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Mark musterte die teilnahmslos dasitzende Maria Sandmann. Der Aufenthalt im Haftkrankenhaus tat ihr nicht gut. Sie war verschlossen, und er konnte kaum noch zu einer ihrer Personen durchdringen, obwohl mittlerweile einige von ihnen ihn als Arzt kannten. Mal schüttelte sie den Kopf, dann wieder nickte sie, so als höre sie inneren Stimmen zu. Ihre Körperhaltung und die Gesichtsausdrücke wechselten ständig. Einmal nahm sie den Daumen in den Mund und schaute aus wie ein entmutigtes Kleinkind, kurz darauf richtete sie sich auf und streckte die Arme über den Kopf, wobei sie mit tiefer Stimme leise ächzte.
Er hätte alles dafür gegeben zu wissen, was da drin vor sich ging, aber so einfach würde das nicht werden. Das angeforderte Gutachten würde wochenlange Tests und Untersuchungen erfordern, bei denen er auf ihre Kooperation angewiesen war.
Mark sah kurz auf seine Notizen, dann kehrte sein Blick zu der Patientin zurück, während er sich fragte, welche ihrer Persönlichkeiten gerade draußen war.
»Hallo, Mia. Ich freue mich, dass wir uns endlich einmal in Ruhe unterhalten können.« Das Mädchen lächelte. Maria Sandmann betrachtete das großflächige Gesicht. Die blauen Augen leuchteten. Sie hatte das undeutliche Gefühl, dieses Mädchen schon einmal gesehen zu haben, wusste aber nicht, wo und wann das gewesen war.
»Du erinnerst dich nicht, stimmt’s? Ich bin Michaela.«
»Michaela.« Noch immer wollte die Erinnerung nicht hervorkommen.
»Wir waren zusammen in den Katakomben. In der Arrestzelle im Keller des Kinderheims.«
Mit einem Knirschen tauchte die Szene vor Mias innerem Auge auf: wie sie im Finstern gehockt und geweint hatte, ihre Angst vor den Peinigern, ihr leises Schluchzen, und dann hörte sie die tröstende Stimme von Michaela, die ihr Mut zusprach, und spürte deren weiche Hand in ihrer. Jetzt lächelte auch sie.
»Immer, wenn du dich allein und verängstigt fühlst, komme ich zu dir.« Michaela streckte den Arm aus und ergriff Mias Hand. »Willkommen in der Familie.« Sie zeigte auf ein kleines Kind, das sich, den Daumen im Mund, hinter einem größeren Jungen versteckte. »Das ist Melissa. Melissa ist noch sehr klein und ein wenig schüchtern. Und sie spricht nicht. Es wird eine Weile dauern, bis sie Vertrauen zu dir gefasst hat. Sie ist sehr zurückhaltend und hat viel Schlimmes durchgemacht. Irgendwann werden wir darüber sprechen, aber nicht jetzt. Körperkontakt vermeidet sie. Du kannst ihr aber zuwinken.« Michaela hob Mias Hand, die sie noch immer festhielt, und schüttelte sie. Die Kleine rührte sich nicht.
»Und schau mal, da drüben im Rosengarten – das Mädchen in der Schürze. Das ist Mandy. Sie war auch in dem Kinderheim. Eines Tages war sie verschwunden. Wir haben erst sehr viel später gemerkt, dass sie unter der Wacholderhecke eingeschlafen war. Fast wie Dornröschen. Jetzt, wo ihr Bruder Matthias zurückgekehrt ist, ist sie aufgewacht.« Michaela lächelte stärker. »Es gibt noch ein paar andere, aber die stelle ich dir das nächste Mal vor, damit es nicht zu viel wird. Nicht alle sind Kinder, und nicht alle sind nett. Mary zum Beispiel ist eine Schlampe. Wenn sie ›on stage‹ ist – so nennen wir es, wenn einer von uns das Ruder übernimmt –, wirft sie sich jedem Mann in ihrer Nähe an den Hals. Außerdem säuft sie wie ein Loch. Aber ich quatsche zu viel. Komm mit.« Sie zog Mia hinter sich her. »Zwei sollst du noch kennenlernen.« Gemeinsam gingen sie zu einer hell beleuchteten Stelle, an der ein Mann mit gebeugtem Rücken am Tisch saß.
»Mia – darf ich dir Matthias, unseren Beschützer, vorstellen?« Michaela machte einen Knicks und schubste Mia ein bisschen dichter an den Tisch. »Matthias – sag hallo zu unserer Mia.« Der Mann drehte sich halb herum und sah Mia lange in die Augen. Dann streckte er die Hand aus. Feine Lachfältchen zerknitterten seine Augenwinkel. »Hallo, kleine Mia.«
»Er hat Sorgen. Wahrscheinlich wird er bald eingesperrt und kommt vor Gericht.« Michaela seufzte kurz. »Wir sind trotzdem stolz darauf, was er getan hat. Es war richtig. Und wir sind ja immer bei ihm und können ihm in den schweren Zeiten beistehen.«
»Habt ihr meine Briefe an Mandy gelesen?« Er richtete sich auf, ächzte und streckte die Arme über den Kopf, und Mia konnte sehen, wie groß und stark er war.
»Sie hat sie mir anvertraut. Ich habe sie bei mir.« Michaela zeigte auf ihre Umhängetasche. »Mia und ich lesen sie nachher gemeinsam. Sie ist noch ein bisschen verwirrt über das Ganze.«
Matthias lächelte sie an und legte Mia dann den Arm um die Schulter. »Bis gestern wusste ich auch nicht, wer hier noch alles ist. Ich war immer nur auf der Suche nach meiner Schwester Mandy. Und jetzt habe ich auf einmal ganz viele Geschwister. Ich freue mich darauf, euch alle näher kennenzulernen. Wir werden später noch viel Zeit haben, uns zu unterhalten. Jetzt muss ich mich leider um andere Dinge kümmern.«
»Das ist in Ordnung.« Mia hörte sich selbst sprechen und wunderte sich darüber, wie furchtsam sie sich anhörte. »Bis bald, Matthias.«
Michaela zog sie vom Tisch weg, ging ein paar Schritte und zeigte auf eine zierliche blonde Frau mit Pagenkopf, die zusammengesunken auf einer Art Sessel saß. » Und das ist Maria Sandmann – unser Host. So nennen wir die Person, die ihren Körper für uns zur Verfügung stellt und den normalen Alltag bestreitet. Sie ist sich nicht bewusst, dass wir alle da sind. Es würde sie auch überfordern. Aber sie hat ihre Sache bis jetzt gut gemacht. Wenn du möchtest, kannst du für einen Augenblick das Ruder übernehmen. Möchtest du? Dann los!«
Michaela gab ihr einen Schubs, und Mia trat für einen Moment ins Rampenlicht und blickte durch die Augen der Gastgeberin nach draußen. Sie sah einen großen, schlanken Mann mit Hakennase, der sie nachdenklich betrachtete. Er schien auf etwas zu warten.
Die Luft schien zu oszillieren, und Mia kehrte zurück zu ihrer wiedergefundenen Freundin. »Wer ist das?«
» Unser Psychotherapeut, Doktor Grünthal. Du kannst ihm vertrauen. Er will uns helfen.« Michaela grinste schelmisch. »Sein Vorname beginnt auch mit einem M, genau wie bei uns. Das ist ein Zeichen, nicht? Wenn er uns anspricht, redet meistens einer von den Großen mit ihm. Und jetzt lass uns einen Kakao trinken und ein paar Kekse essen. Die managen das schon.« Arm in Arm gingen sie davon.