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Isolde Semper zog die Haustür ins Schloss, drehte den Schlüssel und rüttelte an der Klinke, um sich zu vergewissern, dass die Tür auch wirklich verschlossen war. Kater Minkus hatte sich wie eine pelzige Statue auf dem Fensterbrett des Wohnzimmerfensters drapiert. Nur seine Augen bewegten sich und beobachteten, wie sein Frauchen, die Linke fest um das Geländer geklammert, langsam die vier Stufen zur Straße hinabstieg. Sie hatte Schmerzen. Ihr Knie machte sich bei jedem Schritt bemerkbar. Sie war gerade mal vierundsechzig und fühlte sich wie achtzig. Unten angekommen, sah sie in alle Richtungen. Ihre schmalen Lippen kräuselten sich unwirsch, als aus dem benachbarten Haus eine junge Frau mit einem etwa siebenjährigen Jungen an der Hand herauskam. Die junge Mutter wühlte in ihrer Handtasche. Der Junge nutzte ihre Unaufmerksamkeit aus und streckte Isolde Semper die Zunge heraus. Im gleichen Augenblick, in dem seine Mutter den Autoschlüssel gefunden hatte, schloss der kleine Frechdachs den Mund und lächelte treuherzig, während er sich in Richtung der geparkten Autos ziehen ließ.

»Tag, Frau Semper.« Die junge Frau sah ihre Nachbarin nicht an, sondern hetzte weiter. Die gemurmelte Antwort nahm sie kaum wahr. Im Vorbeigehen fraß sich das Grinsen des Kindes förmlich in Isolde Sempers Gesicht. Sie spürte eine Ader an ihrer rechten Schläfe pochen. Ihre Augen verengten sich, während sie den beiden nachsah. Diese Kinder wurden von Jahr zu Jahr unerträglicher. In der Tasche ihrer altmodischen Jacke hatten sich die Finger wie von selbst zur Faust geballt, und sie malte sich in den glühendsten Farben aus, wie sie dem rotznäsigen Bengel Manieren beibringen würde.

Die Sonne stach herab. Isolde Semper fühlte, wie sich das Pochen in ihrem Kopf zu einem Dröhnen verdichtete. Nicht dass die Bälger früher folgsamer gewesen wären. Aber zumindest hatte man damals andere Möglichkeiten gehabt, die Gören zu disziplinieren. Sie prustete verächtlich. Antiautoritäre Erziehung, was für ein hirnloser Quatsch!

Langsam schlurfte sie vorwärts, sah, wie die junge Frau aus dem Nachbarhaus ihr Balg im Kindersitz festschnallte  – als ob das Beachten der Sicherheitsbestimmungen eine verantwortungsvolle Erziehung ausgleichen könnte  – und passierte einen schwarzen Golf mit abgedunkelten Scheiben, der in der Sonne nachtblau schimmerte. Der Peugeot mit Mutter und Sohn kurvte aus der Parklücke und fuhr davon.

Isolde Semper spürte ihre Knie bei jedem einzelnen Schritt. In ihrer Fantasie saß die Rotzgöre bei ihr am Küchentisch. Sie dachte darüber nach, wie das Balg noch hieß  – Dustin, Justin, Kevin? Dann verkniff sie sich ein Ächzen. Egal, was sie sich ausmalte, sie würde keine Gelegenheit bekommen, Dustin-Justin zu erziehen.

Vor dem Supermarkt kläffte ein struppiger Köter. Sein Besitzer hatte den Hund direkt neben den Einkaufswagen angebunden. Isolde Semper dachte an Minkus und daran, wie wenig Sorgen man doch mit einer Katze hatte. Katzen äußerten ihren Unmut nicht geräuschvoll, man musste nicht bei jeder Witterung mit ihnen Gassi gehen, sie fielen keine Leute an und nervten die Nachbarn nicht. Sie zog einen Wagen heraus und rammte im Vorbeifahren die Flanke der Töle, was diese zu einem jämmerlichen Aufheulen veranlasste. Ein schadenfrohes Grienen im Gesicht, betrat Isolde Semper den Supermarkt.

 

»Sieben, acht, neun.« Matthias Hase hielt inne und spähte über den niedrigen Gartenzaun. Von der Rückseite betrachtet sahen die Häuser alle unterschiedlich aus. Wie gut, dass er an der Straßenfront mitgezählt hatte.

Das Haus, in dem Isolde Semper wohnte, hatte im Gegensatz zu allen anderen Nachbardächern in der Magdeburger Reihenhaussiedlung graubraune statt dunkelroter Schindeln. Er schlenderte langsam weiter, scannte dabei Isolde Sempers kleinen Garten und die hohen Thuja-Hecken, die den Blick in die Nachbargärten fast vollständig abschirmten. Der Eindruck, dass die Frau, die hier wohnte, nichts mit den anderen zu tun haben wollte, verfestigte sich. Auch als Matthias sie vorhin aus dem Auto heraus beobachtet hatte, war ihm aufgefallen, dass sie anscheinend mit niemandem auskam. Der kleine Junge hatte ihr die Zunge gezeigt; seine Mutter war, ohne die Alte eines Blickes zu würdigen, an ihr vorbeigerauscht. Isolde Semper schien nicht sehr beliebt zu sein. Schlecht für sie, gut für ihn. Kein Nachbar wäre um ihr Wohlergehen besorgt. Ihr Verschwinden würde niemandem auffallen.

 

Kater Minkus, der vom Wohnzimmer in die Küche gewechselt war, betrachtete den Fremden am Gartenzaun noch einen Augenblick, dann begann er hingebungsvoll, seine rechte Pfote zu säubern. Er wusste nicht, dass der Unbekannte ihm in den kommenden Tagen eine wichtige Rolle zugedacht hatte.

Matthias Hase warf zum Abschied einen Blick auf die kleine Terrasse und spazierte davon. Das ganze Haus bestand aus festem Mauerwerk. Trotzdem würde er sich das Ganze noch von Nahem ansehen müssen, um zu entscheiden, wie hoch das Risiko war, die Walze daheim zu verarzten. Der erste Erkundungsgang war erfolgreich gewesen. Er hatte Isolde Semper gefunden und das Umfeld ausgekundschaftet. Schon bei ihrem ersten Schritt aus der Tür war ihm klar gewesen, dass sie die Richtige war. Das mürrische Gesicht mit den verquollenen Augen und ihre massige Figur ließen keinen Zweifel zu. Während die ehemalige Heimerzieherin an seinem Auto vorbeitrampelte, ertönten leises Kinderweinen und würgende Geräusche in seinem Kopf, feine Stimmchen forderten Rache. Matthias Hase beschwichtigte sich selbst. Es hatte keine Eile. Die Walze würde ihm nicht davonlaufen. Er hatte alle Zeit der Welt, und es sollte nichts schiefgehen.

Der schmale Trampelpfad hinter den Gärten führte in einem Bogen wieder auf die Straße zurück und mündete direkt neben einem Supermarkt. Ein schwarzer Hund saß mit hängendem Kopf neben den Einkaufswagen und schielte in Richtung Eingang. »Na, du Armer?« Matthias Hase schob das Geldstück in den Schlitz, zog den Karren heraus und ging in den Laden.

 

Isolde Semper trat von einem Fuß auf den anderen. Der Schweiß rann ihren Rücken hinab in den Hosenbund, und sie knöpfte die Jacke auf, um etwas Luft an den Oberkörper zu lassen. Das Mädchen vor ihr trug ein ärmelloses Top und keinen BH darunter. Über die Schultern führten lediglich zwei dünne Bändchen. Bei ihren Armen konnte sie sich das leisten. Isolde Semper unterdrückte ein wütendes Schnaufen. In ihrem rechten Knie glühte der Schmerz. An der Fleischtheke bediente nur eine einzige Verkäuferin, und die schien alle Zeit der Welt zu haben. Die zehn Minuten, die sie bereits hier anstand, kamen ihr vor wie eine Stunde. Die beiden alten Schachteln vor ihr hatten ewig gebraucht, um sich zu entscheiden. Jetzt war das Mädchen mit den Spaghettiträgern dran. Isolde Semper rückte auf und sah sich um. Im Supermarkt herrschte mittägliche Ruhe. Im rechten Gang wühlten zwei Teenager in den Sonderangeboten. An der Käsetheke nebenan wartete ein etwa vierzigjähriger Mann darauf, dass ihn jemand bediente. Er schaute herüber. Seine Augen funkelten smaragdgrün. Hinter ihm stellte sich eine schlanke Frau mit blondem Pagenkopf an. Ihr Blick folgte dem des Mannes, ehe sie sich desinteressiert umdrehte. Die Käseverkäuferin kam aus einer Schwingtür und trocknete sich die Hände am Kittel ab. Isolde Semper vermeinte, ein kurzes Grinsen aufblitzen zu sehen, bevor der Mann den Blick von ihr abwandte. Es dauerte einen Moment, bis sie realisiert hatte, dass das »Und Sie bitte?« ihr galt. Die Bedienung lächelte beflissen und entblößte dabei schiefe Zähne. Das Spaghettiträgertop-Mädchen war bereits weg.

Sie las die Posten auf ihrem Zettel vor und nahm zusätzlich noch fünfzig Gramm Hackepeter für Minkus mit.

Auf dem Weg zu den Kassen machte Isolde Semper noch am Weinregal Halt und watschelte dann langsam in Richtung Ausgang. Sie hatte keine Ahnung, dass sie nicht mehr dazu kommen würde, die vier Flaschen Merlot zu leeren.