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»Isabell? Du klingst so abgehetzt!« Lara machte Jo ein Zeichen und fuhr langsamer. »Ja, ich bin auf dem Weg zurück in die Redaktion.« Sie lauschte und zog dabei die Augenbrauen über der Stirn zusammen. »In zehn Minuten. Wenn du meinst.« Lara schaltete das Handy aus und sah Jo an, der ein fragendes Gesicht machte. »Sie hat etwas für mich. Was es ist, wollte sie nicht sagen.«

»Geheimnisse?«

»Sie wartet am Seiteneingang. Ich weiß noch nicht, um was es sich handelt.« Lara gab Gas und überquerte die Kreuzung bei Gelb.

Im Parkhaus mussten sie bis in die vierte Etage fahren, um einen freien Platz zu bekommen. Anscheinend hatten sich alle Leute den Donnerstagnachmittag zum Shoppen ausgesucht. Vor dem Zeitungsgebäude roch es nach heißem Staub und Frittierfett. Lara wünschte sich eine kalte Dusche. Isabell stand in der halb geöffneten Tür und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wirkte erregt. »Da bist du ja. Hampenmann wartet auf dich.«

»Ich weiß schon. Er ist wütend.« Lara blickte kurz zu Jo. »Gehst du hoch?«

»Ich bin schon weg.« Der Fotograf rückte seine Taschen auf der Schulter zurecht und verschwand im Treppenhaus.

»So. Wir sind unter uns. Was hast du denn?«

»Komm mit rein.« Obwohl niemand in der Nähe war, flüsterte Isabell und zog Lara dabei an einem Ärmel ins Haus. »Ich habe Beweise.«

»Beweise? Wofür denn?«

»Tom hat doch behauptet, er wäre nicht an deinem Rechner gewesen. Vorhin, in der Mittagspause.«

»Richtig.«

»Er war aber doch dran. Ich habe es fotografiert. Mit dem Handy. Hier.« Isabell klickte an ihrem Mobiltelefon herum und hielt es Lara dann vor die Nase. Eine schnelle Bildfolge zeigte Tom Fränkel, wie er Lara nachsah, die hinausging. Im nächsten Bild erhob er sich von seinem Schreibtisch. Die zusammengekniffenen Augen hatten einen lauernden Ausdruck. Dann sah man ihn um die beiden Schreibtische herumgehen und im Anschluss am Computer seiner Kollegin stehen, den Rücken gebeugt, die rechte Hand auf der Maus. Die große Wanduhr im Hintergrund zeigte die Zeit: drei Minuten nach zwölf.

»Ich hatte also doch recht. Na warte, Freundchen!«

»Es tut mir leid.« Isabell hatte den Kopf gesenkt. »Er wollte mich mit hineinziehen, aber das ist endgültig vorbei. Du bist vorhin so schnell weg gewesen, dass ich es dir nicht gleich zeigen konnte.«

»Ich bin dir wirklich dankbar, Isi.« Lara streckte die Hand aus. »Darf ich mir dein Handy kurz ausleihen?«

»Warte. Ich hab noch was.« Isabell schaute jetzt schuldbewusst. »Ich konnte ja nicht wissen, dass ich ihn heute beim Spionieren erwischen würde. Also habe ich gestern Abend etwas unternommen.«

»Du hast etwas unternommen

»Na ja, ich hatte dir gestern doch versprochen, dass ich dir helfe.« Von oben näherten sich Schritte, und Isabell sprach leiser. »Ich habe gestern Abend diese Therese angerufen  – meine Vorgängerin quasi. Und was soll ich dir sagen …« Isabell machte eine bedeutungsvolle Pause, und Lara wusste, was jetzt kam. »Sie hatte auch eine Affäre mit Tom! Oder sollte ich besser sagen, er mit ihr?« Sie lachte kurz und schluchzte gleich darauf. »Sie hat gesagt, er hätte mit jeder etwas gehabt, mit dem Mädchen, das vor ihr da war, mit deren Vorgängerin, mit ihr! Leider hat sie das auch erst hinterher spitzgekriegt. Dieses Schwein!«

Friedrich kam die Treppen herabgeschlichen, die unvermeidliche Zigarette hinter dem Ohr. Er trug einen undefinierbaren Gesichtsausdruck zur Schau. Wahrscheinlich hatte er gelauscht. Es fehlte nur, dass er ein Liedchen pfiff. Mit einem knappen Nicken marschierte er hinaus. Lara wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, ehe sie sprach. »Geahnt habe ich das schon längst. Aber Beweise hatte ich keine dafür.«

»Die hast du jetzt.« Isabell nestelte in ihrer kleinen Umhängetasche und brachte einen länglichen Gegenstand heraus. »Hier ist alles drauf.«

Verblüfft betrachtete Lara das silberfarbene Diktiergerät. »Wie meinst du das, da ist alles drauf?«

»Warte, ich spiele es dir vor.« Isabell drückte den Abspielknopf, und Toms Stimme ertönte.

»Na und? Was geht dich das an? Das ist außerdem eine Weile her. Sie haben mir eben gefallen, die kleinen Biester.«

»Kleine Biester?« Isabell hörte sich auf dem Band an, als ob sie gleich losheulen würde.

»Ach komm, Isabell! Tu doch nicht so! Ihr seid doch alle gleich. Lauft in ultrakurzen Röckchen herum, bei denen man euch bis sonst wohin schauen kann, wackelt mit den Ärschen, dass es jedem halbwegs normalen Mann die Sinne raubt, und seid zu allem bereit. Wie man es bei dir unschwer nachweisen konnte. Du hast ja sogar mit mir auf der Redaktionstoilette gefickt!« Er lachte meckernd. »Natürlich habe ich sie rangenommen. Dich und diese Therese und ihre Vorgängerin, Maureen hieß sie, glaub ich. Was ist dabei? Ihr habt mich angehimmelt, und ich habe euch die Bestätigung gegeben, die ihr wolltet. Mein Gott! Wie ich dieses scheinheilige Getue hasse!« Man hörte Isabell schnaufen, und dann fuhr Tom in seiner Tirade fort: »Warum fragst du überhaupt danach? Es ist vorbei, Isichen. Vorbei! Es war nett mit uns beiden, aber es hatte nichts zu bedeuten. Verstehst du das? Natürlich hast du mich angehimmelt, das tun sie doch alle. Aber mehr war da nicht. Und nun sind wir damit fertig. Sprich mich bitte nicht mehr darauf an. Ist das klar?« Ein gehauchtes »Ja« von Isabell, dann verabschiedete sich Tom mit einem »Fein«. Und legte auf.

Lara sah Isabell in die Augen. »Du hast ihn angerufen?«

»Gestern Abend. Nachdem ich mit dieser Therese telefoniert hatte. Natürlich ist er nicht auf die Idee gekommen, ich könnte das Gespräch aufzeichnen. Aber ganz so dumm, wie er glaubt, bin ich auch nicht. Bitte.« Isabell reichte Lara Handy und Diktiergerät. »Mach damit, was du willst.«

»So viel Unverfrorenheit. Ich glaube es nicht. Danke, Isi. Ganz großen Dank.« Lara tätschelte der Praktikantin das Gesicht und spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Wange. »Sei nicht traurig. Es ist wirklich nicht schade um ihn.«

»Ich weiß.« Isabell zog die Nase hoch.

»Du möchtest jetzt bestimmt nicht mit hochkommen. Geh einen Kaffee trinken. Ich werde Tom zur Rede stellen. Hampenmann und die anderen müssen nichts davon erfahren. Du kriegst das nachher gleich zurück.« Sie wedelte kurz mit Handy und Diktiergerät und rannte die Treppen nach oben.

 

»Das wird aber auch Zeit, meine Liebe!« Tom stand neben dem Kopierer und hatte einen selbstgerechten Ausdruck im Gesicht. »Der Chef wartet schon seit zwei Stunden, dass du wieder auftauchst! Wo warst du eigentlich?«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Wenn du meinst. Jetzt solltest du aber ganz schnell zu ihm gehen, sonst nimmt das noch ein böses Ende. Wenn es das nicht schon hat.« Er grinste süffisant und beugte sich nach vorn, um die Kopien aus der Ablage zu nehmen, aber Laras nächste Worte bewirkten, dass er sich wieder aufrichtete und sie mit verblüfftem Gesichtsausdruck ansah.

»Ich hoffe, es nimmt für dich kein böses Ende. Komm mit nach draußen, ich muss dir etwas zeigen.«

»Wie?«

»Ich sagte, komm mit mir nach draußen. Ich habe etwas, das dich interessieren dürfte. Du möchtest doch nicht, dass die ganze Redaktion zuhört, was du für ein Lügner bist?« Irgendetwas an ihrem Tonfall schien Tom zu sagen, dass sie nicht bluffte, denn er folgte ihr ohne weiteres Widerstreben auf den Flur.

»Schau dir einfach die Fotos an.« Lara hielt ihm das Handy vors Gesicht und ließ die Bildfolge ablaufen. Sein Unterkiefer sackte von Foto zu Foto weiter nach unten.

»Hast du die Uhrzeit bemerkt?«

»Lara, ich kann das erklären.« Er klang weinerlich.

»Das glaube ich nicht, mein Lieber. Und ich möchte deine Erklärungen auch gar nicht hören. Du ahnst sicher, was ich stattdessen erwarte.«

»Wer hat diese Fotos eigentlich gemacht? Ist das nicht Bespitzelung am Arbeitsplatz? Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist.« An Toms Nasenspitze konnte man sehen, dass er glaubte, einen Ausweg aus seiner Lage entdeckt zu haben, aber Lara fuhr ihm in die Parade.

»Das ist nicht wichtig. Ich hätte da noch etwas. Hör einfach zu.« Sie ließ die Aufzeichnung des Telefongesprächs gerade so weit ablaufen, dass er erkannte, was sie da gegen ihn in der Hand hatte. In Toms Gesicht jagten sich die Emotionen, aber er schwieg. Er wusste, wann er verspielt hatte.

»Ich sehe, du verstehst. Hampenmann ist gegen Beziehungen am Arbeitsplatz. Schon gar nicht würde es ihm gefallen, wenn Kollegen etwas mit einer Praktikantin anfangen. Oder besser gesagt, mit einer Praktikantin nach der anderen, meinst du nicht auch?«

»Was möchtest du, dass ich tue?«

»Das mit Isabell und Therese kann unter uns bleiben. Vorerst. Ich behalte die Aufzeichnung zur Sicherheit. Und es existieren mehrere Kopien. Komm also nicht auf dumme Gedanken.« Sie sah ihm dabei in die Augen und meinte ein kurzes Auflodern von Hass zu sehen. Das mit den Kopien würde sie nachher erledigen. Mochte er ruhig glauben, sie existierten schon längst. »Aber deine Anschuldigungen gegen mich solltest du schnellstens zurücknehmen.«

Friedrich kam langsam zurück und huschte an ihnen vorbei. Er roch nach Zigarettenrauch und hatte ein merkwürdiges Grienen im Gesicht. Tom bemerkte davon nichts. Er schlang, ohne es zu merken, die Finger ineinander und löste sie wieder. Als der Kollege in den Redaktionsräumen verschwunden war, fragte er: »Wie?«

»Du gehst jetzt sofort zu Hampenmann und sagst ihm, dass du dich geirrt hast, dass deine Vorwürfe gegen mich haltlos sind und dass es dir leidtut. Lass dir etwas einfallen. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Dann kann das hier«, sie hob das Diktiergerät hoch, »unter uns bleiben. Isi wird nichts sagen. Ich werde die Beweise allerdings aufheben. Damit du auch in Zukunft nicht auf dumme Gedanken kommst.«

Tom presste die Lippen aufeinander, drehte sich ohne ein Wort um und stieß die Tür zur Redaktion auf. Mit einem feinen Lächeln sah Lara ihm nach, wie er zur Tür des Redaktionsleiters schlurfte und klopfte. Dann verschwand er in dessen Zimmer, und sie ging, um Jo zu suchen und ihm von den Vorfällen zu erzählen. Ihr Herz klopfte wie wild, und doch fand sie, dass sie sich gut gehalten hatte.

Mark legte auf und sah nach draußen. Auf seiner Frontscheibe klebten zerquetschte Fliegen. In der Praxis war alles in Ordnung. Schwester Annemarie würde noch bis achtzehn Uhr dableiben und die Stellung halten, falls unangemeldete Patienten kamen. Seine Gedanken schweiften zu seiner eigenen Telefonnummer, aber er entschied sich dagegen, zu Hause eine Nachricht zu hinterlassen. Es war auch später noch Zeit, ihnen mitzuteilen, dass er sich auch heute wieder verspäten würde.

Das Haus, in dem Maria Sandmann wohnte, stand schweigend am Straßenrand. Rotes Sonnenlicht spiegelte sich in den oberen Fenstern wider. Niemand hatte auf sein Klingeln hin geöffnet, weder sie selbst noch irgendein Nachbar. Mark hatte ihr eine Visitenkarte mit der Bitte, sie möge ihn zurückrufen, in den Briefkasten gesteckt und sich entschieden, es für heute aufzugeben. Um sich abzulenken, würde er noch ein bisschen durch die Stadt bummeln. Vielleicht fand sich in den zahlreichen Boutiquen eine hübsche Kleinigkeit, um Annas Zorn zu besänftigen.

Er schnallte sich an, startete den Motor und hielt dann inne. Einen letzten Anrufversuch auf ihrem Handy würde er noch unternehmen. Nur um sein Gewissen zu beruhigen. Er drückte die Wähltaste und betrachtete sein angespanntes Gesicht im Rückspiegel.

»Hallo?« Eine aufgeregte Männerstimme.

Mark nahm das Telefon vom Ohr und betrachtete verblüfft das Display, ehe er antwortete. »Hier ist Mark Grünthal. Ich wollte Maria Sandmann sprechen.«

»Sind Sie der Psychofritze?«

»Das könnte man so sagen. Und Sie?«

»Schweizer, Frank Schweizer. Ich bin Mias Freund.«

Psychofritze, hm? Sehr viel schien der Mann ja nicht gerade von seiner Tätigkeit zu halten. »Kann ich bitte mit Frau Sandmann sprechen?«

»Im Moment ist es schlecht. Sie hat sich vor einer halben Stunde bei mir im Bad eingeschlossen und will nicht herauskommen.«

»Wie ist es denn dazu gekommen?« Marks Alarmglocken begannen zu schrillen.

»Das weiß ich nicht so genau. Zuerst kam sie zu mir und war völlig aufgelöst. Ich konnte jedoch nicht aus ihr herausbekommen, wieso. Nach einer Weile hat sie sich dann beruhigt, und wir haben einen Tee getrunken.« Der Mann machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, ehe er mit leiserer Stimme fortsetzte: »Ich glaube, es war, weil ich sie küssen wollte. Als ich sie umarmt habe, hat sie angefangen zu toben, sich losgerissen und mich dabei angesehen, als sei ich der Teufel höchstpersönlich.« Frank Schweizer seufzte laut. »Und dann ist sie, wie gesagt, ins Bad geflüchtet und hat abgeriegelt.«

»Wissen Sie, was sie da drin macht?«

»Nein. Zuerst hat sie herumgeschrien, lauter unverständliches Zeug. Dann habe ich die Dusche gehört. Jetzt ist es schon seit zehn Minuten still. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ich komme zu Ihnen. Wo wohnen Sie?« Mark kritzelte die Adresse auf einen zerknitterten Parkschein und setzte hinzu: »Und jetzt brechen Sie die Tür auf, und zwar sofort! Ich bin gleich da.« Er wartete nicht, bis der andere aufgelegt hatte, sondern trat aufs Gas. Der Motor heulte auf, und der Audi schoss mit quietschenden Reifen auf die Straße.

 

»Herr Schweizer? Ich bin’s, Mark Grünthal.« Der Türsummer ertönte, und Mark eilte nach oben. Im zweiten Stock stand eine Wohnungstür halb offen, und er hastete hinein.

Frank Schweizer war ein kleiner, dicklicher Mann mit schütter werdendem Haar. Er trug eine ausgewaschene Jeans und ein Poloshirt. Mit hängenden Schultern stand er in der Küche. Sein Robben-Schnauzbart zitterte leicht.

»Grünthal.« Mark ergriff die ausgestreckte Hand. »Wo ist sie?«

»Im Schlafzimmer.« Frank Schweizer deutete nach rechts und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn. »Als ich die Badtür aufgebrochen habe, lag sie in der Wanne und hat an die Decke gestarrt. Ohne Wasser. Ich habe sie ins Bett gebracht.«

»Alles klar. Ich gehe jetzt zu ihr. Sie können gern mitkommen, aber halten Sie sich bitte im Hintergrund.« Mark ging in die Richtung, in die Frank Schweizer eben gezeigt hatte, und öffnete behutsam die Tür. Maria Sandmann lag auf dem Bett, eine karierte Decke war über sie gebreitet. Im Näherkommen sah er, dass sie die Augen zwar geöffnet hatte, jedoch nicht reagierte. Auch als er sich leicht über sie beugte und sie ansprach, reagierte sie nicht. Ihre Gesichtszüge blieben starr und ausdruckslos. Sie atmete flach. Mark nahm ihre Hand, drückte sie und legte den gesamten Arm dann quer über den Bauch, wo er liegen blieb. Er würde ihre Handtasche durchsuchen müssen, glaubte aber nicht, dass sie Medikamente genommen hatte, die diesen Zustand hervorgerufen hatten. Dies hier war ein psychogener Stupor. Ein dramatisches Ereignis hatte ihr Innenleben so durcheinandergebracht, dass sie sich zum Schutz in diesen Zustand geflüchtet hatte. Mark machte Frank Schweizer ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging zurück in die Küche.

»Was hat sie?« Der schnauzbärtige Mann griff nach einer halbvollen Teetasse, die auf dem Tisch stand.

»Man nennt es Stupor. Das ist ein Zustand des Körpers, der durch Bewegungslosigkeit, maskenhafte Gesichtsstarre, Stummheit und fehlende Reaktion auf Außenreize gekennzeichnet ist. Die Ursache ist fast immer eine heftige emotionale Erschütterung, hervorgerufen durch extreme Ereignisse. Der Patient ist dann gewissermaßen ›starr vor Schreck‹. Frau Sandmann kann zwar alles hören und sehen, was um sie herum geschieht, reagiert jedoch nicht darauf. Das allerdings könnte auch eine Chance sein, sie zurückzuholen. Ihr Unterbewusstsein nimmt wahr, was ich ihr sage. Ich werde dann gleich wieder zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Vielleicht dringe ich durch.«

»Was hat denn dazu geführt, dass sie plötzlich in diesen Zustand verfallen ist? Es kann doch nicht nur deswegen sein, weil ich versucht habe, sie zu küssen?«

»Mit Sicherheit nicht. Zuerst hat sie sich doch gewehrt, wie Sie mir vorhin erzählt haben?«

»Ja, sie hat mich aufs Übelste beschimpft, dann ist sie aufgesprungen und ins Badezimmer gerannt.«

»Wissen Sie, was sie da drin gemacht hat?«

»Ich glaube, zuerst wollte Mia duschen. Jedenfalls habe ich, nachdem sie aufgehört hatte herumzuschreien, das Wasser rauschen hören. Nach ungefähr zehn Minuten war plötzlich Ruhe. Warten Sie!« Frank Schweizer war aufgestanden, ging hinaus und kam gleich darauf mit einem Rucksack wieder zurück. »Den hatte sie mit im Bad.«

»Würden Sie bitte einmal schauen, was darin ist?«

»Moment.« Frank Schweizer zog die Schnüre am oberen Ende auf und spähte in den Beutel, bevor er seine Rechte darin versenkte. Es raschelte. Dann kam die Hand mit einem Bündel Briefe wieder zum Vorschein. Die Kuverts waren nicht beschriftet. Jemand hatte eines von ihnen aufgerissen.

Er betrachtete die Umschläge und legte sie dann auf den Tisch, um den Rucksack weiter zu durchsuchen.

»Halt! Das ist es!« Mark streckte den Arm aus und nahm den geöffneten Brief, während Frank Schweizer innehielt. Er zog die gefalteten Seiten hervor, glättete sie und legte sie dann auf den Küchentisch. Gemeinsam lasen sie die ersten Zeilen.

Samstag, der 18. 07.

Liebe Mandy,

 

nur wenige Tage sind vergangen, seit ich den ersten Brief an Dich geschrieben habe, und heute sitze ich schon wieder an meinem Schreibtisch, um Dir von spannenden Neuigkeiten zu berichten  – das geht ziemlich schnell, nicht?

Mark blätterte schnell bis zum Ende, betrachtete den Absender und schob den Brief beiseite. Den Rest konnte er später analysieren. Das, was er gesehen hatte, reichte. Mandys Bruder Matthias hatte weitere Briefe verfasst und Maria Sandmann zukommen lassen. Einen davon musste sie in Frank Schweizers Badezimmer geöffnet haben, und der Inhalt hatte dann den Stupor hervorgerufen.

»Ich verstehe das nicht.« Frank Schweizer starrte noch immer auf die erste Seite, einen verdutzten Ausdruck im Gesicht.

»Aber ich weiß jetzt, was passiert ist.« Mark hub zu einer Erklärung an, wurde aber unterbrochen.

»Was machen Sie da?« Maria Sandmann stand in der Tür, die karierte Decke fest um sich gewickelt, und hielt sich mit der anderen Hand am Rahmen fest. Ihre Augen waren groß und rund, der Blick huschte von einem zum anderen. Sie sah aus wie ein verängstigtes Kind.

»Frau Sandmann?« Mark versuchte, ihren unsteten Blick festzuhalten. »Setzen Sie sich doch zu uns.«

Maria Sandmann schwankte leicht, und Frank Schweizer machte Anstalten, aufzuspringen und ihr beizustehen, aber Mark bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Zögernd kam die Frau näher und nahm den am weitesten von den beiden Männern entfernten Stuhl. Als ihr Blick auf die Briefe fiel, zuckte sie zusammen, sagte aber nichts.

»Wie fühlen Sie sich?« Mark sprach betont langsam. Sie war von selbst wieder aus ihrem Stupor erwacht, ein Zeichen, dass ihr Unterbewusstsein stärker war, als er geglaubt hatte. Das hieß auch, sie wollte sich den Erkenntnissen stellen, aber er musste trotzdem sehr vorsichtig herangehen, um sie nicht wieder zu Tode zu erschrecken.

»Es geht so.« Sie kratzte die ganze Zeit heftig den linken Unterarm, anscheinend, ohne es zu bemerken.

»Haben Sie diese Briefe mitgebracht?« Er zeigte auf die Kuverts. Maria Sandmann nickte und zog dann den Kopf zwischen die Schultern, als fürchte sie Schläge.

»Und Sie haben einen davon geöffnet?«

»Zuerst«  – sie leckte sich über die Lippen und sprach dann weiter  –, »zuerst habe ich mich nicht getraut.«

»Aber dann waren Sie doch mutig.« Wieder nickte sie und betrachtete dabei ihren linken Arm. Die Haut zeigte rote und weiße Striemen. Hautfetzen hatten sich durch das exzessive Kratzen abgelöst.

»Haben Sie alles gelesen?«

»J… ja.«

»Was denken Sie darüber?«

»Mir hat das nicht gefallen, was da steht. Dieser Matthias …, der den Brief geschrieben hat …, das ist ein schlimmer Mann.«

»Wenn der Inhalt stimmt. Vielleicht hat er sich das Ganze auch nur ausgedacht.« Mark wusste, dass zumindest ein Teil dessen wahr sein musste, denn in dem ersten Brief, den Maria Sandmann gestern mit in seiner Praxis gehabt hatte, war von einem Mann die Rede gewesen, der jetzt tatsächlich tot war. Aber das musste die Patientin jetzt noch nicht wissen. »Sie sind jedenfalls sehr tapfer.«

»Finden Sie?«

»Ganz sicher. Ich bin davon überzeugt, dass Sie den Inhalt dieser beiden Briefe richtig verstanden haben, oder?« Mark riskierte einen kurzen Blick zu Frank Schweizer, der das Ganze mit offenem Mund verfolgte. Er wollte nicht, dass sich der Mann in das, was jetzt kam, einmischte.

»Ich … glaube schon.« Jetzt klang sie wie ein kleines Mädchen, das sich in der Dunkelheit fürchtet. Mark überlegte noch einen Moment lang. Das, was er jetzt vorhatte, barg ein großes Risiko, dessen war er sich bewusst, aber es konnte auch eine heilsame Wirkung haben.

»Sie  – haben  – die  – Briefe  – verstanden.« Er machte eine kleine Pause und setzte hinzu: »Nicht wahr, Mandy?«