewesen. Und immer ein bisschen ängstlich. Sie hatte sich nie ganz fallenlassen können, war immer auf der Hut gewesen. Andererseits war das unter den Umständen, unter denen sie lebten, auch nicht verwunderlich.

Er hatte sich bemüht, ihr beizustehen, für sie da zu sein, aber es war ihm nicht ständig möglich gewesen, Mandy zu beschützen. Die älteren Kinder hatten fast immer länger Unterricht als die jüngeren. Außerdem erledigten Ältere und Jüngere die Hausaufgaben in verschiedenen Räumen. Nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten waren alle Heimkinder beisammen, saßen aber in Gruppen an Vierertischen  – Plätze zu tauschen war nicht erlaubt und Sprechen unerwünscht. Auch an den Wochenenden gab es strenge Vorschriften und wechselnde Unternehmungen, die die Kinder zu absolvieren hatten.

Die Schlafsäle für Jungen und Mädchen waren streng getrennt, und so war seine Kleine Nacht für Nacht auf sich allein gestellt gewesen.

Matthias hatte damals schon die Vermutung gehabt, dass in den Stunden, in denen er nicht anwesend war, Schlimmes geschah, konnte es aber in seiner Zeit im Kinderheim nie beweisen. Und Mandy sprach nicht darüber. Von Monat zu Monat wurde sie stiller, zog sich immer mehr in sich zurück, sprach kaum noch, ihre Haare verloren den seidigen Glanz, der Blick ihrer hellen Augen wurde matt.

Nicht zuletzt war er damals selbst noch ein Kind gewesen, ein Junge zwar, aber eben doch nur ein Jugendlicher, der es mit der Perfidie der Erwachsenen nicht hatte aufnehmen können.

Heute konnte er anders vorgehen. Er war stark und unnachsichtig, nicht mehr der empfindsame Junge, er hatte Kraft, und er hatte die Macht, sich für all die Marter zu revanchieren.

 

Matthias schob den Brief in einen gefütterten Umschlag und legte ihn in die Schatulle. Dorthin, wo schon der erste Brief an Mandy wartete. Noch war es nicht so weit, sie abzuschicken.

Zum einen hatte er noch längst nicht alle Peiniger gefunden und gerichtet. Die Suche nach ihnen und die Vorbereitungen der Bestrafungen würden noch viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. Und bevor nicht jeder seine Untaten gesühnt hatte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Entdeckung aussetzen.

Das war aber nicht der Hauptgrund. Matthias Hase hatte Angst, große Angst. Davor, dass Mandy mit den Erinnerungen nicht fertigwurde. Seine Briefe würden den fauligen Schlamm vom Boden ihres Bewusstseins wieder aufwühlen. Er hatte seine Schwester seit vielen Jahren nicht gesehen, wusste nicht, ob sie die Vergangenheit komplett verdrängt hatte, um ruhig leben zu können.

Was, wenn die Schreiben alte Wunden bei ihr aufrissen? Würde sie ihr jetziges Leben weiterführen können? Aus eigener Erfahrung wusste Matthias, dass die Erinnerung an längst vergangene Qualen genauso schmerzhaft sein konnte wie das ursprüngliche Erlebnis. Die Wunden der Seele vernarbten nie.

Noch mehr fürchtete er sich jedoch vor einer möglichen Antwort seiner Schwester. Was, wenn sie ihn treffen wollte, um mit ihm über früher zu reden? Matthias hatte keine Ahnung, ob er dies würde ertragen können.

Eines Tages jedoch würde er die Briefe abschicken. Sein Unterbewusstsein würde ihm sagen, wann es so weit war.

 

Der Deckel der geschnitzten Schatulle schloss sich mit einem Klacken. Matthias stellte das Kästchen in den Schrank zurück. Zwei der Täter von damals hatten ihre gerechte Strafe erhalten. Sie waren mit der gleichen Methode bestraft worden, die sie selbst angewendet hatten  – Fischgesicht Meller mit Wasser und Isolde Semper, die Walze, mit verdorbener Nahrung.

Er ging in die Küche, setzte sich, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte die Handflächen über das Gesicht. Jetzt kam der schmerzhafte Teil. Matthias Hase musste sich erinnern. Musste Dinge hervorholen, die besser im Verborgenen geblieben wären.

Um auch die anderen Peiniger zu bestrafen, um die passenden Sanktionen vorzubereiten, musste er sich zuerst exakt daran erinnern, was diese den Kindern alles angetan hatten.

Mit Mellers chinesischer Wasserfolter und dem Aufessen von Erbrochenem war es nicht getan. Das waren in einer Reihenfolge der Schrecklichkeiten harmlose Vergehen gewesen. Es hatte Schlimmeres gegeben, das wusste Matthias, aber sein Geist weigerte sich hartnäckig, die Erinnerungen daran preiszugeben.

Er schloss die Augen.

Zerkratzter Linoleumboden. Das Summen einer Fliege. Ein schmaler Lichtstreifen. Derbe Schuhe. Ein dumpfer Schlag.

Matthias kniff die Augen noch ein wenig fester zusammen, aber das Bild blieb diffus. Er sah nichts als wirre Bruchstücke. Stattdessen verstärkten sich seine Kopfschmerzen, die die ganze Zeit latent vorhanden gewesen waren. Sein Gehirn verweigerte den Dienst. Es wollte einfach nicht mit den Namen der anderen Erzieher herausrücken. Matthias wusste, dass sie da waren, dass all die schrecklichen Taten, Namen, Gesichter gespeichert waren, sauber abgelegt in verschiedenen Schubladen, aber er konnte diese nicht öffnen. Seinem Bewusstsein fehlte der Schlüssel. Aber ohne die Namen gäbe es keine Recherche und ohne Recherche keine Abrechnung.

Vielleicht half es, wenn er sich den Tagesablauf im Heim noch einmal vergegenwärtigte. Mit noch immer geschlossenen Augen kehrte Matthias Hase in die alte Villa vor dreißig Jahren zurück.

»Ruhe dahinten! Es ist längst Schlafenszeit!« Eine barsche Männerstimme. Das Rascheln von grobgewebter Baumwolle. Ein Schalter klickte, es wurde hell. Feste Schritte näherten sich. »Hört ihr schwer? Jeden Abend das gleiche Theater! Ihr lernt es nie!« Mehrmaliges Klatschen, gefolgt von leisem Wimmern. Die Schritte tappten zurück, der Lichtschalter klickte erneut. Hinter Matthias’ fest geschlossenen Augen wurde es dunkel. Stuhlbeine kratzten über den Boden. Dann war Stille.

Die Zeiten für die Nachtruhe im Heim waren gestaffelt. Dabei wurde nach Schulklassen eingeteilt. Alle Kinder bis Klasse vier wurden um halb acht ins Bett geschickt, um acht Uhr folgten alle Kinder bis zur Klassenstufe acht, um neun Uhr schließlich Klasse neun und zuletzt, um halb zehn, die Zehntklässler und Lehrlinge bis achtzehn Jahre.

»Bettruhe« bedeutete nicht etwa, dass sie noch lesen oder sich unterhalten durften. Es wurde absolutes Schweigen verlangt, jeder hatte in seinem Bett zu liegen, die Augen geschlossen. Man konnte sich vorstellen, dass es einem Jugendlichen mit zwölf, dreizehn Jahren schwerfiel, um acht Uhr abends schon schlafen zu gehen, besonders im Sommer. Diskutieren nützte jedoch nichts. Es gab Regeln, und diese wurden eingehalten. Damit es in den Schlafsälen trotzdem ruhig war, saß an jeder Tür ein »Wachhund« und beaufsichtigte die Kinder, bis irgendwann tatsächlich alle schliefen.

Die Erzieher teilten sich die Dienstzeiten untereinander auf. Manche machten nur die Tagschicht, andere wechselten. Es gab drei Schichten, die Früh-, Mittags- und Nachtaufsicht.

Der Nachtdienst  – immer mindestens zwei Erzieher, einer für die Mädchen, einer für die Jungen  – verschwand nach dem Frühstück, wenn die Kinder in die Schule gingen. Die Frühschicht blieb bis zur »Lernzeit« am Nachmittag, wenn die Hausaufgaben gemacht wurden, und wurde vom Spätdienst abgelöst. Die Semper war immer vor dem Abendbrot gegangen. Fischgesicht Meller hatte den Nachtdienst bevorzugt.

 

Matthias öffnete die Augen. Das Sonnenlicht blendete ihn. Aus dem dumpfen Pochen hinter seiner Stirn war ein stetiges Hämmern geworden. In ein, zwei Stunden würde er eine ausgewachsene Migräne haben. Sein Körper wehrte sich mit allen Mitteln gegen die Erinnerungen.

Im Medizinschrank stapelten sich die Schächtelchen zu Türmen. Matthias betrachtete die Aufschriften der Medikamente. Manches lag schon so lange hier, dass er gar nicht mehr wusste, wozu es gut war. Doch eine Tablettenpackung wurde regelmäßig erneuert. Seine Finger fanden sie zielsicher  – ein Mittel mit Triptan, wirksam bei schweren Migräneanfällen.

Er marschierte in die Küche zurück und spülte die Tablette mit Cola hinunter. Den Schmerzen war vorgebeugt, jetzt sollte sein Kopf keine Ausreden mehr haben. Matthias Hase rückte den Stuhl zurecht, stützte abermals den Kopf in die Hände und schloss die Augen. So konnte er am besten nachdenken.

 

Die Nachtwache. Er war bei der Nachtwache stehen geblieben. Etwas geschah in den Nächten.

Das Feuerrad in seinem Schädel begann sich zu drehen und schleuderte Gedächtnisfetzen wie Protuberanzen nach außen.

Einmal war er aufgewacht, als ein Junge in den Schlafsaal zurückgebracht worden war. Der Kleine hatte geschwankt wie ein Schilfrohr im Wind. Ein Erzieher stützte ihn, half ihm in sein Bett, deckte den Kleinen zu und schlich wieder auf den Gang. Das alles hatte sich im Dunkeln und fast lautlos abgespielt. Matthias hatte keine Ahnung, was ihn geweckt hatte. Das Einzige, an das er sich noch erinnerte, war, dass der Kleine danach noch eine ganze Weile lang leise geschnieft hatte. Und auch das hatte er nur hören können, weil er direkt nebenan lag.

Etwas war in dieser Nacht geschehen. Etwas Schlimmes. Mehr als das gab sein Gehirn nicht frei. Die Schublade, in der das Wissen verborgen war, blieb geschlossen. Wer war dieser Erzieher gewesen? Und was hatte er dem Jungen angetan?

Matthias öffnete die Augen wieder, blinzelte mehrmals und starrte blicklos auf die Küchenfliesen.

Er hatte geweint, ohne es zu merken. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Augen und schluckte mehrmals. Etwas zog ihn förmlich ins Arbeitszimmer. Er musste recherchieren. Routiniert fuhr er den Computer hoch.

 

Matthias starrte auf den Monitor. Seine Unterlippe zitterte, und er versuchte, seine Kaumuskeln im Zaum zu halten, damit die Zähne nicht unkontrolliert aufeinanderklapperten. Er beugte sich zur Seite. Seine Finger machten sich selbstständig und drückten den rot leuchtenden Knopf auf der Steckdosenleiste. Mit einem Knistern erlosch das Bild.

Die plötzliche Stille im Arbeitszimmer wurde nur vom rhythmischen Hämmern seiner Zähne unterbrochen. Das Pochen im Kopf kam mit der Macht einer Dampframme zurück. Er rieb sich so heftig mit den Fingern über die Stirn, dass rote Flecken entstanden. Matthias ging ins Bad, um sich noch eine Tablette zu holen. Die Blisterpackung in der Rechten, blieb er vor dem Medizinschränkchen stehen.

Er war vorgegangen wie immer: den Computer hochfahren und die Suchmaschine aufrufen. Den Namen des Kinderheims plus Ort eingeben. Der Form halber nach aktuellen Veröffentlichungen schauen und anschließend die E-Mails abrufen. Nur dass es dieses Mal nicht wie immer abgelaufen war, denn Google hatte einen neuen Eintrag ausgespuckt.

Beim Klick auf den Link war ein Schwarz-Weiß-Foto eines Hauses erschienen, das Matthias nie wieder hatte sehen wollen.

Er drückte eine Kapsel aus der Packung und versuchte, sie trocken hinunterzuschlucken, aber die Tablette rutschte nicht. Matthias beugte sich vor und trank direkt aus dem Hahn. Dann schüttete er sich mit beiden Händen reichlich kaltes Leitungswasser ins Gesicht, während in seinem Kopf die Gedanken wie wilde Mauersegler umeinanderjagten. Das Wasser hatte einen kupfernen Nachgeschmack. Zurück in der Küche holte er den Kräuterlikör aus dem Vorratsschrank und nahm einen kräftigen Zug direkt aus der Flasche. Matthias Hase trank sonst nie Alkohol, weil ihn das wirr im Kopf machte, aber heute war eine Ausnahme. Das Geschrei in seinem Kopf wurde leiser und verstummte. Nach einem weiteren Schluck des bitteren Schnapses fühlte er sich ausreichend gewappnet, ins Arbeitszimmer zurückzukehren und sich den Erinnerungen zu stellen.

 

Das Gebäude auf dem Bildschirm hatte sieben Fenster im Erdgeschoss und sieben darüber. Die drei mittleren Fenster im ersten Stock öffneten sich auf einen Balkon. Darüber waren noch einmal drei Fenster, gekrönt von einem dreieckigen, verzierten Giebel. Matthias brauchte das Bild nicht zu vergrößern, um zu wissen, dass in dem Dreieck zwei stilisierte Löwen ihre Tatzen auf ein Blumenbukett gelegt hatten. Daneben ragte die Drahtkonstruktion einer Fernsehantenne in den Himmel. Gardinen gab es keine. Das Stückchen Garten, das man auf dem Foto vor der Villa sehen konnte, war ungepflegt. Es sah nicht so aus, als sei das Haus noch bewohnt.

Vorsichtig glitt sein Blick über den Text neben dem Bild.

Kinderheim »Ernst Thälmann«  – Ein Haus mit Vergangenheit

  • – Historie
  • – Tagesablauf
  • – Gästebuch
  • – Fotos
  • – Mein Leben im Heim
  • – Kontakt

Ganz langsam wanderte der Mauszeiger zu dem Menüpunkt »Tagesablauf«, der linke Zeigefinger drückte die Taste.

Liebe Besucher! Diese Seite befindet sich noch im Aufbau. Weitere Infos folgen in Kürze.

Matthias atmete heftig. In seinen Ohren rauschte das Blut. Eine kleine Fliege landete auf dem oberen Rand des Monitors und begann, sich die Beinchen zu putzen. Er fühlte sich körperlich erschöpft, so als habe er einen anstrengenden Sportwettbewerb hinter sich. Würden sich auf den anderen Seiten echte Informationen oder auch nur die Vertröstung auf später verbergen? Noch einmal huschte sein Blick über das Menü, während er gleichzeitig überlegte, was sein ramponierter Verstand am ehesten ertrüge.

Historie:

Bevor es ein Kinderheim wurde, hieß das Haus »Villa Rosengarten«. Bis 1945 gehörte es einem Tuchfabrikanten. Die Villa Rosengarten wurde 1860 im Renaissancestil mit klassizistischen Einflüssen erbaut.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Besitzer enteignet. Nur kurz darauf begann man, Kinder  – Kriegswaisen zuerst  – in der Villa unterzubringen, die 1950 den Namen »Ernst Thälmann« erhielt.

Fast fünfzig Jahre lang, bis zur Wende 1989, fungierte die ehemalige Villa Rosengarten dann als Kinderheim.

Auch hier wieder ein grobkörniges Foto. Es zeigte den Seiteneingang. Acht Stufen führten zu einer zweiflügligen Rundbogentür aus Holz. Das verschnörkelte Geländer an der Seite der Treppe war verrostet. Über dem Eingang fletschte ein glotzäugiges Dämonengesicht die Zähne. Solche Gestalten sollten böse Geister abschrecken und vom Haus fernhalten. Für Matthias war die Fratze immer ein Symbol gewesen. Ein Sinnbild für das, was im Haus geschah.

Zahlreiche Mädchen und Jungen verbrachten hier ihre Kindheit. Das Kinderheim »Ernst Thälmann« war ihr »Zuhause«, manchmal über viele Jahre hinweg. Freud und Leid, Erfahrungen mit dem Leben fanden hier statt, Menschen wurden geprägt. Wie sehr  – das muss jeder selbst beurteilen.

Matthias hörte sich selbst keuchen. Freud und Leid? Was für Freude konnte der Verfasser gemeint haben? Hatte es jemals schöne Augenblicke gegeben? Er jedenfalls erinnerte sich an nichts dergleichen. Aber vielleicht war ja der Verfasser dieser Seiten auch bloß vorsichtig mit dem, was er ins Netz stellte. Er überflog den Rest.

Am 1. Januar 1986 wurde das Kinderheim von der VEB Gebäudewirtschaft an den Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung übergeben.

Ab 1988 erfolgten umfangreiche Umbauten. Das Nebengebäude wurde durch einen Verbindungsgang an das Haupthaus angeschlossen. Im Nebengebäude entstanden neue Wohneinheiten. Hier wohnten Jugendliche, die zur »Wiedereingliederung in den sozialistischen Alltag« vorbereitet werden sollten und meist aus Jugendwerkhöfen kamen. Im Zuge dessen wurden auch die Räume im Hauptgebäude verkleinert, und jede Etage erhielt eine eigene Küche und ein Bad.

Am 30. Juni 1990 schließt das Kinderheim für immer seine Pforten.

»Jugendwerkhöfe«, was für ein unschuldiges Wort für Strafanstalten, in denen Jugendliche zu systemtreuen DDR-Bürgern erzogen werden sollten!

Neben dem Text waren weitere Fotos, alle in Schwarz-Weiß. Die Rückansicht des Hauses mit der verglasten Veranda, das halb verfallene Pförtnerhaus, der Jugendstilzaun und zum Schluss noch das Wirtschaftsgebäude. Noch einmal ließ Matthias seinen Blick von oben nach unten rutschen. Am Pförtnerhäuschen blieb er hängen. Ein Spitzdach über Fachwerk, zwei schmale Fenster, eine mannshohe Birke direkt vor der Tür. Etwas blitzte in seinem Kopf auf, aber er konnte den Gedanken nicht einfangen.

Auch die rechteckigen Kellerfenster im Haupthaus, in einer Reihe unter den sieben Rundbogenfenstern im Erdgeschoss wirbelten Staub in seinem Hirn auf. Konzentrier dich!, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Diese neu aufgetauchte Seite hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht, besonders die Bilder irritierten ihn. Matthias beschloss, nicht weiter darüber nachzugrübeln, und klickte sich zurück auf die Startseite. Die Erinnerungen würden wiederkommen, wenn er bereit dafür war. Sein ursprüngliches Ziel war es gewesen, zu recherchieren, weitere Namen herausfinden.

Wer hatte die Seite eigentlich ins Netz gestellt? Er suchte nach einem Impressum, fand jedoch nur das Datum der letzten Aktualisierung und eine E-Mail-Adresse mit der Bezeichnung »postmaster«.

Die Seite Über mich war noch leer. So war nicht einmal ersichtlich, ob der ehemalige Heiminsasse männlich oder weiblich war. Matthias rückte den Mauszeiger auf die Mailadresse und das Outlook-Fenster öffnete sich. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.