31

»Hast du schon Mittag gegessen?« Mark drehte den Kopf nach rechts und links und kurvte rückwärts in die Parklücke.

»Nein. Ich habe spät gefrühstückt.« Lara angelte ihre Handtasche vom Rücksitz. »Sonntags gönne ich mir den Luxus, auszuschlafen.«

»Super. Ich habe Hunger. Wann kommt Jo?«

»Wir treffen uns gegen zwei, habe ich ihm gesagt.«

»Das ist ja bald.« Er bot ihr seinen angewinkelten Arm an, und Laras Hand schlüpfte wie von selbst neben dem Ellenbogen durch. »Dann schlage ich vor, wir essen zuerst in aller Ruhe etwas und reden dann über deine  – wie du es nennst  – übersinnlichen Erlebnisse.« Er grinste kurz und schaute in den Himmel. »Suchen wir uns einen Platz im Schatten. Die Sonne brennt ganz schön.«

Lara sah sich um. Fast alle Tische im Außenbereich waren besetzt. Familien mit Kindern, Ausflügler, eine Rentnergruppe, Liebespärchen, alle schienen sich verabredet zu haben, das schöne Wetter zu genießen. Für die nächsten Tage hatten die Meteorologen einen Umschwung gemeldet.

Lara betrachtete den feinen weißen Staub auf ihren frisch geputzten schwarzen Pumps. Es wurde auch Zeit, dass es mal wieder regnete. Mark steuerte auf eine der Nischen zu, die jeweils an drei Seiten von hohen Hecken eingefasst waren. Der ideale Platz für ein Tête-à-tête.

»Ich brauche noch in einer anderen Sache deinen Rat.« Lara rückte das Stuhlkissen zurecht und setzte sich. Mark nahm ihr gegenüber Platz und wartete mit hochgezogenen Augenbrauen, dass sie weitersprach.

»Kannst du dich noch an meinen Kollegen Tom erinnern? Tom Fränkel?«

»Den blonden Schönling?«

»Genau den.«

»Das war doch der, der letztes Jahr unter deinem Namen Artikel veröffentlicht hat, oder?«

»Beweisen konnte ich es ihm nie.«

»Was ist mit ihm? Hat er wieder etwas als ›Lara Birkenfeld‹ geschrieben?«

»Nein, das nicht.« Lara sah Jo um die Ecke biegen. Die Fotoausrüstung baumelte von seiner Schulter. Mit schnellen Schritten kam er näher. Seine Augen leuchteten in der Mittagssonne fast violett. Ihr Herz kam ins Stolpern, und sie senkte den Blick auf die Tischdecke.

»Hallo, ihr zwei! Lange nicht gesehen, Mark!« Jo schlug dem Psychologen freundschaftlich auf die Schulter und ging um den Tisch herum zu Lara. »Wir beide treffen uns ja dauernd, nicht?« Lara nickte, weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, und spürte Jos warme Handfläche auf ihrem Arm. Beim Aufblicken bemerkte sie Marks nachdenkliches Lächeln.

»Habt ihr schon bestellt?« Jo hängte die Ledertaschen über die Stuhllehne, setzte sich und griff nach der Karte.

»Nein. Wir sind auch gerade erst gekommen. Lara wollte mir eben etwas erzählen …« Mark wartete kurz und setzte dann zu Lara gewandt hinzu: »Ist es vertraulich?« Sie schüttelte den Kopf, und er fuhr fort. »Dann lass uns das gleich als Erstes besprechen, aber vorher suchen wir uns etwas zu essen aus. Bei dem Betrieb hier wird es sicher eine Weile dauern, bis wir es bekommen.«

Er wartete, bis der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte und davoneilte.

»Also, schieß los. Es ging um Tom Fränkel. Was hat er angestellt?«

Jo sah Lara an, als er den Namen des Redakteurs hörte.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass er hinter meinem Rücken intrigiert.« Lara rieb sich die Unterarme. »Gerichtsreportagen, Verbrechen, Kriminalität gehören seit Jahren in mein Ressort. Wenn etwas Derartiges reinkommt, ist es selbstverständlich, dass ich das auf den Tisch kriege, es sei denn, ich bin im Urlaub. Daran hat sich nichts geändert, und auch die Aufgaben wurden nicht neu verteilt. Vor knapp drei Wochen hatten wir dann einen bisher ungeklärten Mordfall. Eine Leiche in einem Plattenbaublock, der abgerissen werden sollte.«

»Der Mann in der Badewanne, von dem du mir erzählt hast?« Mark dämpfte seinen Tonfall, weil der Kellner mit den Getränken nahte. Sie warteten, bis er sich wieder entfernt hatte, dann sprach Lara weiter. »Genau der. Die Information kam über den News-Ticker. Bei der Redaktionskonferenz hat Tom den Fall an sich gerissen.«

»Bist du sicher, dass das böse Absicht von ihm war?« Jo strich mit dem Handrücken Kondenswasser von der Oberfläche seines Bierglases.

»Ja. Er muss das geplant haben, denn er hatte schon vor der Besprechung wegen dieses Falles mit Kriminalkommissar Stiller telefoniert. Toms Argument gegenüber Hampenmann war aber nicht, dass er den Fall unbedingt haben wollte, sondern dass ich in der Woche sowieso schon einige Gerichtstermine hätte und dauernd außer Haus sei. So, wie er es sagte, klang es, als wollte er mir nur Arbeit abnehmen. Im Intrigieren ist er wirklich Spitze. Es sieht jedes Mal so aus, als sei alles ganz zufällig geschehen.«

»Geschickt eingefädelt.«

»Er hat dann mehrere Artikel dazu geschrieben. Die waren sogar nicht mal schlecht.«

»Egal, was man über Tom Fränkel denken mag, seine Texte sind gut. Hat er nicht die Fotos zu dem Fall auch selbst geschossen?« Jo hob das Glas und prostete ihnen zu. Nachdem Lara getrunken hatte, fuhr sie fort.

»Das stimmt. Er hat reichlich Lob für seine Berichterstattung vom Chef eingeheimst. Das ist aber noch nicht alles. Diesen Donnerstag war ich zur Einweihung einer evangelischen Grundschule und habe Frank Schweizer getroffen. Das ist ein Kollege von der Tagespost.« Lara dachte daran, dass Frank mit Mia Sandmann an dem gleichen Abend hier im Lindencafé gewesen war, als sie sich mit Kriminalobermeister Schädlich getroffen hatte. »Ich muss dazu ein bisschen ausholen.« Jo und Mark nickten synchron.

»Ich sollte über einen Prozess gegen vier Fußballrowdys, die auf dem Bahnhof zwei Passanten zusammengeschlagen haben, schreiben. Das Verfahren sollte ursprünglich kommende Woche eröffnet werden. Frank hat mir nun erzählt, dass es eine Terminverschiebung gegeben hatte, über die man auch die Presse  – wenn auch ziemlich kurzfristig  – informiert hat. Es wurde vorverlegt, um die Zeitspanne zwischen Straftat und Prozess zu verkürzen. Langer Rede kurzer Sinn  – ich habe von dem geänderten Zeitpunkt nichts erfahren. Normalerweise kriege ich bei solchen Sachen sofort eine Nachricht auf den Tisch oder werde angerufen, wenn ich nicht in der Redaktion bin.«

»Lass mich raten.« Jos Augen funkelten. »Tom war dort und hat dich ›vertreten‹.«

»So ist es.« In ihrem Bauch schäumte der Zorn auf Tom Fränkel gegen die Magenwände. »Und der Hampelmann steht voll auf seiner Seite!«

»Woraus schließt du das?« Mark trug sein Psychologengesicht zur Schau. Gelassen und abgeklärt.

»Ich war gleich nach der Schuleinweihung am Donnerstag bei ihm, um mich zu beschweren. Wisst ihr, was er gesagt hat? Er hätte Tom dahin geschickt, weil ich nicht erreichbar gewesen sei! Und dass ich Tom nur bei ihm anschwärzen wolle!« Lara schnappte nach Luft. »Ich habe gestern Abend meiner Freundin Doreen davon erzählt, und sie hat gesagt, das sei ein Paradefall von Mobbing.«

»Starker Tobak.« Jo trank sein Glas leer und sah sich nach dem Kellner um.

»Was könnte der Grund für Toms Verhalten sein?« Mark redete mit seiner beruhigenden Stimme, was Lara nur noch wütender machte.

»Was weiß denn ich. Er kann mich nicht leiden. Voriges Jahr hat er mir Avancen gemacht, und ich habe ihn abblitzen lassen. Vielleicht ist es das.« Lara seufzte.

Jo schüttelte den Kopf. »Ich denke, er ist karrieregeil. Man munkelt doch schon seit Längerem, dass Hampenmanns Stelle frei wird, weil er nach Berlin geht. Und mit Sicherheit wird man auf seine Empfehlungen in Bezug auf einen potenziellen Nachfolger hören, meint ihr nicht auch? Da kann man sich doch schon mal andienen.«

»Einschleimen meinst du wohl.« Lara war noch immer wütend, aber der Sturm legte sich allmählich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn tatsächlich Hampenmanns Weggang der Grund ist, wird Tom sicher nicht mit seinen Intrigen aufhören, bis er sein Ziel erreicht hat.«

»Zuerst müssen wir Beweise sammeln und sichern, Lara. Du hast uns jetzt schon einiges erzählt, was tatsächlich auf Mobbing hindeutet. Schreib noch einmal alles auf, was bisher passiert ist, so genau wie möglich, mit Datum, Uhrzeit, Zeugen. Du führst also eine Art ›Mobbing-Tagebuch‹.« Mark war ganz pragmatisch.

»Soll ich Tom sagen, dass ich sein Tun bemerke, oder lieber nicht?«

»Er kann ruhig wissen, dass es dir aufgefallen ist und dass du seine Aktivitäten im Auge behältst. So ein Verhalten verstärkt sich nämlich, wenn es keine Antwort erfährt. Du musst ihm unmissverständlich klarmachen, dass du über seine Machenschaften Bescheid weißt und etwas dagegen unternehmen wirst. Sonst wird er immer dreister. Parallel dazu schreibst du alles auf, was dir auffällt. Wir werden des Ganzen schon Herr werden.« Mark lächelte aufmunternd.

»Und ich halte auch Augen und Ohren offen. Weiß Tom, dass wir uns privat treffen?« Jo legte seine Hand auf ihre, und Lara sah ein Glitzern in Marks Augen, das sie nicht einordnen konnte.

»Nein, ich glaube nicht.« Die Luft schien mit einem Mal elektrisch aufgeladen wie kurz vor einem Gewitter.

»Dann lassen wir es auch vorerst dabei. So kann ich mich besser in der Redaktion umhören.«

»Ist gut. Danke, Jungs. Das hat mir schon geholfen.« Lara schenkte beiden ein breites Lächeln. Der Kellner kam mit vollbeladenen Tellern und servierte.

»Was ist eigentlich aus dem Fall dieser Plattenbauleiche geworden? Ich fand das aus psychologischer Sicht ziemlich interessant: Ein toter Mann liegt in einer leeren Badewanne und wurde offensichtlich ertränkt, aber es gibt keinen funktionierenden Wasseranschluss in dem Abbruchhaus, und niemand hat etwas gesehen oder gehört. Hat die Polizei inzwischen eine heiße Spur?« Mark sägte an seinem Rumpsteak, während er sprach. Entweder war das Fleisch zäh oder das Messer stumpf.

»Kriminalobermeister Schädlich hat mir im Vertrauen erzählt, dass sie inzwischen wissen, wer der Tote war: ein Rentner aus Wurzen. Er hieß Siegfried Meller.«

»Siegfried Meller.« Nachdenklich murmelte Mark den Namen vor sich hin. »Wurde der Mann denn gar nicht vermisst?«

»Anscheinend nicht.«

»Das ist merkwürdig. Hatte er niemanden, der ihm nahestand? Es war eine Beziehungstat, dessen bin ich mir sicher. Und auch diese absonderliche Todesart hat etwas zu bedeuten. Man müsste im Vorleben des Opfers nachforschen, um ein Motiv und Verdächtige zu finden. Außerdem stellt sich mir die Frage, welchen Bezug der Täter zu diesem Plattenbaugebiet hier hatte. Das ist ja nicht gerade der nächste Weg von Wurzen bis hierher. Er muss sich hier in der Gegend auskennen, um zu wissen, dass die Blocks abgerissen werden sollen. Entweder also stammt er selbst von hier oder hat Beziehungen hierher. Der Täter ist bestimmt ein Einheimischer. Wenn wir es mit einer Serientat zu tun hätten, könnten wir geographic profiling einsetzen.« Marks Worte hörten sich an, als fehle ihm die Tätigkeit als Fallanalytiker. Er hatte endlich einen Streifen Fleisch abgetrennt, schob sich den Bissen in den Mund und kaute darauf herum.

»Es gibt wohl auch DNA-Spuren, die aber, soweit ich weiß, noch nicht ausgewertet sind.«

»Leider nicht besonders nützlich, wenn man kein Vergleichsmaterial hat.«

»Deshalb müssen sie sich ja mit der Analyse auch nicht sonderlich beeilen. Es sei denn, die DNA ist schon mal in einem anderen Fall aufgetaucht und in der Datenbank gespeichert. Aber das weiß man ja vorher nicht.« Lara tunkte ein Stück Salatbeilage in die Bratensoße. Im wahren Leben ging es leider nicht so zu wie in den amerikanischen Serien, in denen man das zu untersuchende Material ins Labor schickte und einen Tag später die Ergebnisse hatte. Wenn ein Fall nicht absoluten Vorrang besaß, konnte es Wochen dauern. Die Labore in Deutschland waren chronisch überlastet.

»Hast du Kontakt mit der Kripo, Lara, oder macht das alles Tom?« Jos Teller war schon fast leer.

»Schädlich erzählt mir ab und zu etwas. Mit Stiller habe ich nichts zu tun. Ich bezweifle auch, dass er mir etwas mitteilen würde.«

»Ich auch.« Mark grinste. Er hatte Kriminalkommissar Stiller letztes Jahr persönlich kennengelernt und ihm den Spitznamen »Blechmann«  – angelehnt an die Figur des eisernen Holzfällers aus dem Zauberer von Oz  – verliehen. »Ein spannender Fall trotzdem. Du kannst mich ja auf dem Laufenden halten.«

»Das mache ich.« Lara hob die Gabel, um das letzte Stückchen Tomate aufzuspießen.

 

Eine viel zu weiße Hand legte zwei Zangen auf einen Teppich: eine schwarze Kneifzange und eine Wasserrohrzange. Die Hand verschwand aus dem Fokus und kehrte gleich darauf mit einem Schraubenzieher zurück. Der lange Metallstab mit dem roten Griff landete neben den Zangen. Mehrere Nadeln folgten, eine davon mit einer Öse am Ende. Dann kamen eine Rolle Paketband, das silbrig glänzte, und ein Teppichmesser mit blaugeriffeltem Griff.

 

Lara schloss den Mund und betrachtete die Gabel in ihrer Rechten, die über einer Tomatenhälfte schwebte. Ihr Blick fiel auf Mark, der sie verblüfft betrachtete, und dann auf Jo, der einen identischen Gesichtsausdruck hatte.

»Du hattest gerade eins deiner Gesichte.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Lara nickte, noch immer benommen. In Marks Stimme schwang ein bisschen Aufregung mit, obwohl er sich bemühte, ganz ruhig zu sprechen. »Was war es?«

»Werkzeuge. Ich habe Werkzeuge gesehen. Schraubenzieher und Zangen, so etwas wie Paketband und ein Teppichmesser.«

»Handwerksgeräte?« Mark schien enttäuscht. »Mehr nicht?«

»Ein paar Nadeln waren noch dabei. Und eine Hand.«

»Eine Hand?« Jo hörte sich bestürzt an.

»Es ist nicht das, wonach es sich anhört. Die Hand gehörte zu

jemandem, aber das konnte ich nicht sehen. Ich habe nur diese Hand wahrgenommen, wie sie die Werkzeuge nebeneinander auf eine Art Teppich gelegt hat.«

»Sehr seltsam.«

»So ist es immer.« Lara betrachtete die Gruppe Spatzen, die leise zeternd um die Tischbeine hüpfte. »Es sind stets nur Bruchstücke.«

»Kannst du noch mehr sehen? Versuch es noch einmal.« Mark hatte die Hände um sein Glas gelegt und fixierte Lara wie ein seltenes Insekt. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, sich das eben gesehene Bild ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Sonne schimmerte orangebraun durch die dünne Haut ihrer Lider. Helle Flecken tanzten hin und her. Im Hintergrund tschilpten die Sperlinge. »Nichts.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es funktioniert nicht auf Kommando.«

»O. k. Wir sind ja quasi mitten ins Thema gefallen.« Mark lächelte jetzt wieder. »Vielleicht gelingt es uns, ein wenig Ordnung in deine neuerlichen Gesichte zu bringen. Hast du alles aufgeschrieben?«

»Ja. Warte.« Lara nestelte nach ihren Aufzeichnungen. Sie hatte heute Vormittag versucht, Tage, Uhrzeiten und zugehörige Gedankenblitze chronologisch aufzulisten. Während sie die Notizen vorlas, kritzelte Mark unleserliche Schnörkel auf eine wie aus dem Nichts aufgetauchte Karteikarte, und Jo faltete seine Serviette zu einem Schiffchen. Sie unterbrach ihre Schilderungen nur kurz, als der Kellner zum Abräumen kam und Jo drei Tassen Espresso bestellte, und dann noch einmal, als das schwarze Gebräu gebracht wurde.

Als sie fertig war, saßen die beiden Männer ein paar Sekunden schweigend vor ihren dampfenden Tassen. Mark schüttete ein Tütchen Zucker in den Kaffee und nahm dann die Karteikarte in die Hand. »Ich fasse mal zusammen. Wollen wir sehen, ob das ein Bild ergibt. Beim ersten Mal war es eine Stimme. Du befandest dich gerade im Auto. Die Stimme hat sinngemäß gesagt ›Iss das‹. Dazu hast du Geräusche gehört.« Mark wartete, ob Lara nickte, ehe er fortfuhr. »Drei Tage später hast du zuerst etwas Geschriebenes gesehen. Eine Art Kochrezept mit scharfen Gewürzen. Dann ging es um eine Katze, die weggelaufen war. Diese Gedankenblitze hattest du bei dir zu Hause. Dann war über eine Woche Funkstille. Das nächste Erlebnis hattest du mitten in der Nacht.«

»Ich dachte zuerst, es wäre ein Traum, aber das war es nicht.«

»Du bist von einer Stimme aufgewacht, die jemanden angeherrscht hat, er sei schlampig und den- oder diejenige dann eingesperrt hat.«

»So hat es sich angehört.«

»Eben war es eine optische Einblendung. Werkzeuge und dazu die Hand. Insgesamt kann ich weder eine bestimmte Zeit feststellen, an denen die Gesichte bevorzugt auftauchen, noch einen Ort. Mal ist es das Auto, dann dein Zuhause, dann eine Gaststätte. Mal bist du allein, mal in Gesellschaft, so wie eben. Bis jetzt waren es vor allem isolierte Geräusche und Bilder.«

»Richtig.« Lara trank einen Schluck. Der Espresso schmeckte bitter.

»Voriges Jahr hast du aber mehr wahrgenommen, nicht?« Jo klang ein wenig heiser.

»Ja. Da liefen teilweise richtige Filme in meinem Kopf ab. Jetzt dagegen sind es nur Fetzen. So wie eben.« Lara seufzte.

»Ich fürchte, wir können im Moment gar nichts machen, obwohl ich annehme, dass die Ereignisse auch diesmal wieder nichts Gutes zu bedeuten haben.« Mark überflog noch einmal seine Notizen. »Wenn du wieder etwas siehst, schreib es auf. So genau wie möglich. Und dann rufst du mich gleich an, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.«

»Jawohl, Chef.«

»Man müsste wissen, was deine Bilder dieses Mal zu bedeuten haben. Dann könnte man vielleicht etwas unternehmen.« Jo betrachtete den Kaffeesatz in der winzigen Espressotasse. »Aber es ist alles zu vage.«

»Du sagst es. Aber es hat mir gutgetan, darüber zu reden.« Lara dachte noch darüber nach, was Marks Frau dazu sagen würde, wenn sie ihn mitten in der Nacht aus dem Bett klingelte, um ihm von einem Albtraum zu berichten, als in ihrem Kopf ein wilder Schrei, gefolgt von einem Gurgeln, ertönte. Lara erstarrte auf ihrem Stuhl, während sich das Gurgeln in ein Keuchen verwandelte. Die tiefgrüne Hecke im Hintergrund, davor die entgeisterten Gesichter der beiden Männer, der Tisch mit den Espressotassen, alles verblasste, während der Film vor Laras Augen die Szenerie wie ein durchsichtiger Bildstreifen überblendete.

Ohne etwas um sich herum wahrzunehmen, beobachtete sie, wie sich die lange Nadel mit der Öse, die sie eben noch neben dem Teppichmesser liegen gesehen hatte, unter einen gerillten Fingernagel schob. Beidseits des Metallstreifens erschien eine dunkle Linie, die schnell breiter wurde. Dann perlte ein zäher Tropfen dunkelroter Flüssigkeit unter dem Nagelbett heraus, und Lara hörte sich selbst wie durch Watte nach Luft schnappen.

Vielleicht hilft dir das, dir die Qualen deiner Opfer besser vorstellen zu können. Zusammen mit der Stimme bewegte sich die Nadel, wackelte hin und her, begleitet von hohem Wimmern. Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was glaubst du, welche Alternativen du hast! Zwei Schleimfäden liefen aus einer Nase.

Bevor das Bild verschwand, sah Lara noch, dass der Finger, die Hand und der zugehörige Arm auf einem Brett festgebunden waren, dann erlosch die Vision, und die angespannten Gesichter von Mark und Jo materialisierten sich vor der Ligusterhecke. Laut zwitscherten die Sperlinge. Zwei Tische weiter lachte eine Frau grell. Lara löste ihre Finger voneinander und sah von einem zum anderen. Die Männer hatten die ganze Zeit kein Wort gesagt, wohl, um sie nicht abzulenken. Auch jetzt schienen sie zu warten, bis sie das Wort ergriff.

Sie wünschte sich, Jo und Mark hätten sie aus ihrem Trancezustand geholt, hätten den grässlichen Film angehalten, damit sie nicht wieder tage- und monatelang diese Bilder mit sich herumtragen musste, wusste aber gleichzeitig, dass sie das nicht hatten tun können.

»Was war es?« Jo hatte sich nun doch entschieden, etwas zu sagen.

»Ich habe erlebt, wie«  – Lara schluckte trocken und setzte noch einmal an  –, »… wie jemand gefoltert wurde. Mithilfe der Werkzeuge, die ich vorhin gesehen habe.«

»Gefoltert?« Mark flüsterte.

»Der Person  – ich kann nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war  – wurde eine Nadel unter den Fingernagel geschoben. Jemand hat gesagt, das helfe demjenigen, die Qualen der Opfer besser zu verstehen und dass der Angesprochene sich nicht alles aus der Nase ziehen lassen solle.«

Jo sog Luft ein. Mark hatte die Karteikarte wieder hervorgeholt und stenografierte mit. »Was hast du außerdem gesehen?«

»Nur den Arm, sonst nichts. Er war auf einer Art Brett festgebunden.«

»Hast du ein Gefühl dafür, ob das in der Zukunft oder in der Vergangenheit stattgefunden hat?«

»Weder noch. Es geschieht gerade eben. In diesem Moment.« Lara sah Mark aufblicken. Seine Pupillen hatten sich verengt. In ebendieser Minute, als sie drei friedlich in der Sommersonne in diesem idyllischen Restaurant saßen, wurde irgendwo ein Mensch gefoltert.

Matthias öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Rainer Grünkern hatte inzwischen einen Schritt auf ihn zu gemacht. In seinen Augen irrlichterte ein heimtückisches Glitzern. »Waren Sie das oder nicht? Ich bin mir ziemlich sicher. Sie sind mir entgegengekommen. Unten am Bach.«

Der Aufruhr in Matthias’ Innerem steigerte sich zu einer Kakophonie aus Schmerzen und Geschrei. Etwas lief hier ganz und gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Warum fragte der Mann nicht, was sein Besucher hier wollte oder wie er in die Wohnung gelangt war? Und warum schien er überhaupt keine Angst zu haben?

»Haben Sie sich ein bisschen bei mir umgesehen?« Das ölige Grinsen in dem faltigen Gesicht vertiefte sich. »Alles sauber aufgeräumt, nicht? Wie hat Ihnen meine Filmsammlung gefallen?« Eine Hand schwenkte zu dem Regal. Gleichzeitig machte Rainer Grünkern noch einen Schritt auf seinen Besucher zu.

»Und dann die ganze Technik. Ich bin ziemlich stolz darauf, wie Sie sich bestimmt vorstellen können. Nicht jeder Rentner kennt sich mit Internetforen, Tauschbörsen und Chatrooms aus.«

Noch ein Schritt näher. »Haben Sie sich auch angeschaut, was ich gerade herunterlade?« Er sprach jetzt leiser, seine Stimme hatte einen höhnischen Beiklang. »Heutzutage gibt es alles im Netz. Wirklich alles.« Rainer Grünkern stand jetzt vor der Tür zum Wohnzimmer, das hereinfallende Tageslicht zeichnete seine Gestalt als verzerrten Schattenriss auf den Boden. »Ich wusste, dass jemand hier ist, als ich zur Wohnungstür hereinkam. Ihre Pakete stehen im Flur. Wie unvorsichtig! Oder hatten Sie die etwa vergessen? Reden Sie doch mit mir! Ich spiele ungern den Alleinunterhalter.« Er drückte auf den Lichtschalter. »Jetzt wollen wir beide mal im Hellen plaudern.« Er trat noch einen Schritt nach vorn und stand jetzt nur noch einen halben Meter entfernt. Matthias konnte sich noch immer nicht rühren. Wenn ihm nicht sofort etwas einfiel, würde das hier gewaltig schieflaufen.

»Warte mal eben.« Etwas flackerte in Rainer Grünkerns Augen, dann kratzte er sich an der Stirn. »Mir kommt da gerade eine Idee. Ich habe dich dort im Park nicht zum ersten Mal gesehen! Wir kennen uns doch von früher, stimmt’s? Du hast dich verändert, aber nicht so sehr, dass man dich nicht mehr wiedererkennen würde. Du warst damals schon ein hübsches Kind.« Der Mund zog sich noch etwas mehr in die Breite und gab den Blick auf gelbe Zähne frei. »Bist du hier, um mit mir über das Kinderheim zu sprechen?«

Matthias spürte, wie der Kloß in seiner Kehle fester wurde und auf die Luftröhre drückte. Ihm war schlecht. Das Gesicht des Mannes vor ihm schien sich aufzublähen und wieder zusammenzufallen. Dass der Typ ihn auf einmal duzte, war kein gutes Zeichen. Rote Schlieren züngelten vor seinen Augen auf und ab.

»Warum schweigst du? Ich habe doch recht, oder?« Rainer Grünkern streckte eine Hand aus, um seinen Besucher zu berühren. Dies weckte Matthias aus seiner Erstarrung. »Weg da! Wagen Sie es nicht, mich anzufassen!«

Konsterniert über den plötzlichen Lärm, zog der Mann seine Finger zurück, rührte sich aber sonst keinen Millimeter von der Stelle. »Schrei doch nicht so. Ist ja schon gut.« Er reckte den faltigen Hals nach vorn. »Was willst du denn nun von mir? Es ist nicht verboten, sich Pornos herunterzuladen, weißt du? Und die Filme dahinten sind alle legal gekauft.«

»Ist das so?« Matthias hörte seine eigene Stimme wie die eines Fremden, der ein bisschen heiser war. In seinem Kopf brodelte noch immer die Nebelmaschine. »Sind Sie sicher, dass die Polizei keine Kinderpornos findet, wenn sie Ihren Rechner durchsucht?«

Rainer Grünkerns Mundwinkel zuckten kurz, doch er fing sich sofort wieder. »Ich mag eben Kinder. Das verstehen Sie doch sicher. Wer mag Kinder nicht?« Das Schwein grinste noch immer. Er schien überhaupt keine Angst vor dem Besucher zu haben.

»Sie … Sie elender…« Matthias versuchte, den siedenden Zorn unter Kontrolle zu bekommen. Die Finger seiner Rechten ballten sich wie von selbst um den Schlüsselbund in seiner Hosentasche, während der Mann ihm gegenüber weiterredete.

»In diesem Zusammenhang  – darf ich fragen, was du damit meinst, die Polizei könnte meinen Computer durchsuchen? Hattest du etwa vor, mich anzuzeigen? Das finde ich aber gar nicht nett von dir. Erst dringst du in meine Wohnung ein  – Hausfriedensbruch könnte man das nennen  –, dann durchsuchst du meine Zimmer, stiehlst womöglich Dinge, und dann willst du mich anzeigen? Dass ich nicht lache!« Noch während er sprach, machte Rainer Grünkern einen Satz auf Matthias zu und packte ihn an der Kehle. »Das hast du dir so gedacht!« Wie die Klauen eines Greifvogels krallten sich seine Finger in das nachgiebige Gewebe von Matthias’ Hals. »Schreien ist nutzlos! Das ist hier die Eckwohnung. Keiner wird dich hören!«

Matthias hörte sein eigenes Röcheln, dann kam sein Knie nach oben geschossen und rammte sich in den Unterleib seines Gegners, der augenblicklich zu Boden sackte und wimmerte. Wo war seine Umhängetasche? Der zusammengekrümmte Mann würde höchstens ein paar Minuten außer Gefecht gesetzt sein.

Hastig rannte Matthias in den Flur und kam mit der Tasche zurück, holte im Gehen schon das Paketband und den Cutter hervor. Rainer Grünkern lag, wie er ihn zurückgelassen hatte, auf dem Teppich vor seiner Liege, beide Hände in den Unterleib gepresst, und stöhnte leise. Willenlos ließ er sich fesseln. Auf einen Knebel verzichtete Matthias. Hatte der Typ nicht eben selbst gesagt, schreien sei nutzlos? Außerdem wollte er ihn noch zu seiner Vergangenheit befragen.

»So, Herr Grünkern. Das hätten wir. Wie fühlen Sie sich?«

»Meine Frau kommt jeden Moment vom Einkaufen zurück!« Grünkern spuckte die Worte hervor.

»Ihre Frau!« Matthias fühlte, wie sich seine Anspannung in einem unkontrollierbaren Kichern auflöste. »Ihre Frau … Für wie blöd halten Sie mich? Es gibt hier keine Frau. Niemand kommt gleich von irgendwoher, um Sie zu ›befreien‹. Wir beide sind allein in dieser Wohnung und werden es auch bleiben.« Der gefesselte Mann schob die Lippen vor. Dann kam seine Zunge heraus und leckte darüber. »Ich habe Durst.«

»Na und? Glauben Sie im Ernst, ich hole Ihnen auf Kommando etwas zu trinken?« Matthias zog den Drehstuhl vom Schreibtisch heran, schloss die Schlafzimmertür und setzte sich. »Jetzt plaudern wir erst einmal ein wenig.« Rainer Grünkern hatte ganz recht gehabt. Die Festung, die er sich hier eingerichtet hatte, um ungestört seinen perversen Neigungen frönen zu können, war dazu angelegt worden, keine Informationen herausdringen zu lassen. Es war mit den massiven Rollos und seiner Lage an der Außenwand des Blocks das ideale Zimmer, um jemanden zu »befragen«.

»So, Herr Grünkern. Ich muss Sie nicht erst fragen, ob Sie sich an das Kinderheim Ernst Thälmann erinnern. Sie haben es vorhin ja selbst angesprochen. Sie haben mich sogar wiedererkannt.«

»Klar hab ich dich erkannt. Du warst ja lange genug unter meiner Obhut, nicht?« Die gelben Zähne erschienen, als Rainer Grünkern sein schmieriges Lächeln lächelte. Matthias fühlte einen Schauer über sein Rückgrat laufen. Sein Verstand weigerte sich noch immer, ihn die Dinge sehen zu lassen, die der Heimleiter den Kindern und vielleicht auch ihm selbst angetan hatte. Aber eigentlich reichte das, was er hier gefunden hatte, aus. Das Schwein ging noch immer seinen abartigen Vorlieben nach.

»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.« Zuerst die Informationen. Dann die Strafe. »Was haben Sie damals mit den Kindern angestellt?«

»Du weißt es also nicht mehr? Dann werde ich lieber auch nicht darüber sprechen. Es könnte alte Wunden wieder aufreißen, und das wollen wir doch nicht, oder?«

»Ich will Antworten!« Matthias stieß dem Mann am Boden eine Fußspitze in die Seite.

»Binde mich los, dann reden wir in Ruhe darüber. Es war eine schlechte Zeit damals. Ich möchte dich gern für das geschehene Ungemach entschädigen. Ich habe Goldmünzen. Eine größere Menge. Die kannst du mitnehmen.« Bot der Kerl ihm etwa Schweigegeld an? Und wieso duzte er ihn noch immer?

Matthias schob den Stuhl nach hinten, kniete sich hin und näherte seinen Mund dem Gesicht des ehemaligen Heimleiters, um ihm etwas zuzuflüstern. Die Poren auf dessen Nase wirkten in diesem Abstand wie Krater. Aus der Nähe sah man die geplatzten Äderchen. Noch ehe er jedoch ein Wort sprechen konnte, überrollte ihn der bittere Schweißgeruch des Mannes wie eine Flutwelle, plötzlich sah er vor seinem inneren Auge einen behaarten weißen Hintern auf und nieder zucken, und dann schoss das, was vor einigen Stunden sein Frühstück gewesen war, mit einem sauren Schwall hervor und ergoss sich auf Hals und Oberkörper von Rainer Grünkern. Es wollte gar nicht aufhören. Matthias würgte mit geschlossenen Augen, bis nur noch zäher Schleim kam. Verzweifelt versuchte er, das Bild aus seinem Kopf zu verbannen, es zurückzuschieben in eine finstere Ecke seines Bewusstseins. Vor ihm ächzte Rainer Grünkern und murmelte dann etwas, das wie »ekelhaft« klang. Es war egal. Wenigstens musste er so den Körpergeruch des alten Mannes nicht mehr riechen. Er wurde komplett von dem des Erbrochenen überdeckt. Mühsam öffnete Matthias die Augen und sah bräunliche Bröckchen inmitten gelber Flüssigkeit auf dem Hemd des Mannes. Der ehemalige Heimleiter hatte seinen überheblichen Ausdruck verloren.

Matthias erhob sich. Seine Knie schmerzten. Und auch im Unterleib fühlte er brennenden Erinnerungsschmerz. Den besudelten Mann zurücklassend, ging er ins Bad, drehte den Hahn auf und schöpfte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht, um die wiedergekehrten Gedächtnisbilder loszuwerden. Aber statt zu verblassen, kamen nur immer neue Details hinzu, und zum Schmerz gesellte sich der Zorn.

Er ließ sich Zeit. Das kalte Wasser besänftigte den Aufruhr. Aus dem Schlafzimmer drang die zeternde Stimme von Rainer Grünkern. Der Mann hatte noch immer nicht begriffen, dass es für ihn um Leben oder Tod ging. Matthias hob das tropfnasse Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Die Entschlossenheit hatte zwei feine Linien neben seinen Mund gekerbt. Er löste den Blick und ging zurück. Es war an der Zeit, dass der ehemalige Heimleiter das büßte, was er getan hatte.

 

»Hast du Kinder missbraucht? Antworte!« Im Takt seiner Worte trommelte Matthias’ Hand ein Stakkato auf die trockenen Wangen. Mit fest zusammengepressten Lippen schüttelte Rainer Grünkern den Kopf.

»Du kannst es ruhig zugeben. Ich weiß es auch so.« Erneutes Schütteln. »Nun gut. Du wirst mir schon noch antworten.«

»Ich werde nichts sagen!« Einzeln kamen die Worte zwischen den Lippen hervorgezischt. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Stellvertretend für die Machtverhältnisse im Raum hatten sie die Anrede gewechselt. Matthias duzte, und Grünkern siezte jetzt sein Gegenüber.

»Du wirst reden, mein Bester, du wirst.« Die Hand tätschelte das verkniffene Gesicht jetzt fast liebevoll. »Warte kurz.« Er hatte sich schlau gemacht. Es gab unzählige Möglichkeiten, jemanden zum Reden zu bringen. Die große Umhängetasche stand inzwischen neben der nun wieder verschlossenen Schlafzimmertür. »Ich habe verschiedene Hilfsmittel dabei.«

Mit großen Augen beobachtete Rainer Grünkern, wie ein Werkzeug nach dem anderen erschien und fein säuberlich neben ihm auf dem Teppich drapiert wurde. Zwei Zangen, ein Schraubenzieher, mehrere Scheren, Nadeln verschiedener Größe, zwei Rollen grausilbernes Gewebeband, ein Cutter und einige Teile, mit denen er nichts anfangen konnte.

Matthias richtete sich auf und nahm wieder auf dem Sessel Platz. »Löst dieser Anblick deine Zunge?«

Grünkern zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg.

»Nicht? Dann werde ich nachhelfen. Ich habe nämlich noch einige Fragen, die du mir beantworten sollst, zum Beispiel, wer außer dir noch an den Misshandlungen beteiligt war, was die Personen im Einzelnen getan haben und was nach der Wende aus ihnen wurde. Du hast doch bestimmt noch Kontakt mit einigen, oder?«

»Nein!« Rainer Grünkern spuckte das Wort aus und verschloss den Mund sofort wieder.

»Auch gut. Ich stelle dir die Fragen gleich noch einmal. Zuerst muss ich dich ein bisschen zurechtrücken.« Matthias packte den Mann an den Schultern und rollte ihn auf die Seite, um die Fesseln zu prüfen. Arme und Beine waren fest verschnürt. Aber nicht fest genug für das, was jetzt kommen würde. Außerdem hatte er vorhin in der Eile das Klebeband über die Kleidung gewickelt. Wenn der Mann heftig genug zerrte, würde er sich womöglich befreien können. Und für die geplante Aktion mussten die Finger freiliegen.

Mit der großen Stoffschere schnitt er die Hosenbeine auf. Rainer Grünkern begann fast sofort auszukeilen, und es brauchte einen weiteren festen Tritt zwischen seine Beine, damit er aufhörte und sich stattdessen wieder zu einem Haken zusammenkrümmte. Matthias wickelte ein paar Lagen Paketband um die Knöchel, knickte die Beine dann an den Knien nach hinten und zurrte die Unterschenkel an die Rückseite der Oberschenkel.

Die Fesseln an den Armen waren schnell durchtrennt. Den linken Arm zog Matthias, soweit die Sehnen es zuließen, auf den Rücken und führte das Klebeband um den Hals herum wieder zurück. Fuchtelte das Opfer unnötig herum, würde es sich selbst strangulieren.

Dann wälzte er den Mann wieder auf den Rücken. Obwohl der ehemalige Heimleiter einen eher knochigen Körper hatte, war er schwer wie ein nasser Sandsack. Nur der rechte Arm blieb frei. Als Matthias ihn ergreifen wollte, krümmte sich die Hand, Fingernägel krallten nach seinem Arm, erwischten aber nur Luft. Grünkern knurrte wütend, während er zusehen musste, wie sein Arm auf ein Brett geklebt wurde und sich das Klebeband in mehreren Umdrehungen um das Handgelenk und bis über den Handrücken nach vorn wickelte. Die Fingerspitzen ließ Matthias frei.

»So, mein Lieber. Noch ein letztes Mal versuche ich es im Guten. Wer war außer dir noch an den Misshandlungen beteiligt?«

»Hab ich vergessen.« Rainer Grünkern klang noch immer entrüstet, aber das würde sich gleich ändern. Matthias nahm die Rouladennadel. Sie war schön lang und hatte am hinteren Ende eine Öse. Damit ließ sie sich besser handhaben als eine Stopfnadel. »Denk nach, mein Freund. Denk nach.« Die Fingernägel des ehemaligen Heimleiters waren dick und gerillt. Erst jetzt, als er sah, wie Matthias die Spitze probehalber an den Rand des mittleren Nagels hielt, ahnte Rainer Grünkern, was gleich geschehen würde, und begann zu ächzen.

Matthias drückte die Nadel ein wenig unter den vorstehenden Teil, ohne jedoch das zarte Gewebe zu verletzen. »Wer war außer dir noch an den Misshandlungen beteiligt?« An Grünkerns Schläfe erschien ein harter Muskelstrang, so fest biss er die Zähne aufeinander. »Hab ich vergessen.«

»Na gut. Ich werde deiner Erinnerung nachhelfen.« Mit einem Ruck schob er die Spitze unter den Fingernagel des Mittelfingers.

Rainer Grünkern schrie zuerst wie ein angefahrenes Tier, dann spuckte und gurgelte er. Speichel flog durch die Luft und rann in Form schaumiger Fäden von der Unterlippe zum Kinn. Es war ein widerlicher Anblick. Endlos scheinende Minuten vergingen, bis der Mann sich wieder beruhigt hatte. »Das hat ganz schön weh getan, nicht? Mir scheint, du kannst eigenen Schmerz schlecht ertragen. Aber vielleicht hilft dir das, dir die Qualen deiner Opfer besser vorstellen zu können.«

Matthias betrachtete die Hand. Die Rouladennadel verlängerte den Mittelfinger auf bizarre Weise. Von oben war der dünne Metallstreifen als dunkle Linie im Nagelbett zu sehen, die von zwei roten Streifen flankiert wurde. »Nachdem du dich nun beruhigt hast, frage ich noch einmal: Wer war außer dir noch an den Misshandlungen beteiligt?«

»Meller!« Rainer Grünkern spuckte den Namen hervor und versprühte dabei ein bisschen Speichel.

»Siegfried Meller, das wusste ich zwar schon«, ein Bild des Fischgesichtes mit den Glubschaugen loderte in Matthias’ Kopf auf, »aber gut, dass du mir die Wahrheit sagst. Wer aber hat außer dir noch Kinder missbraucht?«

»Niemand.«

»Wirklich niemand?« Ein Griff zur Öse der Nadel, ein sanftes Rütteln und der ehemalige Heimleiter jaulte auf wie eine Sirene im Nebel. Warum schützte der Mann seine Mittäter? Oder hatte jeder der Erzieher im Verborgenen gehandelt, ohne dass die anderen es mitbekommen hatten? Matthias dachte darüber nach. In jeder seiner Erinnerungen agierte nur einer von ihnen. Es war also möglich, dass einer vom anderen nichts gewusst hatte. Allerdings zeigte sein Gedächtnis keine vollständigen Filme, nur Ausschnitte, einige Zeitlupenaufnahmen und Standbilder. Das Ganze hatte über viele Jahre hinweg angedauert, es hatte zahlreiche Opfer und etliche Täter gegeben, was die Tatsache mehrerer Einzeltäter sehr unwahrscheinlich machte. »Also?«

»Hel … Vogl.«

»Wie bitte?« Er berührte die Öse, und Rainer Grünkern beeilte sich, den Namen zu wiederholen. »Helmut Vogel.«

Auf Matthias’ Stirn erschienen zwei senkrechte Falten zwischen den Augenbrauen. Der Name kam ihm fremd vor. Er fand kein Bild dazu. »Wie sah der aus?«

Unterbrochen von permanentem Schniefen stammelte der ehemalige Heimleiter die Beschreibung hervor. »Nicht sehr groß, stämmig. Dunkle Haare.«

»Irgendwelche besonderen Merkmale?«

»Nein.«

»Von wann bis wann war der im Heim?«

»Genau weiß ich es nicht mehr.«

»Dann ungefähr, Blödmann! Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was glaubst du, welche Alternativen du hast?« Die Nadel ließ sich nur schwer weiterschieben. Grünkern heulte jetzt und wimmerte dabei. Wahrscheinlich war ihm eben klar geworden, dass dies hier schlecht für ihn enden würde. Dünner Schleim floss aus seinen Nasenlöchern in Richtung Mund.

Matthias hatte für einen Moment Mitleid mit dem alten Mann. Was tat er hier eigentlich? War das, was er hier machte, nicht genau das Gleiche, was die Heimerzieher damals mit den Kindern getan hatten? Ein Blick zu den Computerbildschirmen brachte ihn zur Besinnung. Es gab einen entscheidenden Unterschied  – die anderen hatten willkürlich die Schwächsten ausgewählt, kleine Kinder, die sich nicht wehren konnten, und diese grundlos gequält, gedemütigt und missbraucht. Er bestrafte Leute, die sich bereits etwas hatten zuschulden kommen lassen  – Täter.

Vertraulich blinkerten die Leuchtdioden vom Schreibtisch herüber. Matthias sah auf die Digitaluhr. 14:25 Uhr. Eben war es noch kurz vor elf gewesen, und schon waren über drei Stunden vergangen. Die Zeit verstrich wie im Flug. Grünkern lag als verschnürtes Bündel mit einem anklagend ausgestreckten Arm vor ihm. Er hatte die Augen geschlossen, als wolle er die Gegenwart ausblenden. Aber das würde ihm nichts nützen. Vom Mittelfinger lief ein dünner Blutfaden über das Holzbrett und sickerte in den Teppich. Das Neonlicht in dem Raum veränderte die Farben. Das Blut schillerte violett-schwärzlich, und Rainer Grünkerns Haut hatte eine grünlich graue Tönung.

Matthias merkte sich vor, nachdem er mit dem Häufchen Unglück hier fertig war, die Festplatte in Bezug auf ehemalige Kollegen von Rainer Grünkern zu durchsuchen. Vielleicht sagte das Würstchen trotz der Schmerzen nicht alles. Aber einen Versuch war es noch wert. Der Mann hatte ja nicht nur diesen einen Finger.

Matthias betrachtete nachdenklich seine bereitgelegten Utensilien und erstarrte. Es klingelte an Rainer Grünkerns Wohnungstür.