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»Kommen Sie bitte rauf, zweiter Stock.«
Tom las den Text auf dem Schild und drückte gleichzeitig den Knauf. Leißmann GmbH – Baudienstleistungen, Schnell-sauberflexibel. Der Türöffner summte. Er nahm die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal, und sah dabei Isabells festen kleinen Hintern vor sich. Seine Zungenspitze kam herausgekrochen und leckte die Oberlippe. Das kleine Luder würde ihm leider nicht ewig Freude bereiten. Als ihr Journalistikstudium abgelehnt worden war, hatte Isabell beschlossen, es erst einmal mit einem Praktikum bei einer Tageszeitung zu versuchen. Nach einer dreimonatigen Verlängerung endete dies nun in drei Wochen endgültig. Tom war gewillt, die Galgenfrist weidlich auszunutzen. Die Kleine war ein scharfer Feger. Wenn sie weg war, herrschte wieder Ebbe auf dem Frischfleischmarkt. Bis zur nächsten.
Er war im zweiten Stock angekommen, sah sich um und kontrollierte dabei seine Atmung. Sie ging nur unmerklich schneller. Der gute Tom Fränkel war super in Form.
»Guten Morgen.« Die Glastür quietschte beim Schließen. Eine Sekretärin mit Vogelnestfrisur sah ihn über ihre Halbbrille hinweg an. »Sie sind der Herr von der Tagespresse?«
»Genau. Tom Fränkel.« Er ging direkt auf die ältliche Frau zu, sein Herzensbrecherlächeln im Gesicht, und reichte ihr die Hand. »Ich hatte angerufen.«
»Sie wollten den Chef sprechen.« Das Vogelnest wippte. »Da haben Sie aber Glück, dass Herr Franz noch da ist!« Tom unterdrückte den aufwallenden Ärger. Er hatte sich doch nicht umsonst gestern noch angemeldet. Die Sekretärin beugte sich über die Wechselsprechanlage und flötete »Herr Fränkel von der Tagespresse für Sie« hinein. Ein metallicblau lackierter Fingernagel deutete nach links. »Gehen Sie rein.«
Die Kamera klickte wie ein mechanisches Modell. Es würde nicht mehr lange dauern, und von den in der DDR als moderne Architektur gerühmten Neubaublocks wäre nur noch ein grauer Bodensatz übrig. Metallenen Riesenkraken gleich hakelten Bagger in den Resten der Betonmauern herum. Schmutzfahnen wehten über das Trümmerfeld. Laster mit übergroßen Rädern kurvten beladen davon. Tom ignorierte die Verbotsschilder und marschierte auf das Gelände. Ein hünenhafter Gelbbehelmter eilte herbei und fuchtelte Abwehrbewegungen. In Rufweite begann er zu dröhnen: »Halt, Halt! Sie dürfen hier nicht rein! Das ist gefährlich!«
Das musste Fred Möllek sein. »Sie können ihn gar nicht verfehlen«, hatte der Chef der Abbruchfirma gesagt, »er ist der Einzige, der zwei Meter groß ist.« Tom lächelte beschwichtigend und blieb stehen, bis der Bauarbeiter heran war.
»Guten Tag, Herr Möllek. Tom Fränkel von der Tagespresse.« Ein ehrlich aussehendes Lächeln, ein ausgestreckter Arm, die Handfläche leicht nach oben gekehrt. Es funktionierte. In Fred Mölleks Gesicht glätteten sich die Falten, er zog den rechten Handschuh aus und ergriff die dargebotene Hand. Tom ließ ihn gar nicht nachdenken, sondern setzte gleich fort. »Ich habe eben mit Ihrem Chef gesprochen. Er sagte mir, dass Sie gestern Früh die Leiche entdeckt hätten.«
»Ja?«
»Ich hätte dazu ein paar Fragen.« Toms Mundwinkel taten langsam weh vom vielen Grinsen. Und seine Finger fühlten sich an, als seien sie gebrochen, so derb hatte der Mann seine Hand beim Schütteln gequetscht.
»Hm.« Fred Möllek war nicht gerade gesprächig. Jetzt kratzte er sich unter dem Helm.
»Es dauert nicht lange.«
»Na gut.«
»Das ist super.« Tom grinste noch ein bisschen breiter und suchte in seiner Tasche nach dem Diktiergerät.
»Nicht jetzt sofort.« Der Bauarbeiter hatte sich schon halb abgewandt. »Wir machen in einer Viertelstunde Frühstück. Da drüben.« Er zeigte auf einen Bauwagen, und Tom beeilte sich zu nicken.
»Warten Sie hier.« Fred Möllek stampfte davon.
»Natürlich!« Tom sah dem Mann nach. Sein Rücken war breiter als der eines Gorillas.
»Beschreiben Sie doch bitte einmal Schritt für Schritt, wie Sie die Leiche entdeckt haben.« Tom sah einen nach dem anderen an, um ihnen das Gefühl zu geben, er nehme sie ernst. Das Diktiergerät lag neben der Thermoskanne auf dem Tisch. Er würde nicht in ihre Schilderungen eingreifen. An schlagkräftigen Formulierungen konnte er später feilen.
Der Dicke neben Fred Möllek legte sein angebissenes Brot beiseite, schnaufte und schluckte, ehe er zu einer längeren Erklärung ansetzte. Die anderen nickten ab und an zu seinen Worten, sagten aber nichts. Erst als er dazu kam, wie sie zu viert vor der halboffenen Wohnungstür gestanden hatten, deutete er auf seinen Kollegen; einen dünnen, großen Mann mit sehnigen Unterarmen: »Holger und Fred sind dann reingegangen.«
»Erzählen Sie, was danach passierte.« Tom wandte sich dem Dünnen zu, und dieser begann zu sprechen, wobei er die ganze Zeit auf die Tischplatte schaute, als sähe er dort die Geschehnisse noch einmal ablaufen. Fred Möllek hielt sich zurück. Wahrscheinlich redete er nicht gern.
»Die Wohnungstür war offen. Das ist nichts Besonderes. Die sind immer auf, wenn die Mieter alle raus sind, damit die Firmen rein- und rauskönnen.« Er hielt kurz inne. »Ich bin in den Wohnungsflur gegangen. Der Mief war kaum zum Aushalten. Es kam aus dem Bad. Da kamen auch die Fliegen her. Massenhaft Fliegen. Ich habe dann um die Ecke geschaut.« Der Bauarbeiter schluckte wieder. Er würde dem Pressemann nicht auf die Nase binden, dass er draußen den Flur vollgekotzt hatte.
»Was haben Sie im Bad gesehen?« Tom schob den Kopf nach vorn, um kein Wort zu verpassen.
»In der Badewanne lag etwas.«
»Etwas?«
»Nun, für mich sah es aus wie ein menschlicher Körper. So richtig hat man das nicht erkennen können, weil unheimlich viele Fliegen darauf waren. Das hat gewimmelt und gesummt, dazu dieser Verwesungsgeruch – widerlich!«
Fred Möllek nickte bedächtig. Er hatte nichts hinzuzufügen. Neben ihm schlürfte der kleine Dicke seinen Kaffee.
»War in der Badewanne Wasser?«
»Nein, natürlich nicht.« Holger machte ein ungläubiges Gesicht. Der Pressefuzzi hatte keine Ahnung von den Abläufen. »Die Versorgungsleitungen werden lange vorher abgestellt. Alles – Strom, Wasser, Gas.«
»Ah, ja. Das wusste ich nicht.« Tom hatte kein Problem, sein Unwissen einzugestehen. »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Irgendwelche Dinge, die dort nicht hingehörten?«
»Nicht dass ich wüsste.« Holger kratzte sich hinter dem Ohr und setzte hinzu: »Nein. Da war nichts.«
Wieder nickte Fred Möllek zu den Worten seines Kollegen. Dann trank er seinen Kaffee aus und sah auf die Uhr. »Die Pause ist vorbei, Männer.« Stuhlbeine scharrten.
»Könnte ich bitte noch Ihre Namen haben?« Tom nahm das Diktiergerät vom Tisch und richtete es nacheinander auf die vier Bauarbeiter. Holger hieß mit Nachnamen Schmalmann – wie passend. Der Typ links von ihm hatte kein einziges Wort gesagt.
»Darf ich Sie in meinem Artikel zitieren?« Fred Möllek und Holger Schmalmann sahen sich an. Holger antwortete zuerst. »Von mir aus. Wann erscheint denn der Bericht?«
»Der erste Teil sicher schon morgen. Je nach Fortschritt der Ermittlungen und danach, welche Informationen ich bekomme, werden vermutlich noch einige Artikel folgen. Wenn Ihnen also noch etwas einfällt – Details, Kleinigkeiten, alles ist von Bedeutung –, dann rufen Sie mich bitte an.«
»Machen wir.« Möllek steckte die Visitenkarte achtlos in die Brusttasche seines Blaumannes und stapfte ohne ein Wort davon. Seine Kollegen taten es ihm nach. Tom sah ihnen noch ein paar Sekunden nach.
Am Auto schaute er auf die Uhr. Es war erst kurz nach zehn. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit, um ein bisschen herumzufragen und bei der Pressestelle der Kripo anzurufen. Inzwischen musste der Rechtsmediziner die Leiche obduziert haben. Die Frage war nur, ob man ihm Auskunft geben würde. Wahrscheinlich eher nicht, aber Tom würde den Leuten gehörig auf die Nerven gehen. Er musterte, den Arm lässig auf dem Autodach, die triste Umgebung. Da fiel ihm eine ältere Dame mit Rollator und Einkaufstüte auf. Vielleicht wohnte sie in der Gegend? »Hallo, junge Frau!«
Die Angesprochene drehte sich fragend um. Es war nirgends eine »junge Frau« zu sehen. Meinte der Mann mit den Strubbelhaaren da drüben etwa sie?
»Ja, Sie! Ich möchte Sie etwas fragen!« Er kam näher. »Wohnen Sie hier in der Nähe?« Die alte Dame nickte würdevoll.
»Ich bin von der Zeitung.« Tom sah, wie die Augen der Alten aufblitzten. Dann straffte sie sich. »Was wollen Sie denn wissen?«
Er lächelte sein Charmeurlächeln und zückte das Diktiergerät.
Mark Grünthal schrieb die Medikation in die Patientenakte und sah dann hoch. Die junge Frau neben seinem Schreibtisch saß auf der Stuhlkante, den Rücken durchgedrückt, die Hände im Schoß verkrampft. An ihren hochgezogenen Schultern konnte er sehen, dass sie noch immer Angst hatte, auch wenn sie dies vehement leugnete.
»Wir versuchen es zuerst mit einem sanften Mittel, um nicht gleich mit der chemischen Keule zu arbeiten. Gleichzeitig beginnen wir mit einer Gesprächstherapie.« Damit war sie nicht einverstanden, nickte aber.
»Hier ist Ihr Rezept, Frau Berg. Meine Sprechstundenhilfe füllt es draußen noch aus.« Mark reichte den rosa Zettel über den Tisch. »Sie nehmen zuerst eine Woche lang jeden Tag morgens und abends eine viertel Tablette, dann jeweils eine halbe und ab der dritten Woche dann eine ganze. Nicht mehr!« Er sah sie an, und sie wandte den Blick ab und murmelte etwas, das wie »Okay« klang.
»Erwarten Sie nicht sofort eine Besserung. Wir schleichen uns sozusagen in die Medikation hinein.« Frau Berg reagierte nicht, sondern starrte zu Boden.
»Vorher sehen wir uns aber noch. Ich schlage vor, Sie kommen in der Anfangszeit zweimal die Woche.« Mark registrierte, dass die Patientin die Schultern noch etwas höher zog, und fragte sich, ob sie zur nächsten Sprechstunde überhaupt erscheinen würde. Aber schließlich war sie von sich aus zum Psychotherapeuten gekommen und hatte Hilfe gesucht.
»Vereinbaren Sie die Termine mit der Schwester.« Er erhob sich, ging voran und öffnete die Doppeltür. »Auf Wiedersehen, Frau Berg.« Ihr Händedruck war schlaff.
Mark Grünthal schloss die Tür und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Das war die letzte Patientin für heute gewesen. Mittwochs war sein »Familientag« und die Praxis hatte nur bis sechzehn Uhr geöffnet.
Das Klingeln des Telefons ertönte im gleichen Augenblick, in dem er sich auf seinen Drehstuhl fallen ließ. Mark betrachtete kurz das Display und hob dann ab.
»Hallo, Mark, ich bin’s!« Laras Stimme klang heller als sonst.
»Das habe ich schon an der Nummer gesehen.« Er grinste.
»Ich wollte mich mal wieder melden.«
Na klar. Und du hast auch bestimmt nichts auf dem Herzen. Mark grinste stärker.
»Wie geht es euch?«
»Bei uns ist alles in Ordnung. Joanna kann es kaum erwarten, in die zweite Klasse zu kommen, und Franz wünscht sich, dass die Sommerferien ewig dauern mögen. Aber mit sechzehn ist die Vorfreude auf das kommende Schuljahr wohl eher gering.« Er lachte sein gackerndes Lachen.
»Und Anna?«
»Anna kümmert sich um Haus und Garten, fährt Franz zum Tennis und Joanna zum Schwimmen, kauft ein, kocht, malt ihre Bilder. Also alles wie immer. Und bei dir?« Mark wusste, dass der Smalltalk zuerst abgearbeitet werden musste, ehe Lara zu ihrem Anliegen kommen würde, also tat er ihr den Gefallen. Nach Laras Ansicht gehörte es sich nämlich nicht, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Mir geht’s auch gut. Wir haben hier unheimlich viel zu tun, aber das ist ja nichts Neues. Mein Hausarzt ist der Meinung, dass ich ab und zu an Unterzuckerung leide, aber das ist auch nichts Neues.« Von ihren einsamen Abenden und Wochenenden erzählte sie Mark nichts.
»Du musst mehr komplexe Kohlenhydrate essen. Vollkornprodukte, Gemüse, Getreide, Hülsenfrüchte. Die werden nur langsam aufgespalten und halten den Blutzucker immer schön konstant.«
»Das hat mir mein Arzt auch gesagt.« Lara schnitt eine Grimasse. »Ich hätte ein paar Fragen an dich. Hast du fünf Minuten Zeit?«
Die gute Seele seiner Praxis, Sprechstundenhilfe Annemarie, steckte den Kopf zur Tür herein, und Mark machte ihr ein Zeichen, dass er gleich fertig sein würde. »Wenn es nicht so lange dauert? Mittwoch ist unser Familientag, und ich darf mich nicht verspäten, sonst gibt es Ärger.« Er versuchte, es fröhlich klingen zu lassen, um dem Satz die Schärfe zu nehmen.
»Danke. Ich werde mich kurz fassen.«
Die nächsten Minuten hörte Mark zu, wie Lara ihm von der Leiche im Plattenbaublock berichtete. Sie hatte kaum Details, nur die offensichtlichen Tatsachen. Aus der Ferne konnte er gar nichts dazu sagen. Es wären reine Spekulationen gewesen. Er gab ihr ein paar Tipps, wonach sie die Kripo fragen könnte, verabschiedete sich mit dem Versprechen, ihr in den nächsten Tagen mit seinem Fachwissen zur Verfügung zu stehen, und legte dann auf.
Er hatte seit über einem Jahr nicht mehr für die Kriminalpolizei gearbeitet. Nicht dass ihm die Fallanalyse fehlte, er hatte genug mit seinen Patienten zu tun, aber etwas merkwürdig war es schon. Wahrscheinlich bevorzugten sie mittlerweile ihre eigenen Leute, Kriminalpolizisten des Bundeskriminalamtes oder der Landeskriminalämter, die nach ihrer Polizeiausbildung noch Psychologie studiert hatten. Ihm dagegen fehlte diese gewisse Zugehörigkeit. Vielleicht war das der Grund, dass sie seine Fachkenntnisse verschmähten. Vielleicht trauten sie ihm aber auch einfach nicht genug Verschwiegenheit zu? Schließlich war er mit einer Journalistin befreundet. Den Verdacht, im Falle des Serienmörders Mühlmann, der sich selbst »Doktor Nex« genannt hatte, Insiderinformationen an die Presse weitergegeben zu haben, war Mark Grünthal nie ganz losgeworden.
Annemarie öffnete erneut die Tür und kam herein, als sie sah, dass er das Telefonat beendet hatte. Sie wuselte hin und her und murmelte dabei Anweisungen an sich selbst, was für Donnerstag alles vorbereitet werden musste.
Mark betrachtete das Foto seiner Familie auf dem Schreibtisch und erhob sich. Es war höchste Zeit aufzubrechen. Mittwochs gingen sie immer essen, und jedes Mal durfte sich ein anderes Familienmitglied aussuchen, wohin es gehen sollte. Zum Glück für ihn und Anna war heute sein »Wunschtag«. Bei den Kindern lief es nämlich immer auf Burger King oder McDonald’s hinaus. Heute würde es thailändisches Essen geben.
Mark blinzelte dem Foto zu, verstaute seine Utensilien in der Aktentasche und verließ die Praxis.
Lara schaltete das Handy auf »Stumm«, damit es beim bevorstehenden Gespräch mit Kriminalobermeister Schädlich nicht störte, und steckte es in die hintere Hosentasche. Dann sah sie sich nach einer Bedienung um.
Das war ja nicht gerade sehr ergiebig gewesen. Aber Mark hatte recht. Ohne konkrete Informationen zum Leichenfundort, zur Auffindesituation oder zum Tathergang – wie sie dieses Polizeideutsch hasste – konnte er natürlich keine Aussagen über psychologische Hintergründe machen. Das war ihr eigentlich schon vor dem Telefonat bewusst gewesen. Im Grunde hatte sie ihn nur darauf vorbereiten wollen, dass er in den nächsten Tagen weitere diesbezügliche Anrufe von ihr erhalten würde.
Das Lindencafé war gut besucht. Bei schönem Wetter wimmelte es in dem Gartenlokal von Familien mit Kindern, Bier trinkenden Studenten und älteren Damen mit Hündchen. Es lag verkehrsgünstig, am Rande des Clara-Zetkin-Parks, der von den Einheimischen nur »Clara-Park« genannt wurde, hatte moderate Preise und einen überdachten Bereich, in dem man es auch bei Regen aushielt.
Lara hatte sich einen Platz abseits des Trubels im hinteren Bereich gesucht, der von der Straße aus nicht einsehbar war. An den Seiten bildeten von Buchenhecken umwachsene Nischen natürliche Séparées.
Während sie noch ein paar Spatzen beobachtete, die sich laut um eine heruntergefallene Scheibe Brot stritten, eilte der Kellner herbei. Kies knirschte unter seinen Schritten. Zwanzig Meter hinter ihm tappte Schädlich, sein bulliger Kopf schwenkte von rechts nach links. Jetzt hatte er sie entdeckt, und ein Leuchten überzog sein Gesicht. Bei diesem Anblick fühlte Lara sich für einen Moment unbehaglich. Sie fragte sich, was der Kriminalobermeister von dem Treffen erwartete.
Schimpfend flog die Spatzenschar auf, nur um sich gleich darauf wieder niederzulassen.
Lara bestellte sich einen Kaffee. Schädlich nahm ein Schwarzbier. Der Kellner huschte davon. Unbehagliches Schweigen schien sich wie eine dunkle Wolke über den Tisch zu senken. Der Polizeibeamte verknotete seine Finger und löste sie wieder voneinander. Dabei sah er Lara nicht an. Sie beschloss, dem albernen Tun ein Ende zu bereiten. Das war hier kein Date, und sie beide keine schüchternen Teenager mehr, die nicht wussten, was sie miteinander anfangen sollten.
»Schön, dass Sie kommen konnten.«
»Ich hoffe, mich sieht hier keiner.« Jetzt blickte er auf. Seine Augen waren von einem intensiven Grau.
»Das glaube ich nicht. Andererseits – was sollte schon dabei sein?«
»Sie sind von der Presse.«
»Ich werde nichts schreiben, was man mit Ihnen in Verbindung bringen könnte. Sehen Sie es einfach als ein formloses Treffen an.« Die Getränke kamen, und Lara wartete, bis der Kellner wieder verschwunden war, ehe sie fortsetzte: »Außerdem ist mein Kollege für die Berichterstattung im Fall dieser Plattenbauleiche zuständig, nicht ich.« Hoffentlich nicht auf Dauer, aber das brauchte Schädlich ja nicht zu wissen.
»Aha.«
»Unabhängig davon interessieren mich schon ein paar Dinge aus beruflicher Neugier, wie Sie sich bestimmt vorstellen können. Ich verspreche Ihnen, ich werde nichts notieren, und niemand wird erfahren, dass wir miteinander über diesen Fall geredet haben.« Dass in der Zigarettenschachtel, die plakativ auf dem Tisch lag, ein eingeschaltetes Diktiergerät lief, verriet Lara nicht. Sie hatten alle ihre Berufsgeheimnisse. Und der Kripomann war mit Sicherheit entspannter, wenn er das Gefühl hatte, dass sie nichts aufzeichnete.
»Na dann.« Schädlich ließ die Schultern herabsacken, hob sein Bierglas und prostete ihr zu. »Ich darf eh keine Interna ausplaudern. Nur das, was sowieso offiziell bekanntgegeben wird.«
»Das ist doch in Ordnung. Wir sind ja auch nicht hier, um nur über die Arbeit zu sprechen.« Lara schaute in die grauen Augen, lächelte und fühlte sich mies dabei. Sie schlug die Speisekarte auf, überflog die aufgeführten Snacks und bemühte sich, ihre Fragen beiläufig klingen zu lassen.
»Die Leiche war doch männlich, nicht?« Aus den Augenwinkeln sah sie Schädlich nicken.
»Und ist denn mittlerweile sicher, dass es sich um ein Tötungsdelikt und nicht um Selbstmord handelt?« Dass der Tote ein Obdachloser war, der sich zum Schlafen in die Badewanne eines Abbruchhauses gelegt hatte und dort verstorben war, schloss Lara von vornherein aus.
»Es war weder ein Unfall noch Suizid.« Damit hatte Schädlich die Antwort geschickt umgangen.
»Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?«
»Wer, ich?« Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm bewusst wurde, dass Lara nur ihn gemeint haben konnte. »Ralf.«
»Schön.« Lara fixierte die Spalte mit den Nachspeisen. Sie hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Das war gut, würde aber nicht lange anhalten, also setzte sie schnell hinzu: »Was sagt denn der Obduktionsbericht?«
»Dass er ertränkt wurde.« Ralf Schädlichs Hand zuckte zum Mund und senkte sich dann wieder. Jetzt sah er schuldbewusst aus.
»In dieser Badewanne, in der die Leiche gefunden wurde?«
»Das nehme ich an. Ich hätte Ihnen das gar nicht sagen dürfen.« Lara konnte förmlich zusehen, wie sich das breite Gesicht des Polizisten verschloss.
»Ich behalte es für mich, habe ich doch versprochen.« Sie hielt nach dem Kellner Ausschau. Damit hatte sich das Treffen schon gelohnt. Mit dieser Information konnte Mark sicher etwas anfangen.
»Lassen Sie uns von etwas anderem reden. Der Tag ist so schön, und wir sprechen über Leichen.« Sie hatten zwar nicht wirklich viel gesprochen, aber Lara wollte ihm das Gefühl geben, es sei eine ganz normale Unterhaltung gewesen. »Essen Sie auch eine Kleinigkeit?« Das bullige Gesicht hellte sich wieder auf, und Ralf Schädlich nickte.
»Das machen wir mal wieder.« Lara marschierte vorneweg und hoffte, der Kies würde keine Kratzer an ihren Absätzen hinterlassen.
Ralf Schädlich murmelte ein »Gern« und folgte ihr, den Blick auf Laras Beine gerichtet. Sie trug dunkelgrüne Schuhe. Zwischen den Steinchen lagen Zigarettenstummel. Welche Schmutzfinken warfen denn ihre aufgerauchten Kippen einfach auf den Boden, wenn auf jedem Tisch ein Aschenbecher stand? Lara Birkenfeld dagegen hatte die ganze Zeit nicht eine einzige Zigarette geraucht.
Sie waren auf dem Parkplatz angekommen. Laras gelber Mini Cooper leuchtete in der Abendsonne.
»Das war nett. Bis bald.« Sie streckte die Hand aus. In Gedanken war sie schon bei den Einkäufen, die sie auf dem Heimweg erledigen wollte.
Ralf Schädlich stieg in sein Auto und brauste davon. Lara sah ihm nach und atmete dann tief durch. Hoffentlich bildete sich der Mann jetzt nichts ein. Was für eine Schnapsidee das Treffen gewesen war! Sie war für solcherart »Recherchen« einfach nicht geschaffen. Am Ende hatte sie nichts von Belang erfahren, außer der Tatsache, dass der unbekannte Mann ertränkt worden war. Tom hätte sich damit garantiert nicht zufriedengegeben oder sich gar mit derartigen Skrupeln geplagt.
Im Auto nahm sie das Diktiergerät aus der Zigarettenschachtel und schaltete die Aufnahme ab. Ihr Finger verharrte über der »Löschen«-Taste. Dann legte sie das Gerät vorsichtig auf den Beifahrersitz. Vielleicht hatte Mark noch Hinweise zu dem Gesagten. Sie schnallte sich an und fuhr los.
»Los, iss!« Die Stimme kam von hinten, und sie klang drohend. »Mach schon!« Ein Klatschen folgte. Lara bremste unwillkürlich. Beim Blick in den Rückspiegel sah sie ihr Gesicht. Zwischen den Augenbrauen standen zwei senkrechte Falten. Die Rückbank war leer. Wie konnte es auch anders sein. Sie hatte eingekauft und war jetzt auf dem Weg nach Hause – allein. Niemand begleitete sie. Hinter ihr hupte ein ungeduldiger Fahrer, und sie bog in eine Bushaltestelle ein und hielt an.
»Du sollst das essen!« Ein schärferes Klatschen folgte. »Hab dich nicht so!« Jetzt drehte Lara sich um und sah hinter die Sitze. Da war nichts. Und doch waren die Kommandos direkt hinter ihrem Rücken gewesen.
Wie ein schizophrener Patient hörte sie Stimmen, die ihr Befehle erteilten. Das hatte ihr noch gefehlt. Davon einmal abgesehen, dass sich nichts Essbares in ihrer Nähe befand.
Es dauerte einige Sekunden, ehe Lara klar wurde, dass das eben kein Anzeichen einer Geisteskrankheit gewesen war. Ihre »Gabe« war zurückgekehrt.