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Donnerstag, der 06.08.
Liebe Mandy,
nun haben wir schon August. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Ich komme gut voran.
Inzwischen weiß ich auch, dass es keine Alternative zu meiner Methode gibt, denn Sebastian Wallau hat mir von einem Gerichtsverfahren gegen ehemalige Erzieher aus einem Kinderheim in Meerane (ganz in unserer Nähe – gruselig, nicht?) berichtet. Obwohl es mehrere Zeugen für Missbrauch und körperliche Misshandlungen gab, wurde der erste Prozess wegen Verjährung eingestellt, und in der Berufung bekamen einige der Täter lediglich geringfügige Geldstrafen. Manche arbeiteten sogar weiter in diesem Heim, und einer von ihnen war zehn Jahre lang stellvertretender Bürgermeister!
Du bist bestimmt genauso empört wie ich, meine Kleine. Ich denke aber, da steckt Methode dahinter. Sicher kannst Du Dir vorstellen, was in unserem Fall geschehen würde, falls wir die Verbrecher anzeigten. Auch sie kämen mit einem blauen Auge davon, wenn es überhaupt zu einer Verurteilung reichen würde. Weil für solche Leute eine Geldbuße eine viel zu geringe Strafe wäre, müssen sie außerhalb der Gesetzlichkeit bestraft werden, da stimmst Du mir doch sicher zu, nicht?
Und wenn alles vorbei ist, wenn ich alle gefunden habe, können wir uns endlich in die Arme schließen und werden Ruhe finden. Wir und all die anderen Kinder aus dem Heim »Ernst Thälmann«.
Nun aber zu den neuesten Ereignissen!
Im letzten Brief hatte ich Dir ja schon geschrieben, dass die Sagorski mir den Namen ihres Vorgängers verraten hat: Rainer Grünkern. Zuerst konnte ich mich gar nicht an ihn erinnern, obwohl dieser Mann viele Jahre als Heimleiter tätig gewesen war, auch in unserer Zeit. Mein Unterbewusstsein hatte alles fein säuberlich verdrängt. Aber so einfach lässt sich ein Matthias Hase nicht abspeisen! Ähnliche Vorfälle in einem Kinderheim auf Jersey haben meinem Unterbewusstsein auf die Sprünge geholfen.
Grünkern war ein pädophiles Schwein. Nachdem ich ihm ein bisschen Beine gemacht hatte, ist er mit der Sprache herausgerückt. Ich möchte die unsäglichen Dinge nicht wiederholen, die er den Kindern – bevorzugt kleinen Mädchen, wie Du eines warst – angetan hat. Vielleicht ist Dein Gehirn gnädig und erspart Dir die schändlichen Bilder. Lass sie im Verborgenen ruhen! Es ist nicht gut für die Psyche, wenn man alles hervorzwingt.
Rainer Grünkern wird jedenfalls nie wieder einem kleinen Kind Unheil zufügen. Er hat gebüßt, und das nicht wenig. Es war auch höchste Zeit, ihm den Garaus zu machen. Dieses Monstrum hat auch als Rentner nicht von seinen abscheulichen Neigungen gelassen. Er besaß hunderte von Kinderpornos und war im Internet in einschlägigen Foren und Chatrooms aktiv. In mir steigt sofort wieder die Wut auf, wenn ich daran denke, was dieses Scheusal Tag für Tag in seinem abgeschotteten Schlafzimmer getan hat.
Man hat die Leiche schon gefunden, stell Dir vor! Ich muss die Wohnungstür offen gelassen haben. Aber das macht nichts. Die Polizei wird inzwischen seinen Computer durchsucht und seine Internetaktivitäten entdeckt haben. Es wimmelt dort nur so von Motiven für einen Mord an Rainer Grünkern.
Ich arbeite mehrgleisig weiter. Über Sebastian Wallau bekomme ich Kontakt zu anderen Heimkindern. Wir erstellen gemeinsam eine Beweisliste mit Namen und Taten. Dabei muss ich mich ein bisschen in Acht nehmen. Es darf nicht herauskommen, dass schon vier der Verbrecher von damals in kurzer Folge nacheinander getötet wurden. Aber soweit ich recherchiert habe, hat die Polizei die Fälle ja auch noch nicht miteinander verknüpft. Wenn wir Glück haben, dauert das auch noch ein bisschen.
Mein dringlichstes Vorhaben ist die Suche nach meiner/unserer Akte.
Bis jetzt habe ich herausbekommen, dass Dokumente über jedes Kind in den Heimen selbst angelegt und bis zu fünfzehn Jahre nach Ausscheiden aufbewahrt wurden. Manchmal wurden sie dann vernichtet, manchmal auch nicht. Auch die Jugendämter haben Akten geführt. Entweder wurden sie dort gelagert oder aber in die Landesarchive gebracht. Dass die Wende dazwischenkam, ist für unsere Vorhaben schlecht.
In den Wirren dieser Zeit ging vieles an Information verloren. Mit Sicherheit hatten auch unsere Erzieher ein Interesse daran, die Aufzeichnungen verschwinden zu lassen. Aber ich will es zumindest versuchen. Vielleicht ist mir das Glück hold. Ich muss also heute zuerst zum zuständigen Jugendamt fahren, und wenn ich dort nichts finde, zum Landesarchiv. Ich nehme an, dass die Kinderheimakten in Chemnitz lagern, aber genau weiß ich es nicht. Das wird man mir aber bestimmt beim Jugendamt sagen.
Du siehst, meine liebe Mandy – es gibt unheimlich viel zu erledigen. Deshalb beende ich hier meinen Brief mit dem Versprechen, Dich auf dem Laufenden zu halten.
Bis bald!
In Liebe,
Dein Bruder
Matthias Hase faltete den Brief sorgsam und klappte die Schatulle auf. Die Schreiben an Mandy häuften sich allmählich. Liebevoll strichen seine Fingerspitzen über das Papier, während er versunken lächelte. Dann drückte er den Deckel des Holzkästchens zu und gähnte. Er war heute sehr früh aufgestanden. Inzwischen war es kurz vor halb acht, und er wollte vor seiner Fahrt noch duschen und Kaffee trinken. Er gähnte noch einmal und erhob sich. An die Arbeit!
Matthias parkte seinen Golf am Straßenrand, schloss die Augen und dachte nach. Er wusste genau, wo er war. Etwas hatte ihn vom Weg abgebracht. Ein unerbittlicher Zwang hatte seinen Körper genötigt, das Auto hierherzulenken. Jetzt sollte er aussteigen und sich dem Anblick stellen, aber er brauchte noch einen Moment. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und verdunkelte die Straße. Matthias fröstelte. Am liebsten wäre er wieder davongebraust, hätte das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten und wäre um die nächste Ecke gerast, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Nicht, bevor er sich umgesehen hatte. Mit einem Ruck öffnete er die Augen und betrachtete die Umgebung.
Sein Auto stand in einer alleeähnlichen Straße. Mächtige Kastanien säumten die breiten Gehwege. Hinter dunklen Mauern protzten Villen, manche restauriert, manche noch im grau-bröckeligen Originalzustand ihres DDR-Daseins. Das Anwesen, vor dem er parkte, war noch nicht wieder hergerichtet worden. Düster blickten die nackten Fenster in den verwilderten Garten. Matthias musste sie nicht zählen. Er wusste, dass es im Erdgeschoss sieben waren, darüber noch einmal sieben, von denen die drei mittleren auf einen Balkon mit Eisengeländer hinausführten. Im Dachgeschoss überragte ein griechisch anmutender Giebel drei der gläsernen Augen. Im Licht der Vormittagssonne wirkte das Haus hinter der Natursteinmauer weniger düster, als er es in Erinnerung hatte. Nichts erinnerte an die schrecklichen Dinge, die hinter dem eisernen Tor passiert waren. Von Weitem betrachtet, war es einfach nur eine leerstehende Villa in einem parkähnlichen Grundstück, dem Verfall preisgegeben, wenn sich nicht jemand fand, der das Gebäude sanierte.
In der abgelegenen Straße war es still. Man konnte den Eindruck gewinnen, sich fernab jeglicher Zivilisation zu befinden. Matthias schloss die Augen wieder und horchte in sich hinein. In seinem Kopf herrschte gläserne Leere. Er konnte sich nicht entscheiden auszusteigen, und so blieb er einfach sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf an die Nackenstütze gelehnt. Ganz weit entfernt erklang ein Kinderlied, gesungen von einem feinen Stimmchen. Dann weinte ein kleines Mädchen, fast unhörbar.
Ein Poltern ließ Matthias die Augen aufreißen. Er stand direkt vor dem Seiteneingang des ehemaligen Kinderheimes, die Rechte um das Geländer gekrallt, den Fuß erhoben, um ihn auf die erste Stufe zu setzen. Neben ihm lag ein Brett, an das er wohl gestoßen sein musste und das beim Umfallen den Krach verursacht hatte. Vorsichtig sah er in Richtung Straße. Das Tor war verschlossen, die Mauer versperrte die Sicht auf Fußweg und Autos. Wie war er über den Zaun gekommen? Ein Blick auf seine Jeans zeigte ihm, dass er wohl darübergeklettert sein musste. Die Knie waren mit hellem Staub und schmierigem Algengrün beschmutzt. Die Handflächen zeigten die gleichen Flecken. Er war über die Mauer gestiegen, und jetzt hatte er vor, wie ein Einbrecher in dieses Haus einzudringen.
Bedächtig stieg Matthias die drei Stufen nach oben und betrachtete die zweiflügelige Holztür. Die beiden Glasscheiben im oberen Bereich waren von innen mit Brettern vernagelt. Wie von selbst fanden seine Finger die Klinke und drückten sie nieder, aber die Tür gab nicht nach. Wie hätte es auch anders sein können. Dieses Haus stand seit Jahren leer. Man hatte es gesichert, vor Vandalismus, Einbrechern, Pennern und Tieren, die einen Unterschlupf suchten. Auf dem steinernen Podest stand man wie auf dem Präsentierteller. Aber es gab noch andere Möglichkeiten. Er kannte dieses Haus in- und auswendig und würde hineingelangen, egal welche Barrieren dies zu verhindern suchten.
Was willst du denn da drin?, wisperte ein Stimmchen in ihm.
»Mich erinnern! Ich will mich endlich an alles erinnern. Stör mich nicht.«
Schritt für Schritt ging Matthias wieder nach unten und tastete sich wie in Trance um das Gebäude herum. Im Garten wiegten sich die alten Bäume und schüttelten leise ihr Laub. Grüngefiltert flimmerte Sonnenlicht durch das Blattwerk.
An der Rückseite gab es ein Zimmer mit einer in den Garten hinausgebauten Veranda, in dem der jeweilige Heimleiter residiert hatte. Das Grundstück im hinteren Bereich war riesig und verwildert. Danach kam nur noch ein kleiner Hang, dann Wald. Keine weiteren Häuser, keine Straße. Niemand würde ihn sehen können, wenn er eine Scheibe einschlug, um in das Haus zu gelangen.
Matthias bog um die Ecke und erstarrte. Die Veranda war verschwunden. Man hatte sie abgerissen und die Öffnung zugemauert. Stattdessen fand er nun einen betonierten Platz vor und auf der anderen Seite einen zweistöckigen Anbau mit zehn Fenstern auf jeder Etage, der zu seiner Zeit noch nicht existiert hatte. Das alte Heizhaus war durch einen Neubau ersetzt worden. Er stützte sich an der Wand ab und überdachte die neue Situation. Den Anbau und die neuen Funktionsgebäude konnte er vergessen. Da sie zu seiner Zeit noch nicht da gewesen waren, würde es hier auch keine Erinnerungen an früher geben. Für ihn waren nur das Hauptgebäude und das Pförtnerhaus relevant. Der Begriff »Pförtnerhaus« rief schlierige Verwirbelungen in seinem Kopf hervor, und Matthias hörte sich ächzen und rief sich zur Räson. Wenn er sich nicht ein bisschen konzentrierte, konnte er die ganze Aktion auch gleich ganz abblasen.
Zuerst das Hauptgebäude. Hier hatten er und Mandy viele Jahre gewohnt, gegessen, geschlafen. Die Räume mussten vor Erinnerungen nur so strotzen. Die Fenster im Erdgeschoss waren samt und sonders mit Brettern vernagelt. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Aber sie hatten die Kellerfenster vergessen, schmale Vierecke, durch die ein schlanker Körper vielleicht passen würde. Einen Versuch war es wert. Matthias ging ein paar Schritte und suchte nach einem passenden Stein. Er wählte das Viereck in der Mitte.
Im Keller roch es muffig, ein Gemisch aus Schimmel, Fäulnis und Salpeter, untersetzt von einem Hauch nach Verwesung, so als verrotteten in den Winkeln kleine Tiere, die den Weg nicht wieder hinausgefunden hatten. In den Ecken türmte sich Abfall. Matthias kniff die Augen zusammen und riss sie sofort wieder auf, aber das Flimmern auf seiner Netzhaut verschwand nicht. Er ärgerte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Im Halbdunkel konnte man nur wenige Details erkennen. Nach drei Schritten war er an der Holztür angekommen und drehte sich noch einmal um. Diesen Raum hier schien sein Unterbewusstsein nicht zu erkennen. Nichts von dem, was sich ihm hier darbot, weckte irgendwelche Erinnerungen. Matthias drückte mit der Hand gegen die Klinke, und die Tür schwang quietschend auf und gab den Blick auf einen nachtschwarzen Gang frei. »Na, mach schon.« Seine eigene Stimme hörte sich wie die eines Fremden an. Zittrig und ein wenig heiser.
Mit nach links und rechts gestreckten Armen tappte er durch den schmalen Gang und befühlte dabei die Wände. Als seine Finger auf eine Längsfuge trafen, wusste Matthias, dass er die nächste Tür erreicht hatte. Von ganz weit weg hörte er das dünne Kinderstimmchen von vorhin das zittrige Lied singen. Zögernd drückte er gegen die glatte Oberfläche, bis sie nachgab.
Auch hier gab es ein Fenster, das einen müden Schein spinnwebverhangenen Lichtes hereinließ. Zu seiner Zeit hatten sie nicht geahnt, dass da ein Fenster gewesen war, denn man hatte es vernagelt, damit die Kinder, die hier Buße für ihr vermeintliches Fehlverhalten tun sollten, nichts sahen. Sie sollten in absoluter Dunkelheit sitzen und nicht wissen, wann man sie wieder ans Tageslicht ließ, frierend, hungrig, durstig, allein. Manchmal waren auch Erwachsene hier gewesen. Zusammen mit den Kindern.
Matthias begann zu zittern und schlang beide Arme um den Körper. Die Arrestzelle schien eine finstere Kälte auszustrahlen, als sei all das Leid im Mauerwerk gespeichert worden.
»Halt das Balg fest!« Die Männerstimme klang barsch. »Dieses Gezappel macht mich rasend!«
»Ich gebe mir Mühe.« Eine Frau. »Aber leicht ist es nicht. Die da wehrt sich ganz schön.«
»Gib ihr halt noch eine Ohrfeige, was soll’s? Wir wollen doch keinen Aufruhr.« Der Mann keuchte jetzt. »Aber pass auf, dass keine Spuren zurückbleiben. Ich möchte nicht morgen Früh erklären müssen, dass das kleine Dummerchen gegen einen Schrank gelaufen ist, weil sie zu blöd ist, im Dunkeln aufs Klo zu gehen.« Zweimal klatschte es. Ein ersticktes Wimmern ertönte.
»Na, siehst du. Schon viel besser. Wenn du machst, was wir dir sagen, geht es viel leichter und du liegst ganz schnell wieder in deinem Bett. Und morgen Früh hast du alles vergessen. Und jetzt zieh dein Nachthemd aus.« Das Wimmern wurde zu einem Schluchzen. »Na, na. Wer wird denn gleich heulen? Mach schon!« Die Frauenstimme wechselte übergangslos von einem tröstenden zu einem keifenden Tonfall. »Wir haben nicht ewig Zeit. Leg dich da hin!«
Kerzenlicht flackerte. Die Ziegelwände strömten einen Geruch von Moder aus. Ein Reißverschluss zirpte. Dann ließ sich der Mann auf alle viere nieder und kroch zu der Matratze. Sein Keuchen wurde zu einem Hecheln. Die Frau drehte sich ins Licht. Sie lachte hämisch. Ihr Schweinsgesicht glänzte im Kerzenschein.
Leise wisperten die Blätter der Linden. Matthias sah nach oben. Die Sonne blendete durch das Laub. Draußen auf der Straße tuckerte ein Moped vorbei. Dann war es wieder still. Der verwilderte Park schlief im Mittagslicht.
Matthias drehte den Kopf von links nach rechts und spürte den Schmerzen in seinem Nacken nach. Das Halsgelenk knackte bei jeder Bewegung. Er musste das Haus verlassen haben, ohne es zu merken. Genauso, wie er vorhin die Mauer überklettert hatte. Die Szene aus dem Kellerverlies brannte in ihm wie Salzsäure.
Der Mann war Rainer Grünkern gewesen. Ein jüngerer Rainer Grünkern, das reliefartige Gesicht, die großporige Nase – es gab keinen Zweifel. Aber die Frau … Wo hatte er dieses Schweineantlitz schon einmal gesehen? Und wer war das Mädchen gewesen? Er hatte ihr Gesicht nicht sehen können, weil die beiden Teufel ihr einen Stoffbeutel über den Kopf gezogen hatten. Aber die Kleine war höchstens sieben, acht Jahre alt gewesen.
Matthias spuckte auf die mit Moos überwucherten Gehwegplatten. Der Name dieser fetten Frau würde ihm einfallen. Er hatte ihn schon einmal gehört, er wusste es. Zu Hause würde er seine Aufzeichnungen durchsehen, die Mails von Sebastian Wallau alle noch einmal lesen und dann musste ihm ihre Identität ins Gesicht springen.
Wie von selbst setzten sich seine Füße in Bewegung. War er eigentlich in den oberen Etagen des Hauptgebäudes gewesen? Nichts als weißen Nebel im Kopf, marschierte Matthias Hase auf das Pförtnerhaus zu. Das Bauwerk mit den beiden unterschiedlich großen Spitzdächern war von Birken und anderem Gesträuch zugewuchert. Zu DDR-Zeiten hatten die Erzieher das Gebäude als Abstellmöglichkeit für Gartengeräte und Gerümpel verwendet. Gewohnt hatte hier niemand, und es war den Kindern strengstens untersagt gewesen, sich hier aufzuhalten. Und doch kannte er das Innenleben des Häuschens. Rechts neben der Eingangstür gab es eine Art Vorraum, wo Straßenschuhe und Mäntel abgelegt werden konnten. Vorsichtig strich Matthias mit den Fingern über die rostigen Nagelköpfe an den Brettern vor dem Eingang. Die Tür dahinter schien zu fehlen. Ein kräftiger Ruck und das Machwerk würde auseinanderfallen. Vom Vorraum aus kam man in ein größeres Zimmer, das nach vorn und nach hinten heraus je ein Fenster hatte. Im Erdgeschoss gab es dazu nur noch eine winzige Toilette. Über eine schmale Holztreppe gelangte man nach oben in das spitzgiebelige Dachgeschoss, das nur aus einem einzigen Raum bestand. Matthias riss an den Planken und machte einen Satz rückwärts, als ihm das ganze Brettergeflecht entgegenkam. Grauer Staub wirbelte im Sonnenlicht, ein paar Spinnen huschten zurück ins Dunkle. Er konnte nicht verhindern, dass seine Zähne klapperten.
»Leg ihn auf die Seite! Na mach schon, zum Teufel!« Hektisches Scharren. Das heisere Flüstern wurde drängender. »Hast du seinen Mund kontrolliert? Die Atemwege müssen frei sein!«
»Er muss sich erbrochen haben. Vorhin. Als wir drüben waren! Ich fühle keinen Puls! Ist er etwa erstickt?«
»Such am Hals, los! Am Handgelenk ist es zu unsicher.«
»Nichts.«
»Lass mich mal ran.« Feste Schritte. Dann war Stille, nur unterbrochen von leisem Atmen.
»Mach mal Licht.« Ein dünner Lichtstrahl glitt über einen verkrümmten kleinen Körper. »Leuchte ins Gesicht, dumme Kuh, nicht auf die Füße!« Hervorquellende Augen, weite Pupillen.
»Und?«
»Nichts. Der sieht irgendwie tot aus.«
»Scheiße.« Der Lichtstrahl wanderte über die Dielen zu einem Paar metallbeschlagener Stiefel. »Bist du dir sicher?«
»Ziemlich.«
»Scheiße, Scheiße, Scheiße. Und nun?«
»Wir müssen das Balg wegschaffen. Heute Nacht noch.«
»Wohin?«
»Weiß ich noch nicht. Vielleicht in das Wäldchen. Wir buddeln ihn richtig tief ein.«
»Wird denn niemand fragen, wo er auf einmal hin ist?«
»Lass mich das machen. Den vermisst keiner. Seine Eltern sind tot, Geschwister hat er nicht und er war auch erst ein paar Tage da. Wir können die Akten verschwinden lassen. Nach dem fragt doch niemand. Ist er halt adoptiert worden.«
»Glaubst du, das klappt?«
»Sicher wird das funktionieren. Aber wir müssen uns in den nächsten Monaten hier ein bisschen zurückhalten und unsere Aktivitäten einschränken.« Ein Klicken. Dann raschelte etwas.
»Hast du das gehört?« Der Strahl der Taschenlampe huschte zum Fenster. »Ist da jemand draußen?«
»Ich geh nachschauen. Bleib hier, bin gleich wieder da.« Die Stiefel klapperten über den Boden.
In Matthias’ Kopf heulte eine Sirene los. Er presste die Hände auf die Ohren und schrie, um das Jaulen zu übertönen.