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»Maria Sandmann ist diese Mandy?« Lara schüttelte den Kopf.
»Du sagst es.« Mark tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Ich habe das schon relativ zeitig vermutet. Schon als ich dieses Fragment des ersten Briefes in der Hand hielt und ihre Vorgeschichte hörte, habe ich mir so etwas gedacht.«
»Hast du die anderen Briefe auch gelesen?« Jo betrachtete betrübt seinen Teller. Über Marks Bericht hatte er die Pizza völlig vergessen, und jetzt war sie kalt.
»Noch nicht. Ich musste mich erst einmal um meine Patientin kümmern, versteht ihr? Das hat auch später noch Zeit. Heute Abend können wir eh nichts mehr unternehmen.«
»Hast du sie dabei?« Laras Augen funkelten im Kerzenlicht.
»Ja, aber«, er hob abwehrend die Hand, »das bedeutet nicht, dass ihr sie lesen dürft. Einerseits unterliegt das Ganze noch immer der ärztlichen Schweigepflicht, andererseits habe ich keine Erlaubnis von Frau Sandmann, auch die anderen Briefe zu öffnen. Der, den wir in Frank Schweizers Wohnung überflogen haben, war schließlich schon geöffnet. Es reicht außerdem, dass Lara herausgefunden hat, wer meine Patientin ist. Das müsst ihr strikt für euch behalten. Es kann mich meine Approbation kosten.«
Jo und Lara nickten gleichzeitig. Lara sprach zuerst. »Und glaubst du, diese Briefe sind tatsächlich von Maria Sandmanns Bruder?«
»Möglich ist es. Warum sonst sollte jemand ihr diese Nachrichten schicken? Dazu kommt ja noch, dass die Kuverts außen nicht beschriftet und doch in ihrem Briefkasten waren. Der Absender muss sie selbst eingeworfen haben. Er kannte also seine Adressatin ganz genau.«
»Das bedeutet doch aber, dieser Bruder wohnt in der Nähe, oder?«
»Könnte sein. Könnte aber auch sein, dass er eigens dazu hierhergefahren ist. Das kann man nur mutmaßen.« Mark nahm die Speisekarte und schlug sie auf. »Ich nehme noch einen Nachtisch. Ihr auch?«
»Nur einen doppelten Espresso.« In Laras Kopf wirbelten die Ereignisse der letzten Stunden herum. »Aber wieso weiß sie dann nichts von einem Bruder?«
»Das kann mehrere Ursachen haben. Vielleicht war sie noch zu klein, als sie getrennt wurden. Sie kann es aber auch einfach verdrängt haben.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Bei diesem Frank Schweizer. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und sie schläft. Er passt auf sie auf. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, ruft er mich an. Morgen sehen wir weiter. Ich übernachte im Hotel und werde Frau Sandmann dann morgen früh an einen Kollegen hier vor Ort überweisen. Zwar ist sie derzeit stabil, aber das kann auch schnell wieder kippen. Meine Sprechstunde beginnt morgen erst um zehn Uhr, sodass ich es gut schaffen müsste, danach wieder zurückzufahren.« Von Annas Zorn erzählte Mark Jo und Lara nichts. Seine Frau war so wütend gewesen, dass sie aufgelegt hatte, ohne ihn zu Ende anzuhören. Es würde Tage dauern, das wieder auszubügeln.
»Frank Schweizer ist tatsächlich ihr fester Freund? Ich hatte eher den Eindruck, das war eine rein« – Lara hielt kurz inne und überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte – »körperliche Sache.«
»Ich denke schon. Zumindest hat er den Eindruck erweckt.«
»Ich habe die beiden schon zusammen erlebt.« Lara rührte zwei Päckchen Zucker in ihre Espressotasse und sah dann auf. »Es war immer ein wenig seltsam. Mal hat sie sich ihm förmlich an den Hals geschmissen, dann wieder war sie sehr ablehnend.«
»Seid ihr Frauen nicht alle so?« Jo grinste, Lara versetzte ihm einen spielerischen Schlag an den Oberarm und wurde gleich wieder ernst. »Wie geht es denn nun weiter?«
»Das wird eine länger dauernde Therapie. Ich vermute, in diesem Kinderheim sind schlimme Dinge passiert. Das deutete sich jedenfalls während der Hypnose an. Es wird eine Weile dauern, dies bewusst zu machen und aufzuarbeiten. Mehr möchte ich dazu im Moment nicht sagen.« Mark sah, wie Laras Augen sich plötzlich weiteten und ihr Mund sich öffnete. Sie schien durch ihn hindurchzusehen.
»Du Untier! Hör sofort auf damit! Lass – sie – in – Ruhe!« Eine Messerklinge blitzte. Keuchendes Atmen. »Das könnte dir so passen! Sich heimlich über sie herzumachen! Aber da bist du an den Falschen geraten!« Geräusche, als ob zwei Menschen miteinander rangen. Dann ein dumpfer Schlag gefolgt von einem Stöhnen. Jemand wimmerte.
»Das hast du nun davon, perverses Schwein!« Dicke Blutstropfen fielen im Zeitlupentempo zu Boden, zerplatzten zu sternförmigen Gebilden. Dann landete eine Messerklinge daneben. Auch sie war mit rotem Blut verschmiert. Das Wimmern wurde stärker und brach abrupt ab.
Lara betrachtete die Espressotasse in ihrer Hand. Sie zitterte. Mark und Jo hatten sich beide nach vorn gebeugt und betrachteten sie. Noch ehe einer von beiden etwas sagen konnte, begann Marks Handy zu klingeln. Er runzelte die Stirn und beugte sich zur Seite, um die Aktentasche aufzuklappen, die auf dem Boden stand. »Eigentlich schalte ich mein Handy in der Gaststätte immer aus.« Ein entschuldigender Blick, dann hielt er sich das Mobiltelefon ans Ohr. Lara und Jo beobachteten, wie sein Gesichtsausdruck immer fassungsloser wurde. Er sagte mehrere Male: »Beruhigen Sie sich doch« und dann: »Ich komme sofort.« Er legte auf, nahm die Aktentasche hoch und suchte darin herum. »Ich muss ganz schnell weg. Ein Notfall. Entschuldigt mich. Bezahlt ihr bitte meine Rechnung mit?«
»War das Frank Schweizer?« Lara sah noch immer die schwebenden Blutstropfen und die Messerklinge, überblendet von Mark, der vor ihr mit seinem Jackett herumwurstelte und den Kopf schüttelte. »Nein … Nein. Das war Maria Sandmann.«
»Maria Sandmann? Aber…«
»Sie hat sich angehört wie ein verwirrtes Kind. Das was sie gesagt hat, war außerdem ziemlich konfus.« Endlich hatte Marks Hand den Ärmel gefunden und schlüpfte hinein. »Ich glaube, sie braucht Hilfe. Angeblich«, jetzt dämpfte er seine Stimme und sah sich im Lokal um, »angeblich wollte Frank Schweizer sie vergewaltigen. Sie hat sich gewehrt. Und nun, so sagte sie, liege er da und rühre sich nicht.«
»Was?« Wieder sah Lara das Messer blitzen, hörte die Worte »Das hast du nun davon, perverses Schwein« und das leise Wimmern. Mark musste nicht weiterreden. Sie wusste auch so, was geschehen war.
»Wir kommen mit.« Auch Jo war aufgesprungen, nestelte in seiner Tasche und warf einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch. »Vielleicht können wir helfen.«
Mark protestierte nicht, und sie rannten hinaus.
»Fahr nicht ganz so schnell, bitte.« Lara hielt sich an dem Griff über der Tür fest und schielte dabei auf die Tachonadel, die irgendwo um die neunzig herumzitterte. »Ich möchte nicht verunglücken. Außerdem gibt es hier auch einige Blitzer an den Ampelkreuzungen.« Mark bremste kurz, und die Tachonadel sank auf die siebzig. Jo und Lara hatten ihre Autos in der Seitenstraße neben dem Restaurant stehen lassen und waren in Marks Audi eingestiegen.
In jeder Kurve wurde Lara gegen den neben ihr sitzenden Jo gedrückt, und trotz der dramatischen Situation konnte sie den Gedanken nicht unterdrücken, dass das ganz angenehm war. Vor einem fünfstöckigen Mietshaus bremste Mark so abrupt, dass ihre beiden Köpfe synchron nickten und fuhr dann schräg in eine winzige Parklücke. Die Aktentasche in der Rechten sprang er aus dem Auto und hastete, ohne auf die anderen zu warten, auf die Eingangstür zu, wo er alle Klingelknöpfe gleichzeitig mit der flachen Hand niederdrückte. Der Summer ertönte, und sie verschwanden im Hausflur, gefolgt von einem schnarrenden »Ja, bitte?«.
Im zweiten Stock blieben sie vor der Tür stehen. Jo schnaufte heftig, und auch Lara rang nach Luft. Mark zögerte kurz und drehte sich dann zu Jo und Lara um. »Geht ein bisschen zurück, bitte. Wenn Maria Sandmann die Tür aufmacht, soll sie nicht gleich vom Anblick dreier Leute erschlagen werden. Ich denke, zu mir hat sie inzwischen Vertrauen, also soll sie zuerst mich wahrnehmen.«
Wenn sie die Tür aufmacht. Lara dachte den Satz nur, während sie zusah, wie Mark den Klingelknopf drückte. Danach warteten sie, hielten die Luft an und lauschten. Mark klingelte noch einmal, etwas länger jetzt. Nichts geschah. Ein drittes Summen. Dann begann Mark, an das Holz des Rahmens zu klopfen, und rief: »Frau Sandmann? Herr Schweizer? Ich bin’s, Mark Grünthal. Bitte öffnen Sie!« Er legte das Ohr an die Tür und horchte. Dann flüsterte er aus dem Mundwinkel: »Sie ist da drin. Ich höre es rascheln.« Dann lauter: »Frau Sandmann! Machen Sie die Tür auf! Ich will Ihnen helfen!«
Von oben schrie jemand »Ruhe da unten, elendes Pack!« herunter, dann wurde eine Tür heftig zugeworfen.
Mark klingelte noch einmal. Lara bekam noch immer keine Luft, obwohl so ein paar Treppen sie eigentlich nicht so schnell außer Atem brachten. Als sie es kaum noch erwarteten, öffnete die Tür sich einen Spalt breit und Maria Sandmann lugte heraus. »Gehen Sie bitte.« Sie flüsterte kaum hörbar.
»Frau Sandmann, Sie haben mich vor wenigen Minuten angerufen und um Hilfe gebeten.« Auch Mark sprach jetzt leise.
»Das habe ich nicht.« Sie schob die Tür langsam wieder zu. Ihr Blick huschte zu Lara, die neben dem Aufgang stand. »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich muss nachdenken.«
»Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen, Mandy.« Mark sprach den Namen betont aus. »Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben. Bitte machen Sie die Tür auf.«
Maria Sandmann duckte sich, als erwarte sie einen Schlag, steckte den Daumen in den Mund und biss auf ihm herum. Dann ließ sie die Klinke los und drehte sich zur Seite. Vorsichtig drückte Mark die Tür auf und winkte Lara heran, damit sie ihm folgte. Jo blieb im Eingangsbereich stehen. Maria Sandmann – oder sollten sie besser Mandy Sandmann sagen? – schlurfte wie ein Zombie vor ihnen her. Mark legte den Finger auf die Lippen und sah Lara dabei an. Sie nickte.
»Wo ist Herr Schweizer?«
»Weiß nicht.« Es klang kläglich. Sie blieb in der Tür zur Küche stehen. »Wer ist das?«
»Ihr Freund. Frank Schweizer.« Mark war auch stehen geblieben.
»Hab keinen Freund.«
»Aha. Sind Sie allein in der Wohnung?«
»Weiß nicht.« Wieder wanderte der Daumen in den Mund. Jetzt lutschte sie darauf herum wie ein Baby. Lara verstand nicht, was hier vor sich ging. Bis jetzt hatte sie Maria Sandmann immer entweder als kompetente Jugendamtsmitarbeiterin oder als verliebte, um nicht zu sagen liebestolle Frau erlebt, jedoch noch nie in der Rolle des verwirrten Kleinkindes.
Während Mark noch immer beruhigend auf seine Patientin einredete, fiel ihr Blick auf die fast geschlossene Tür rechts, und Lara wusste nicht, was sie dazu trieb, aber sie stupste dagegen, und die Tür glitt langsam auf. Zuerst realisierte sie nicht, was sie dort erblickte, aber dann erkannte sie mit hellsichtiger Klarheit, dass das, was sie vorhin im Restaurant »gesehen« hatte, keine Halluzination, sondern Realität gewesen war.
Auf den weißen Fliesen vor der Badewanne lag ein zusammengekrümmter Mann halb auf dem Bauch, das Gesicht nach unten, das Hemd blutdurchtränkt, neben ihm ein großes gezacktes Brotmesser mit blutiger Klinge.
Lara registrierte, dass das Haar an seinem Hinterkopf dünn wurde – ein völlig unwichtiges Detail –, dann schrie sie auf, und die Ereignisse überschlugen sich. Mark drehte sich mit einem fast zornigen Gesichtsausdruck zu ihr um, während Jo herbeigestürzt kam. Lara machte einen Schritt in das Badezimmer hinein, rutschte auf der Blutlache aus und fiel auf die Knie. Mark, der das Bad eher als Jo erreicht hatte, stolperte, taumelte, fing sich am Wannenrand ab und fluchte. Jos Gesicht schwebte wie ein bleicher Halbmond über ihnen, die Augen fragend aufgerissen, der Mund ein großes dunkles Loch. Erst als Mark sie unsanft beiseitedrängte, konnte Lara ihre Starrheit abschütteln. Doch sie hatte keine Zeit nachzudenken, weil Mark ihnen unentwegt Anweisungen erteilte: Sie sollten den Notarzt rufen, sie sollten seine Tasche herbeibringen, sie sollten in den Schränken nach Verbandsmaterial suchen – und zwar schnell –, zur Not täten es auch saubere Handtücher und Klebestreifen, sie sollten verdammt noch mal aus dem Weg gehen.
Nach zehn hektischen Minuten wischte er sich den Schweiß von der Stirn, sah hoch und entschuldigte sich.
»Er ist stabil. Hoffentlich kommt der Notarzt bald. Habt ihr gesagt, dass es um Leben oder Tod geht?« Er wartete, bis sie nickten, und fuhr dann fort: »Legt eine Decke über ihn. Er hat viel Blut verloren. Wo ist Maria Sandmann?«
Lara und Jo sahen sich an. Keiner von ihnen hatte darauf geachtet, was die Frau in der Zwischenzeit gemacht hatte. Schnell durchforsteten sie die Zimmer und kehrten dann zu Mark zurück, der noch immer neben Frank Schweizer kniete und dessen Puls fühlte. Er sah die Antwort in ihren Gesichtern. »Sie ist weg? Scheiße. Das dachte ich mir.«
»Sollten wir nicht die Polizei informieren?« Lara schloss das Fenster und setzte sich dann an Frank Schweizers Küchentisch. »Es ist doch davon auszugehen, dass Maria Sandmann ihn niedergestochen hat. Und jetzt treibt sie sich irgendwo da draußen herum. Die Frau ist gemeingefährlich!«
»Kommt die nicht ohnehin gleich? Die Krankenwagenbesatzung wird doch bestimmt Meldung machen, dass sie gerade das Opfer eines Messerattentats abgeholt hat«, erwiderte Jo.
Seine Worte blieben unbeantwortet in der Luft hängen. Es war eine merkwürdige Situation. Sie saßen zu dritt in der Küche eines Fremden, der gerade mit Blaulicht abtransportiert worden war, weil seine vermeintliche Freundin ihn niedergestochen hatte, und wussten nicht so recht, wie es weitergehen sollte.
»Ich hatte vorhin eher den Eindruck, dass sie gar keine Ahnung hatte, was passiert ist.« Jo stand auf, öffnete den Kühlschrank und sah hinein. »Wer möchte einen Schluck Saft?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern kam mit dem Karton zurück zum Tisch.
»Das habe ich auch so empfunden.« Mark lehnte ab, als Jo ihm ein Glas hinhielt. »Ich verstehe auch nicht, wie sie plötzlich so agil sein konnte. Das Beruhigungsmittel, das ich ihr verabreicht habe, hätte ein Pferd niedergestreckt.«
»Aber wie kann sie denn nicht wissen, dass sie kurz vorher ihren Geliebten niedergestochen hat, angeblich, weil er sie vergewaltigen wollte! Das ist doch absurd!« Lara schüttelte heftig den Kopf. »Außerdem hat sie dich doch vorhin eben deshalb angerufen und es gestanden.«
»Nicht direkt. Sie hat gesagt, er liege da und rühre sich nicht.«
»Glaubst du, dass noch jemand in dieser Wohnung war?«
»Nein.«
»Na bitte. Dann muss sie es gewesen sein.« Lara nahm einen Schluck Saft und verzog das Gesicht. »Ich rufe Schädlich an. Sollen die entscheiden, was passiert.« Sie griff sich ihr Handy und verschwand im Flur. Mark sah auf die große Wanduhr. Es war noch nicht einmal neun, aber er hatte das Gefühl, es sei schon nach Mitternacht. Laras Stimme drang leise zur Tür herein, aber man konnte nicht verstehen, was sie sagte. Jo, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Marks Handy klingelte.
»Bestimmt meine Frau.« Mark verdrehte die Augen. »Kontrolle.« Ein Blick auf die Telefonnummer belehrte ihn eines Besseren. Noch ein unerwarteter Anrufer. Er fragte sich, ob das den ganzen Abend so weitergehen würde, und hob ab.
Jo ließ seinen Blick durch die Küche schweifen und hörte mit einem Ohr auf Marks Gespräch. Es schien um etwas Medizinisches zu gehen. Dann erhob er sich, um den Saftkarton zurückzubringen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mark ein Notizbuch aus der Aktentasche nahm, eine Seite herausriss und zu schreiben begann. Lara tauchte auf, ihr Mobiltelefon in der Hand, und blieb in der Tür stehen, als sie bemerkte, dass Mark ebenfalls telefonierte. Sie machte Jo ein Zeichen, ihr zu folgen, und er ging in den Flur hinaus.
»Schädlich hat natürlich längst Feierabend, aber er schickt jemanden vorbei.« Sie deutete auf die halboffene Badtür. »Wir sollen alles so lassen. Ob es sich um einen Mordversuch gehandelt hat, wollte er wissen.«
»Einen Mordversuch?«
»Na, könnte doch sein, oder? Schließlich hat sie ihn ziemlich schwer mit dem Messer verletzt.« Die Blutlache auf den weißen Fliesen erschien im hellen Neonlicht dunkel, fast schwarz.
»Aber sagte Mark nicht vorhin irgendetwas von Vergewaltigung? Dann war es doch Notwehr, oder?« Jo schüttelte den Kopf. »Außerdem ist der Typ angeblich ihr Freund. Wieso sollte sie ihn plötzlich umbringen wollen? Ich werde da absolut nicht schlau draus.«
»Das mit der Vergewaltigung stammt ja auch von Maria Sandmann. Und wer kann das beweisen?«
»Da hast du auch wieder recht.« Jo stieß mehrmals mit der Fußspitze gegen einen hochstehenden Teppichrand. »Man muss abwarten, was dieser Frank Schweizer zu der Situation sagt. Aber bis man ihn befragen kann, wird es wohl noch ein wenig dauern, schätze ich.« Er ging zwei Schritte zurück und schaute in die Küche, wo Mark gerade dabei war, sich von seinem Gesprächspartner zu verabschieden.
In dem wuchtigen Garderobenschrank aus der Gründerzeit, der im hinteren Bereich des Flures stand, raschelte es kurz, aber das hörten weder Lara noch Jo, weil sie im gleichen Augenblick in die Küche zurückkehrten.
Mark saß am Tisch und stützte seinen Kopf mit beiden Händen. Zwischen den Ellenbogen lag ein vollgekritzeltes Blatt. Er sah aus, als habe ihn der Blitz getroffen.
Lara setzte sich und versuchte zu erkennen, was auf Marks Zettel stand, konnte aber seine Schrift nicht entziffern. »Es wird jemand von der Polizei hier vorbeikommen. Ich habe mit Kriminalobermeister Schädlich telefoniert.«
»Das ist gut.« Mark sprach verlangsamt, als bremsten seine Überlegungen die Zunge. »Ist ihr Rucksack noch hier?«
»Wenn ich mich recht entsinne, hängt er an der Flurgarderobe. Soll ich ihn holen?« Jo drehte sich um, ging hinaus und kam gleich darauf mit dem Tornister wieder.
»Schau mal, ob ein kleines Notizbuch drin ist.« Mark, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, beobachtete, wie Jo in dem Rucksack kramte und schließlich das gesuchte Buch zutage förderte. Er nahm es entgegen, schlug es auf, blätterte, nickte mehrmals und klappte es dann wieder zu. Lara hatte das Ganze schweigend verfolgt. Sie verstand nicht recht, was Mark wollte, aber ihr Puls raste.
»Setz dich bitte auch, Jo. Ich habe euch einiges zu erzählen.« Erst als der seinen Stuhl zurechtgerückt hatte und Mark erwartungsvoll ansah, fuhr er fort. »Das war ein Kollege und Freund, Thorwald Friedensreich. Ich hatte ihn im Fall Maria Sandmann um Rat gebeten und ihm meine Aufzeichnungen gefaxt. Ich war gar nicht davon ausgegangen, dass er so schnell zurückruft …« Mark schien noch immer verblüfft. »Aber das, was er herausgefunden hat, ist bizarr. Kein Wunder, dass …« Eine erneute Pause. »Je länger ich jedoch darüber nachdenke, desto glaubhafter finde ich seine Theorie … Ich fange lieber von vorn an, sonst versteht ihr nur Bahnhof.« Mark erhob sich, ging zum Kühlschrank, holte den Saftkarton wieder heraus und goss sich ein Glas ein. Jetzt hatte er doch einen trockenen Hals bekommen. Er nahm einen langen Zug, dann atmete er tief aus und setzte fort. »Maria Sandmann war als Kind in einem Heim. Und zwar über Jahre hinweg. Wie lange genau, wissen wir noch nicht. Als sie dorthin kam, war sie noch sehr klein. Ohne Details zu kennen, ist es trotzdem sicher, dass dort ungeheuerliche Dinge geschehen sein müssen. Das war zumindest mir und zu Teilen auch Lara bereits bekannt.« Er sah seine Freundin an, und sie nickte zur Bestätigung.
»Gestern kam meine Patientin dann mit diesem ominösen Brief zu mir, der von einem Matthias an seine Schwester Mandy geschrieben worden war. Obwohl Maria Sandmann sich weigerte, einen Bezug zwischen sich und dieser Mandy herzustellen, war mir relativ schnell klar, dass es eine solche Verbindung geben musste. Ich bin nach den Erkenntnissen der Therapiegespräche und der Hypnose davon ausgegangen, dass Maria Sandmann tatsächlich diese Mandy ist, sich jedoch nicht mehr daran erinnern kann, da sie bei der Trennung von ihrem Bruder vermutlich nicht älter als drei Jahre alt war. Ich habe vermutet, dass man ihr damals einen neuen Vornamen gegeben hat, und dachte, dass ihr Bewusstsein dies alles verdrängt hätte, sich ihr Unterbewusstsein aber noch erinnern könnte.«
»Klingt logisch.« Jo malte mit dem Zeigefinger Kringel auf der Tischplatte.
»Das dachte ich auch. Bis zu Thorwalds Anruf.«
»Dein Kollege sieht das wohl anders?«
»Das könnte man so sagen. Ich muss dazu ein bisschen ausholen.« Mark machte eine Pause und zog seinen Zettel mit den Notizen heran. »Bitte denkt daran, dass ich hier meine Schweigepflicht verletze, aber ihr seid eh schon viel zu sehr involviert. Trotzdem bitte ich euch darum, für euch zu behalten, was ich jetzt erzähle. Sagt Bescheid, wenn es zu viele Fachbegriffe werden.« Erst als beide nickten, fuhr er fort. »Die Patientin hat Depressionen und Angstzustände. Sie zeigt selbstverletzendes Verhalten, das heißt, sie schneidet sich in die Haut. Man nennt das auch ›Ritzen‹. Ich vermute, dass sie auch eine Essstörung hat. Auch das gehört in den Bereich des autoaggressiven Verhaltens.«
»Das kommt mir auch so vor.« Lara dachte daran, wie Maria Sandmann in der Kantine die Salatblätter hin- und hergeschoben hatte und wie dünn sie war.
»Dazu treten bei Maria Sandmann Flashbacks auf, das sind Erinnerungsbilder traumatischer Erfahrungen, ausgelöst durch scheinbar neutrale Reize. Ich hatte sie gebeten, dies zu dokumentieren.« Mark zeigte auf das Notizbuch. »Ab und zu hört sie auch Stimmen und hat hier notiert, was diese zu ihr sagen.«
»So wie Schizophrene?« Jo rieb die Fingerspitzen aneinander, während er sprach. »Die hören doch auch Stimmen, die ihnen Befehle geben, oder?«
»Ja und nein. Du hast recht, dass bei Schizophrenie auch oft Stimmen wahrgenommen werden. Aber in diesem Fall ist das nicht die passende Krankheit. Maria Sandmanns Stimmen geben auch gar keine Anweisungen, sondern kommentieren ihr Tun oder beleidigen sie.«
»Was hat sie denn dann?« Lara sah zur Uhr und fragte sich, wo die Polizei blieb.
»Es ist komplizierter.« Mark musterte noch einmal seine Notizen. »Zu all dem kommt noch eine Art Gedächtnisverlust. Manchmal scheinen ihr Stunden oder gar Tage verlorenzugehen, und sie kann sich nicht daran erinnern, was sie in dieser Zeit gemacht hat. Und sie verhält sich sehr widersprüchlich. Das ist sogar Lara schon aufgefallen.« Mark sah kurz hoch, und Lara nickte ihm zu. »Manchmal ist sie wie ein Kind, manchmal eine kühle, distanzierte Person, zu anderen Zeiten wieder eine Art männermordender Vamp. Und doch ist sie unfähig, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern. Diese ›Vergesslichkeit‹ ist weit umfassender als das, was wir gewöhnlich als Gedächtnisschwäche kennen.«
»Und was soll das bitte für eine Krankheit sein?«
»Tja« – Mark machte eine Pause –, »genau deshalb habe ich mir auf Thorwalds Hinweise hin auch ihre Aufzeichnungen noch einmal angeschaut. Seht selbst.« Er schlug das Notizbuch auf, blätterte und deutete auf mehrere Seiten. »Seht ihr? Ganz unterschiedliche Schriften.« Lara wünschte sich, das Dickicht in ihrem Kopf möge sich lichten. Jo schaute verstört auf die Sätze.
»Also um es kurz zu machen: Maria Sandmanns Krankheitsbild ist der klassische Fall einer dissoziativen Identitätsstörung, im Volksmund besser bekannt als multiple Persönlichkeit.«
»Eine Multiple?« Jo zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Ganz genau. Solche Patienten bestehen aus zahlreichen unterschiedlichen Innenpersonen, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. An das Handeln der jeweils ›anderen‹ Personen kann der Betroffene sich entweder gar nicht oder nur schemenhaft erinnern.«
»Wie? In einer Frau stecken verschiedene andere? Wie bei einer dieser russischen Puppen?« Jo hatte noch immer einen ungläubigen Blick.
»So ähnlich kannst du es dir vorstellen.«
»Wie soll denn das funktionieren?«
»Nun, die unterschiedlichen Persönlichkeiten sind abwechselnd, aber nie gemeinsam sichtbar. Sie besitzen getrennte Gedanken, Erinnerungen und Verhaltensweisen. Den Wechsel von einer Person zur anderen können sie selbst meist nicht wahrnehmen, und das Handeln der einzelnen Persönlichkeiten unterliegt oft vollständiger Amnesie.«
»Das heißt, eine weiß nicht, was die andere macht?« Lara schüttelte abwesend den Kopf. »Ich habe mal einen Film gesehen, Dorothy Mills hieß der. Da ist etwas Ähnliches vorgefallen. Aber ich dachte immer, multiple Persönlichkeiten sind eine Erfindung zu ambitionierter Psychiater.« Erst als sie es ausgesprochen hatte, bemerkte Lara, was sie da gerade gesagt hatte, und lächelte Mark entschuldigend an. »Du bist natürlich nicht gemeint.«
»Das denken viele. Es ist auch bis heute eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen. Aber als Arbeitshypothese finde ich es am passendsten, denn es erklärt alle auftretenden Symptome, auch die Stimmen, die sie ab und zu hört. Manche Innenpersonen ›kommentieren‹ das Tun der derzeit agierenden Person, und das nimmt sie als Stimme im Kopf wahr.«
»Was denkst du, wo sie jetzt ist?« Jo musterte den Rucksack, den er vorhin einfach auf den Boden gelegt hatte.
»Ich glaube, sie versteckt sich irgendwo. Wahrscheinlich weiß die Person, die gerade ›draußen‹ ist, gar nicht, was in den letzten Stunden alles geschehen ist. Sie wird verunsichert sein und ein diffuses Angstgefühl verspüren.«
Im Garderobenschrank im Flur raschelte es erneut. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Die drei in der Küche bemerkten nichts davon.
»Wie kommt es denn zu so einer Spaltung?« Auch Lara betrachtete den Rucksack. Sie hatte das Gefühl, dass sich darin die Lösung verbarg, verspürte aber eine unerklärliche Scheu, danach zu greifen und sich das Innenleben anzusehen.
»Ich bin auch kein Fachmann für dissoziative Identitätsstörungen. Laut meinem Kollegen ist es fast immer eine Folge schwerer Kindesmisshandlung. Studien zufolge soll das Phänomen mit einer Häufigkeit von 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung auftreten, aber auch das ist umstritten. Manche behaupten auch, es sei iatrogen, das heißt vom behandelnden Arzt erzeugt. Ich weiß es nicht genau. Man müsste sie länger untersuchen.«
»Und diese Frau hat einen Bruder, der sich an den Peinigern von damals rächt …« Lara rieb sich versunken den Handrücken. In ihrem Kopf ratterten ein paar Relais. »Wartet!« Jetzt griff sie doch nach dem Rucksack. »Wir haben doch noch die anderen Briefe! Ich finde, wir sollten sie lesen. Womöglich versteckt sie sich bei ihm … Vielleicht finden wir etwas heraus, bevor die Polizei kommt. Apropos« – sie hielt inne –, »müssten die nicht längst hier sein?« Ein Blick zur Uhr belehrte sie, dass seit Marks Eröffnungen erst eine Viertelstunde vergangen war. Vorsichtig klappte sie die Stofflasche nach hinten. Im Flur öffnete sich die Schranktür etwas weiter.
Lara räusperte sich und legte das letzte Blatt auf die anderen. Mark und Jo schwiegen geschockt, und so sprach sie als Erste. »Glaubt ihr, dass das, was da über diese beiden Frauen, Isolde Semper und Birgit Sagorski, drin steht, wahr ist? Wurden sie auch getötet? Oder ist das lediglich seiner Fantasie entsprungen?«
»Das, was er über Meller und Grünkern schreibt, stimmt, soweit wir wissen, bis ins kleinste Detail. Warum sollte er sich dann die anderen beiden Fälle ausdenken?« Jo rieb sich die Arme. »Mir ist kalt. Wo mag dieser Matthias jetzt stecken? Womöglich plant er schon das nächste Verbrechen? Egal was die Leute getan haben, er hätte es der Justiz überlassen müssen, über sie zu urteilen.«
Aus dem Flur drangen Geräusche herein, und Lara stand auf. »Die Polizei kommt. Ihr habt wohl vorhin die Wohnungstür gleich offen gelassen?«
Mark erhob sich ebenfalls und öffnete den Mund, um zu antworten. Lara drehte sich um, wollte hinausgehen und erstarrte.
Im Türrahmen stand Maria Sandmann, mit wirren Haaren, einen verblüfften Ausdruck im Gesicht, die Augen gerötet, als habe sie geweint, und starrte verständnislos auf die drei Menschen in der Küche. Das Messer in ihrer Rechten zitterte leicht, und doch trug sie es zum Zustoßen bereit vor sich her.
Mark fasste sich als Erster. »Guten Tag. Sind Sie Mandy?« Maria Sandmanns Augen verengten sich kurz, und ihr Mund nahm einen hochmütigen Zug an, dann erschlaffte ihr Gesicht wieder, und sie schüttelte den Kopf.
»Wer sind Sie denn?«
Wieder schüttelte die Frau den Kopf. Dann stotterte sie: »Wir reden nicht mit Fremden.«
»Das ist auch richtig.« Mark schob seine Füße ein paar Zentimeter auf die Frau zu. »Aber ich bin kein Fremder. Ich bin Doktor Grünthal. Maria kennt mich.« Das Messer sank nach unten, dann straffte sich die Frau wieder und kniff die Lippen fest zusammen. Mark bewegte sich noch etwas in Richtung Tür. Lara und Jo verfolgten das Ganze, ohne sich zu rühren.
»Kann ich bitte mit Maria sprechen?«
»Nein.« Das klang hart und abweisend. Lara betrachtete die Emotionen, die sich auf dem Gesicht der Frau widerspiegelten, während sie sich fragte, wer da jetzt zu ihnen sprach.
»Ich kann Ihnen helfen. Lassen Sie mich mit Maria reden, bitte!« Mark machte zwei Schritte auf die Frau zu, und diese hob drohend das Messer, sodass er wieder zurückwich.
»Ich weiß, dass sie da ist. Und auch Mandy und die anderen. Ich denke, ihr könnt mich hören. Ich muss jetzt mit Maria sprechen!«
»Lassen Sie uns in Ruhe!« Maria Sandmann kreischte den letzten Satz heraus, ließ das Messer fallen und machte einen Satz rückwärts. Dann verschwand sie im Flur.
Im selben Moment klingelte Laras Handy, und alle erstarrten zu einer seltsamen Pantomime. Sie schielte auf die Anzeige und sah den Namen des Anrufers »R. Schädlich«. Die Wohnungstür klappte. Lara drückte das Telefon ans Ohr, hörte die aufgeregte Stimme des Polizeibeamten und sah gleichzeitig, wie Jo und Mark hinausrannten.
»… ich habe es auch erst vorhin erfahren, als mich der diensthabende Beamte angerufen hat … Ich war schon zu Hause. Sind die Kollegen schon bei Ihnen?«
»Was haben Sie erfahren?« Lara stand noch immer neben ihrem Stuhl. Auf dem Tisch glühte das Papier der vier Briefe.
»Das Ergebnis der DNA-Analyse. Ich sagte es doch eben schon!«
»Die DNA-Analyse? Was ist denn damit?« Während sie sich aufmachte, den Männern zu folgen, und sich gleichzeitig fragte, was an dieser DNA-Analyse so bedeutsam war, sprudelte es weiter aus Kriminalobermeister Schädlich heraus.
»Es gibt eine Übereinstimmung! Die gefundene DNA im Fall Meller ist mit der identisch, die man in dem Erbrochenen bei Grünkern gefunden hat.« Schädlich schnappte nach Luft. Lara dachte daran, dass sie das schon wussten und der Kripo nachher allerhand erklären mussten. Jetzt jedoch war es erst einmal vorrangig, Maria Sandmann zu finden.
»Dann war es also der gleiche Täter.«
»Nicht ganz, Lara, nicht ganz…« Er machte eine Pause, holte tief Luft und setzte dann hinzu: »Es war nicht derselbe Täter. Die gefundene DNA gehört zu einer Frau.«
Mit einem Mal rückten alle Puzzleteilchen an die richtige Stelle.
Es gab keinen Matthias.
»Matthias« war eine Frau. Eine Frau mit einer multiplen Persönlichkeit, die aus mehreren getrennt voneinander agierenden Innenpersonen bestand, von denen keine von den anderen wusste.
Im Nachhinein dachte Lara, man hätte förmlich sehen können, wie ihr ein Licht aufging.