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»Hallo miteinander!« Lara blickte in die Runde. An allen Tischen wurde geschäftig gearbeitet. Nur Toms Platz war leer. Seit der gestrigen Redaktionsbesprechung hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie nahm sich vor, in der Abwesenheitsliste nachzuschauen, wo er heute war, und hatte es eine Minute später schon wieder vergessen.

»Hi, Lara.« Isabell stakste herbei. Die Absätze ihrer Schuhe waren mindestens zehn Zentimeter hoch. Lara fragte sich, wie die Praktikantin damit den ganzen Tag herumlaufen konnte, ohne Höllenqualen zu leiden. Aber vielleicht hatte sie auch Schmerzen und zeigte es nur nicht, nach dem altbewährten Prinzip: Wer schön sein will, muss leiden.

»Ich habe dich gestern gar nicht gesehen.« Isabell blieb vor Laras Tisch stehen, die Giraffenbeine in der Standbein-Spielbein-Stellung über Kreuz.

»Ich war im Gericht. Bin erst kurz vor Schluss noch einmal hier gewesen.« Lara begann, ihre Handtasche auszuräumen.

»Ach ja! Dieser Arzt, der die Kinder begrabscht hat. Steht ja heute drin!«

Isi klang aufgeregt. Lara überlegte kurz, sich zur Ausdrucksweise der Praktikantin zu äußern, ließ es dann aber. Es hatte in der Vergangenheit nichts gebracht, und außerdem lief Isabells Zeit in der Redaktion ab. Sinnlos, sie missionieren zu wollen. »Genau.«

»Und was machst du heute so?«

Jetzt sah Lara doch hoch. Die junge Frau stand neben ihrem Schreibtisch und wartete auf eine Antwort. Die Arme hatte sie dekorativ in die Seiten gestemmt, wo ein überbreiter Gürtel die schmale Taille betonte. Der Rock reichte gerade bis zur Mitte der Oberschenkel. Ihre Augen waren dunkel geschminkt. »Smoky eyes«, wie nett. Sollte wohl verrucht aussehen.

»Dies und das.« Was sollte das hier werden? Ein netter kleiner Büroplausch? Die Praktikantin war doch sonst nicht so neugierig. Womöglich vermisste sie auch nur ihren eigentlichen Gesprächspartner. Jetzt fiel es Lara wieder ein. »Wo ist eigentlich Tom?«

»Keine Ahnung.« Isabell schürzte die Lippen. »Steht nur ›außer Haus‹ in der Liste.« Sie schien enttäuscht.

»Ach so.« Lara starrte auf ihren Bildschirm. Sie hatte sich vorgenommen, heute an der begonnenen Hintergrund-Rubrik zu »Gewalt gegenüber Wehrlosen  – Verbrechen an Kindern« weiterzuarbeiten. Wenn sie das Thema nicht ab und zu hervorholte, geriet es zu sehr ins Hintertreffen und war dann irgendwann gestorben. Das wäre schade um die bereits investierte Zeit. Und zudem war das Thema zu bedeutsam, um es einfach fallenzulassen.

»Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein danke.«

»Ein Wasser?«

Erneut blickte Lara auf. Wollte die Praktikantin jetzt ersatzweise sie bemuttern? »Ich möchte gar nichts, Isi. Ich habe zu tun.« Im Abwenden sah Lara den enttäuschten Gesichtsausdruck. Schon tat es ihr wieder leid, dass sie so schroff gewesen war, daher setzte sie noch hinzu: »Danke für das Angebot. Du musst mich aber nicht bedienen.« Sie hasste es, wenn die Männer Isabell als Laufburschen missbrauchten, aber anscheinend hatte diese ihre Rolle schon so verinnerlicht, dass sie gar nicht anders konnte.

»Na gut. Dann geh ich mal eine rauchen.« Mit gekonntem Hüftschwung stelzte sie hinaus. Seit wann rauchte Isabell eigentlich? Lara zuckte mit den Schultern, rief ihre Dateien auf und bemühte sich, sich auf die Inhalte zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften ständig ab. Schließlich gab sie auf. Sie war wohl heute nicht in Stimmung für tragische und trostlose Schicksale. Die Schandtaten des Doktor Schwärzlich saßen ihr noch in den Knochen. Sie konnte sich nicht jeden Tag mit misshandelten Kindern befassen, zwischendurch brauchte ihr Geist auch mal etwas Ruhe und Abwechslung durch ganz alltägliche Themen. Für Donnerstag hatte sie noch einen Termin außer Haus, die Einweihung einer evangelischen Grundschule. Eigentlich nicht ihr Ressort, aber Friedrich hatte sie darum gebeten, weil er zum Zahnarzt musste.

Um die Neueröffnung des renovierten Stadtbades in Gohlis am Sonnabend »pokerten« sie noch. Keiner hatte bei diesem Wetter Lust, am Wochenende Dienst zu tun. Auch Lara hoffte, dass der Kelch an ihr vorübergehen würde. Berichte über lokale Begebenheiten an Wochenenden wurden sonst meist von den Freien geschrieben. Die fest angestellten Redakteure waren weniger zu Außeneinsätzen an Sonnabenden und Sonntagen unterwegs. Aber momentan war Urlaubszeit und viele der freien Mitarbeiter waren nicht da.

Mitten in ihre Überlegungen hinein piepte das Handy. Eine SMS. »Kommst du am Sonnabend mit zur Ladies’ Night? Ruf mich an. Doreen.« Und ein tanzender Smiley. Lara grinste. Keine schlechte Idee. Sie packte ihr Telefon und ging nach draußen. Die Nachricht hatte sie an etwas erinnert.

Im Treppenhaus war es wie immer kühl und dunkel. Aus dem ersten Stock ringelten sich Gesprächsfetzen zu ihr nach oben. Wahrscheinlich hatte die Redaktion vom Stadtanzeiger wieder die Tür geöffnet, um sich Abkühlung zu verschaffen.

Lara wählte die Nummer von Marks Praxis. Wenn sie Glück hatte, wäre er gerade nicht im Gespräch und die Sprechstundenhilfe konnte sie direkt durchstellen.

»Hallo, Lara. Schön, deine Stimme zu hören.«

»Ich freue mich auch. Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?«

»In zehn Minuten kommt ein Patient. Reicht dir das? Wenn es länger dauert, müssten wir heute Abend noch einmal telefonieren.«

»Das können wir ja immer noch tun.« Lara sah unwillkürlich auf die Uhr. Gleich zehn. Sie holte tief Luft und legte los. »Meine Halluzinationen sind zurück. Ich dachte, diese kurze Sequenz letzte Woche sei nur ein einmaliger ›Ausrutscher‹ gewesen, aber heute Nacht ging es weiter.«

»Was war es diesmal?« Marks tiefe Stimme klang beruhigend.

»Worte … Sätze. Etwas in der Art ›Welche Schlampe schmeißt benutzte Taschentücher auf den Boden?‹ und ›Du bleibst hier und kannst etwas dazulernen, bis ich dich wieder abhole‹. Ziemlich unverständlich, nicht?«

»Hm. Wann ist es aufgetreten?«

»Mitten in der Nacht. Ich bin davon aufgewacht, aber es war definitiv kein Traum.« Lara schaute über das Geländer nach unten auf die grün-braune Steinrosette im Erdgeschoss. Irgendwo weiter oben brummte eine Fliege. »Mark, ich mache mir Sorgen. Erinnerst du dich an den Fall Mühlmann?« Sie konnte es nicht sehen, wusste aber, dass er nickte. »Damals hatte ich, wie du ja weißt, im Vorfeld auch solche«, sie wusste nicht recht, wie sie sich ausdrücken sollte, »solche Halluzinationen. Ich glaube, sie traten immer zu dem Zeitpunkt auf, als er gerade die Taten verübte.«

»Ich erinnere mich gut.« Mark dachte kurz nach, ehe er fortfuhr: »Zu gut. Wenn wir das eher in Zusammenhang gebracht hätten  – wer weiß.«

»Hinterher ist man immer schlauer.« Lara tadelte sich selbst für diese Plattitüde, noch ehe sie ganz ausgesprochen war.

»Konntest du außer den Worten auch etwas ›sehen‹?«

»Nein, dieses Mal nicht. Ich habe nur diese herrische Frauenstimme gehört.« Sie seufzte kurz. »Wie immer ist alles sehr vage.«

Auf Marks Seite knarrte eine Tür. Dann flüsterte eine Frau. Die Sprechstundenhilfe wahrscheinlich. Als er sprach, hatte Marks Stimme einen geschäftsmäßigen Ton. »Wir müssen Schluss machen, Lara. Meine Sprechstunde beginnt gleich. Fass doch bitte alles, was dir bisher aufgefallen ist, zusammen, und versuche, Struktur hineinzubringen. Lass uns heute Abend noch einmal telefonieren, und wir schauen es uns gemeinsam an.«

»Das mache ich. Danke erst einmal.«

»Um neunzehn Uhr bin ich hier fertig. Ruf mich auf dem Handy an.«

»Alles klar.« Auf dem Handy, soso. War seine Frau noch immer so eifersüchtig? Lara verzog die Mundwinkel. Es bestand kein Anlass dazu.

»Ach, Lara, ganz kurz noch: Heute früh hat eine Frau Sandmann aus Leipzig einen Termin bei mir vereinbart. Sie hat sich auf dich berufen. Kennst du sie?«

»Maria Sandmann?«

»Ja.«

»Flüchtig. Ich habe sie bei Gericht getroffen, und als ich gestern nach der Urteilsverkündung mit einem Kollegen noch einen Kaffee trinken wollte, ist sie mitgegangen. Durch den Prozess sind wir ganz allgemein auf das Thema Psychologen, Gutachter und Therapeuten gekommen, und ich habe dich erwähnt. Ist das schlimm?«

»Nein, keineswegs. Ich wollte bloß nachfragen, ob die Referenz stimmt.«

»Und  – nimmst du sie dran?«

»Ja. Sie kommt morgen. Mehr möchte ich aber dazu nicht sagen, versteh mich nicht falsch, die Schweigepflicht …«

»Ist schon o. k.« Lara war ein bisschen sauer, obwohl sie es verstand, aber schließlich hatte er mit dem Thema angefangen. »Bis heute Abend.«

»Mach’s gut.« Er legte als Erster auf. Im Erdgeschoss fiel eine Tür ins Schloss. Hochhackige Absätze klapperten auf den Steinstufen. Eine Hand, geschmückt mit einem großen Strassring, glitt das polierte Geländer nach oben. Lara beugte sich noch ein wenig nach vorn und erhaschte einen Blick auf Isis tiefen Ausschnitt und den Rand eines spitzenbesetzten BHs in Rot. Schnell zog sie den Kopf zurück und betrat die erste Stufe nach unten. So würde es für die Praktikantin so aussehen, als sei sie auf dem Weg zur Toilette. Im gleichen Augenblick klingelte ihr Handy und Lara fuhr zusammen. Die Nummer auf dem Display war ihr nicht bekannt. War das heute der Tag der Anrufe?

»Lara, hallo?« Es dauerte zehn endlose Sekunden, bis sie die Stimme erkannte. Das lag zum einen daran, dass sie mit diesem Anrufer überhaupt nicht gerechnet hatte und zum anderen daran, dass der Mann flüsterte. »Es gibt Neuigkeiten im Fall der Plattenbauleiche.«

»Ja?« Unwillkürlich dämpfte auch Lara ihre Lautstärke.

Kriminalobermeister Schädlich redete noch einen Deut leiser. »Ich dachte, das könnte Sie interessieren.«

Isabell war oben angekommen und betrachtete die Kollegin im Vorübergehen neugierig. Ihr Mund stand ein wenig offen. Lara hielt sich die freie Hand ans Ohr und ging zwei Stufen nach unten. Die Praktikantin verstand den Wink und verschwand in den Redaktionsräumen. »Neuigkeiten, sagen Sie?«

»Genau. Aber das kann ich nicht am Telefon erzählen, Lara.« Wieso rief er sie dann an? Lara verdrehte die Augen. Und der Kripomann hatte sie schon wieder beim Vornamen genannt. Sie wartete.

»Wollen wir uns treffen? Im Lindencafé? Heute Abend?«

Jeder Satz eine Frage. Lara verkniff sich ein hörbares Ausatmen, während sie sich gleichzeitig fragte, ob sie überhaupt noch Interesse an dem Fall mit der Leiche in der Badewanne hatte. Schließlich war das Ganze jetzt schon zwei Wochen her, und nichts war so alt wie die Nachrichten von gestern. Noch eine Plattitüde. Der Tag der Anrufe und der Tag der Plattitüden. »An welche Zeit hatten Sie denn gedacht?« Vielleicht hatte Schädlich wirklich spannende Neuigkeiten zu bieten. Einen Versuch war es wert. Besser sie als Tom. Im Erdgeschoss quietschte die Eingangstür. Schnelle Schritte spurteten die Treppe nach oben.

»Neunzehn Uhr?«

Noch eine Frage. Ab neunzehn Uhr sollte Lara Mark anrufen. Sie musste sich etwas einfallen lassen. »Also gut. Um sieben im Lindencafé. Ich muss jetzt wieder an die Arbeit.« Jos schlanke Gestalt bog um die Ecke. Er erblickte Lara, und seine Augen begannen zu funkeln.

»Also bis dann!« Kriminalobermeister Schädlich legte im selben Moment auf, als der Fotograf Lara erreichte und ihre Hand nahm. »Hallo, schöne Frau!«

Die Anrede, die sie bei jedem anderen als plump empfunden hätte, brachte Laras Herz ins Stolpern. »Hallo, Jo. Lange nicht gesehen.« Sie hob zum Zeichen der Ironie eine Augenbraue.

»Eigentlich wollte ich ja heute gar nicht herkommen. Aber ich habe gestern Abend meine Speicherkarte hier liegenlassen.«

»Aha. Ja dann.« Unbeweglich standen sie voreinander. Noch immer sahen seine blauen Augen in ihre. Und noch immer hielt er ihre Hand.

»Hast du Lust, unser nettes Abendessen von gestern heute zu wiederholen?«

»Äh …« Lara leckte sich über die Lippen und wandte dann den Blick ab. »Ich bin schon verabredet.«

»Da kann man nichts machen.«

Jetzt erst ließ er sie los. Lara fühlte noch die Wärme seiner Haut an ihren Fingern. »Es ist eher dienstlich. Wir könnten uns ab halb neun treffen, wenn dir das nicht zu spät ist.« Was zum Teufel machte sie da? Wie viele Verabredungen wollte sie noch an einem Abend eingehen?

»Halb neun, hm?«

»Ja. Du könntest mich auch abholen. Am Lindencafé.« Das würde Schädlich und dem, was er sich womöglich vorstellte, Grenzen setzen.

»Gut. Dann machen wir das so. Und jetzt hole ich meinen Speicherchip und verschwinde wieder, sonst schaffe ich meine Termine nicht.« Er ging voraus und hielt Lara die Tür auf.