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»Ja, das ist interessant. Scheint mir eine gute Spur zu sein, Lara.« Mark drückte das Telefon fester ans Ohr und betrachtete das Foto auf seinem Schreibtisch. Seine Frau schaute ernst, Franz ein bisschen mürrisch – wie es Teenager beim Posieren für ein Familienfoto eben so machten –, nur Joanna lachte breit. »Vielleicht hast du Glück und es antwortet dir jemand.« Er lauschte kurz und setzte dann hinzu: »Du darfst nicht so ungeduldig sein. Nicht alle Leute schauen täglich in ihre Mails oder chatten im Netz. Gib ihnen ein paar Tage Zeit. Hat Schädlich dir denn letztes Wochenende noch Neuigkeiten berichten können?«
Während Lara ihm erzählte, dass man laut Aussagen des Kriminalobermeisters auf der Leiche Erbrochenes vom Täter gefunden habe und sie nicht wisse, ob sie Schädlichs Angabe, die DNA-Analyse der Spuren läge noch immer nicht vor, Glauben schenken konnte, versuchte Mark, möglichst geräuschlos seine Aktentasche einzuräumen. Es war schon kurz nach halb sechs. Eigentlich hätte er seit zehn Minuten im Auto sitzen sollen. Es war Mittwoch. Mittwoch gehörte der Familie. Heute hatte Anna sich etwas wünschen dürfen, und es war das Kim-Chu in der Leibnizstraße geworden. Mark mochte koreanisches Essen nicht so, genauso wenig wie die Fast-Food-Tempel, die Franz immer aussuchte, fügte sich aber in das gemeinsame Ritual.
Schwester Annemarie streckte den Kopf zur Tür herein und deutete auf ihre Armbanduhr. Er nickte ihr zu, dass sie gehen könne. Nachdem Lara versprochen hatte, ihn spätestens am Freitag von ihren Fortschritten in Sachen »zweite Plattenbauleiche« zu informieren, legte Mark auf. Eigentlich hatte er sich in Vorbereitung der morgigen Sitzung mit Maria Sandmann noch die Aufzeichnung von Montag ansehen wollen, aber das konnte er auch morgen früh noch erledigen. Er ließ die Finger über den dünnen Leinenstoff des Jacketts gleiten und warf es sich dann über die Schulter. Draußen waren noch mindestens fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Grad. Er würde keine Jacke brauchen. Mitten im Raum stehend, checkte er das Sprechzimmer und prüfte, ob alle Geräte abgeschaltet waren. In dem Augenblick, als er den ersten Schritt in Richtung Wartezimmer machte, summte die Türklingel. Marks Nackenmuskeln spannten sich an.
Auf dem Schreibtisch blinkte fordernd das rote Lämpchen. Er zögerte einen Augenblick lang, drückte dann den Zeigefinger auf den Knopf der Wechselsprechanlage und neigte den Kopf über das Mikrofon. »Ja bitte?«
»Doktor Grünthal?« Eine völlig aufgelöste Frauenstimme. Viel zu hoch, hysterisch. Erst nach den nächsten Sätzen erkannte Mark die Person.
»Kann ich mit Ihnen sprechen? Ich brauche Ihre Hilfe!«
»Kommen Sie rauf.« Mark betätigte den Türöffner und ging dann ins Wartezimmer, um auf die Patientin zu warten. Hastiges Klappern von Absätzen verriet ihm, dass sie es eilig hatte. Dann klopfte es, und die Eingangstür schwang auf.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß, die Praxis hat schon geschlossen, und ich habe auch erst morgen einen Termin, aber Sie hatten gesagt, ich … ich könnte Sie jederzeit anrufen … aber das kann ich nicht am Telefon…« Sie schüttelte sich kurz und sah sich im Sprechzimmer um. Dann sprach sie mit fester Stimme weiter. »Ich glaube, wir haben ein Problem.«
Sie kam auf ihn zu, und Mark streckte die rechte Hand aus. »Guten Tag, Frau Sandmann. Kommen Sie herein. Wir kümmern uns darum. Gehen Sie doch bitte schon ins Sprechzimmer und nehmen Sie Platz. Ich komme sofort.« Er ging, um die Eingangstür zu schließen, die Maria Sandmann in ihrer Eile offen gelassen hatte. Dann folgte er der Frau ins Sprechzimmer. Sie hatte bereits auf dem Sessel Platz genommen, auf dem sie immer saß. Mit versteinertem Gesicht schaute sie geradeaus.
»Einen kleinen Moment noch.« Mark durchsuchte seine Aktentasche nach dem Handy. »Ich bin gleich für Sie da.« Er tippte eine SMS an Anna, dass er wegen eines Notfalles später käme und sie inzwischen mit den Kindern losfahren sollte, und schaltete das Gerät dann auf lautlos. Seine Frau würde wütend sein, aber das nützte nichts. Dies hier ging vor.
Mark setzte sein väterliches Lächeln auf, nahm im Sessel neben der Patientin Platz und wartete darauf, dass sie mit dem Problem herausrückte. Sie saß ganz gerade, ohne sich anzulehnen, die Augen auf die Wand gerichtet, Unterkiefer und Kinn kämpferisch nach vorn geschoben. Nur ihre Hände verrieten die Nervosität. Sie waren verflochten, die Finger wanden sich unentwegt umeinander, lösten und verschränkten sich aufs Neue. Ihr Mund öffnete sich und schnappte dann wieder zu. Es fiel ihr sichtlich schwer zu sprechen, und so ergriff Mark das Wort.
»Sie sagten vorhin, es gäbe ein Problem.«
»Ja.«
»Können Sie beschreiben, worum es sich dabei handelt?«
»Ja.« Wieder schnappte der Mund zu. Die Finger hielten einander jetzt so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie sagte »Ja«, und ihr Körper sprach »Nein«.
»Hat es etwas mit Ihrer Vergangenheit zu tun, Frau Sandmann? Oder ist es etwas Aktuelles?« Sie schüttelte mit fest zusammengepressten Lippen den Kopf, und Mark setzte nach. »Ich möchte Ihnen gern helfen. Das geht aber nur, wenn ich weiß, worum es sich handelt. Es ist etwas Unvorhergesehenes passiert, etwas, das nicht bis morgen Zeit hat, sonst wären Sie nicht hier. Nicht wahr?«
Jetzt nickte sie. Die Hände lösten sich voneinander, und sie griff nach ihrer Handtasche. »Also gut. Deswegen bin ich da, ganz richtig. Ich habe einen Brief bekommen.«
»Aha? Von wem?« Mark sah, wie sie am Reißverschluss riss und dann in die Tasche spähte, als verstecke sich darin eine Schlange. »Haben Sie den Brief mit?«
»Ja.« Die rechte Hand verschwand und kam gleich darauf mit einem hellgelben Kuvert wieder zum Vorschein. »Es ist ein Brief von einem Mann namens Matthias. Er schreibt, er sei mein Bruder.« Sie schloss kurz die Augen und öffnete sie dann ganz schnell wieder. »Aber ich habe gar keinen Bruder!«
»Tschüss, bis morgen dann!« Isabell blieb noch einen Augenblick neben Laras Schreibtisch stehen, als wolle sie noch etwas sagen, traue sich aber nicht. Schließlich fasste sie sich doch ein Herz. »Ich habe den Fleischer angerufen. Wegen der Platten.«
»Das ist gut. Morgen kaufe ich den Sekt. Wir sollten halbtrockenen nehmen, was meinst du?« Lara schaute hoch. Isabells Augen waren gerötet, und ihre Mascara war verschmiert. Sie sah aus, als hätte sie geweint.
»In Ordnung. Einen Aushang habe ich auch gemacht.« Die Praktikantin zeigte auf die Pinnwand über dem großen Kopierer.
»Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.« Lara schrieb »Sekt, Isi« auf eine Haftnotiz und klebte diese an den Rand ihres Bildschirms. Gleich morgen Vormittag würde sie sich der Sache annehmen.
»Weißt du, wo Tom heute war?«
Lara, die den Blick schon wieder auf den Bildschirm gerichtet hatte, wandte sich erneut der Praktikantin zu. »Gestern hat er wohl den ganzen Tag im Gericht verbracht, aber heute? War er nicht am Vormittag hier? Hast du mal in der Abwesenheitsliste nachgeschaut?«
»Da steht nichts.« Isabells Unterlippe bebte leicht. »Seit Tagen weicht er mir aus. Ich …« Sie brach ab. Die Unterlippe zitterte stärker.
»Das ist allerdings komisch. Ich wurde letztens noch gemaßregelt, weil ich vergessen hatte, mich einzutragen, aber für ihn gelten wohl andere Regeln.«
»Ich weiß.« Isabell war einen Schritt an Laras Schreibtisch herangetreten und flüsterte jetzt. »Er mag dich nicht.«
»Was?« Lara hatte die Stimme auch gesenkt.
»Tom meine ich. Er hasst dich regelrecht; denkt, du bist überheblich und karrieregeil. Und dass du ihn ausstechen willst. Das hat er mir mal erzählt. Ist allerdings schon eine Weile her.« Jetzt schniefte Isabell und drückte sich den Handrücken an die Nase.
»Na, wenn das mal nicht seine eigenen Machenschaften sind, die er da auf mich projiziert. Du darfst dich nicht so von ihm beeinflussen lassen, Isi. Sieh mal«, Lara berührte die Hand der jungen Frau, »egal, was er behauptet hat, er wird dir keine Träne nachweinen, wenn du nicht mehr da bist. Da bin ich mir sicher. Besser, du vergisst ihn ganz schnell.«
»Er hat mich nur ausgenutzt!«
»Da muss ich dir leider zustimmen, Kleine. Aber das stehst du schon durch. Du bist doch eine starke Frau.« Lara betrachtete das zitternde Häufchen Elend, das vor ihr stand und in nichts einer »starken Frau« glich, und Isabell tat ihr leid. Niemand hatte es verdient, von Tom Fränkel ausgenutzt zu werden.
»Danke dir. Du bist wirklich nett.« Noch einmal wischte sich Isabell über die Nase und versuchte dann ein schiefes Lächeln. »Schade, dass ich mich so habe von ihm beeinflussen lassen, was dich betrifft. Aber vielleicht kann ich es wiedergutmachen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und stakste davon. Lara sah ihr nach und überlegte, was die Praktikantin gemeint haben mochte, vergaß aber den Gedanken schnell wieder und wandte sich ihren Recherchen zu.
In den Redaktionsräumen war es still geworden. Nur Friedrich hockte noch vor seinem Rechner. Alle anderen hatten schon Feierabend gemacht und saßen jetzt wahrscheinlich draußen in den Biergärten, genossen die Abendsonne und ließen es sich gut gehen. Lara unterdrückte ein Seufzen. In den Sommermonaten war ihr die Frühschicht lieber. Aber einen Vorteil hatte der Spätdienst, es waren kaum Kollegen in der Redaktion, und so konnte sie ungestört von Toms heimlichen Blicken recherchieren. Die Panorama-Seiten hatte sie fertig. Lara rief ihren Posteingang auf. Von den zwanzig eingegangenen E-Mails waren elf dienstlich, fünf nicht zuzuordnen, und vier hatten die Betreffzeile: »Re: Recherche zu Kinderheimen nahe Zwickau«. Sie zwang sich, zuerst die geschäftlichen Mitteilungen durchzusehen. Darunter war nichts, was nicht bis morgen warten konnte. Auch die fünf Nachrichten mit unklarer Betreffzeile waren längerfristige Informationen oder Anfragen an die Tagespresse.
In Laras Fingerspitzen kribbelte es. Sie sortierte die »Kinderheim-Mails« chronologisch nach Eingangszeit und klickte die erste davon an.
Sehr geehrte Frau Birkenfeld!
Sie fragten in Ihrer gestrigen E-Mail nach Namen von ehemaligen Erziehern aus DDR-Kinderheimen, die sich in der Nähe von Zwickau befanden. Das ist ein bisschen diffus ausgedrückt. Was recherchieren Sie denn konkret?
Ich selbst war im Kinderheim Meerane. Das liegt nahe Zwickau. Vielleicht haben Sie von dem Prozess gehört, den vier Ehemalige vor ein paar Jahren wegen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch geführt haben. Leider ist nicht viel dabei herausgekommen. Darf ich fragen, was Sie mit den Namen anfangen wollen?
Ich selbst war nur ein halbes Jahr im Heim – zum Glück! Daher kenne ich auch nicht so viele Leute wie manch anderer. Posten Sie Ihre Frage doch direkt in den Foren! Da ist die Chance, dass mehr Leute sie lesen, größer. Angehängt finden Sie eine Liste der Internetadressen. Ich hänge Ihnen außerdem eine Liste der Erzieher an, an die ich mich erinnern kann, allerdings sind sie ohne Gewähr. Es ist fünfundzwanzig Jahre her, dass ich dort war, und ich habe vieles vergessen. Auch bin ich mir bei manchen mit der Schreibweise nicht sicher.
Schöne Grüße,
Kerstin Brotkorb
Lara kopierte die Links zu den Kinderheimforen und die Namen – es waren fünf – in ein leeres Word-Dokument und schloss die E-Mail. Die zwei nächsten waren vom Inhalt her ähnlich. Eine »Carola S.« war ebenfalls in Meerane gewesen, ein oder eine »U. Gerisch« im Kinderheim in Hartmannsdorf. Beide lieferten keine neuen Informationen. Carola S. nannte die gleichen Namen, die schon in der ersten E-Mail gestanden hatten, U. Gerisch pöbelte nur ein bisschen herum und beleidigte die Presse in Bausch und Bogen.
Aber Lara hatte ja auch nicht direkt nach Rainer Grünkern gefragt. Sie hob die Arme über den Kopf und räkelte sich. Durch das geöffnete Fenster drang der abendliche Lärm der Stadt herauf. Lara war hungrig. Sie konnte die Pizza förmlich schon vor sich sehen, die sie sich als Belohnung für die Plackerei versprochen hatte. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, aber sie war hier noch nicht ganz fertig. Eine Nachricht war noch ungelesen, und die Höflichkeit gebot es, allen vieren wenigstens eine kurze Antwort zu geben. Sie beschloss, sich bei den Schreibern für die Auskünfte zu bedanken und als Grund für ihre Anfrage eine geplante Reportage über Kinderheime in der DDR anzugeben. Das musste reichen. Detailfragen würde sie nicht beantworten. Lara betrachtete die Zeile mit der letzten ungelesenen E-Mail und klickte dann darauf.
Abs.:
postmaster@kinderheim-ernst-thaelmann.de
Betreff: Re: Recherche zu Kinderheimen nahe
Zwickau
Hallo, Frau Birkenfeld,
es ist schon ein bisschen seltsam, wie alle Welt auf einmal nach Erziehern in Kinderheimen fragt. Duplizität der Ereignisse?
Erst kürzlich habe ich mich ausgiebig mit einem Ehemaligen, der auch in meinem Heim war, darüber ausgetauscht. Das ist komisch, nicht!?
Sie schreiben, Sie arbeiten bei der Zeitung. Wollen Sie Dinge aufdecken, die damals geschehen sind? Das wird schwierig.
Das meiste davon ist nämlich verjährt.
Nun, mal sehen, was ich trotzdem für Sie tun kann.
Hier die Liste der Erzieher:
Lara scrollte ein bisschen nach unten, und in ihrem Kopf spiegelte sich der gesuchte Name, noch bevor ihr Verstand ihn erfasst hatte: Rainer Grünkern.
Scharf sog sie Luft ein. Sie hatte ihn. Eilends überflog sie den Rest.
Ich habe eine eigene Website zu unserem ehemaligen Heim eingerichtet. Vielleicht ist etwas von Interesse für Sie dabei. Halten Sie mich doch auf dem Laufenden! Ich kann Ihnen auch Kontakte mit anderen Heimkindern vermitteln, wenn Sie möchten.
Mit freundlichen Grüßen,
Sebastian Wallau
Lara stand auf und ging in die Küche. Plötzlich hatte sie Durst. Was meinte dieser Sebastian Wallau damit, dass sie Dinge »aufdecken« wollte, die damals geschehen waren? Er schrieb von Tatsachen, die »verjähren« konnten. Demnach musste es sich um Verbrechen handeln. Was war in seinem Heim passiert? Im Kühlschrank war kein Wasser mehr. Jemand hatte vergessen, es nachzufüllen. Lara nahm sich stattdessen eine lauwarme Flasche aus dem Kasten und kehrte zurück an ihren Schreibtisch. Sebastian Wallau hatte geschrieben, er hätte sich mit einem anderen Ehemaligen über die Erzieher ausgetauscht. Sollte sie ihn nach Namen fragen? Und was wusste er über den Erzieher Rainer Grünkern? Sie setzte die Flasche an und schluckte. Die Kohlensäure kribbelte am Gaumen. Lara dachte an Mark und erwog, ihn anzurufen, um ihm die Neuigkeiten mitzuteilen, verwarf den Gedanken aber nach einem Blick auf die Uhr wieder. Es war halb sieben. Und es war Mittwoch. Mark würde mit Frau und Kindern in irgendeinem schicken Restaurant sitzen und es sich gut gehen lassen. Es war auch morgen noch Zeit, ihm mitzuteilen, dass sie jemanden gefunden hatte, der Rainer Grünkern kannte, und dass er als Erzieher in einem Kinderheim gearbeitet hatte. Vielleicht konnte sie in der Zwischenzeit noch weitere Informationen von diesem Sebastian Wallau einholen. Lara stellte das Wasser ab, klickte auf »Antworten« und begann zu schreiben.
»Kann ich den Brief sehen?« Mark streckte die Hand aus, aber Maria Sandmann zog ihren Arm zurück.
»Es stehen lauter komische Sachen drin! Schlimme Dinge!«
»Ich verstehe. Trotzdem würde ich gern einen Blick darauf werfen. Vielleicht finden wir heraus, worum es geht. Was darin geschrieben wurde, ist nicht Ihr Verschulden.«
»Es muss sich um eine Verwechslung handeln! Außerdem ist der Brief an eine Mandy gerichtet!« Mit jedem Satz klang Maria Sandmanns Stimme ein wenig schriller.
»Hm. Das ist in der Tat seltsam.« Mark versuchte, die Adresse auf dem Kuvert zu entziffern, konnte aber nichts erkennen, weil die Hände der Frau das Papier fest umkrampft hielten. Es gab in ihr starke Widerstände dagegen, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Er würde sich der Sache spiralförmig von außen nähern müssen. Das konnte länger dauern, als er gedacht hatte. Nur kurz schweiften seine Gedanken zu Anna und den Kindern, dann kehrten sie ins Sprechzimmer zurück.
»Wann haben Sie denn den Brief erhalten?«
»Heute Vormittag.«
»War er in Ihrem Briefkasten?«
»Ja. Aber er kann nicht mit der normalen Post gekommen sein.« Jetzt zeigte sie ihm das Kuvert, zog es aber sofort wieder zurück, als habe sie Angst, er könne danach greifen. »Es sind weder Briefmarke noch Stempel darauf.«
»Aber Ihr Name?«
»Nein, nichts. Außen steht überhaupt nichts.«
»Der Absender muss ihn also selbst in Ihren Briefkasten eingeworfen haben.«
»Das denke ich.« Maria Sandmann glättete das elfenbeinfarbene Papier. Immer wieder strichen ihre Hände über den Umschlag. Sie schien etwas ruhiger zu werden.
»Ich sehe das auch so.« Mark nickte ihr zu. Wenn jemand das Schreiben persönlich in ihren Briefkasten eingeworfen hatte, hieß das, der Schreiber konnte sich nicht vertan haben. Maria Sandmann war die Adressatin. Es sei denn, der Verfasser der Zeilen hatte jemand anderes mit der Überbringung beauftragt. Aber auch dann war es unwahrscheinlich, dass derjenige den Brief in einen Briefkasten mit anderem Namen einwarf. Mark äußerte seine Vermutung nicht. Die Patientin wollte an eine Verwechslung glauben, und ihr Unterbewusstsein hatte wahrscheinlich gute Gründe dafür. Andererseits wäre natürlich auch denkbar, dass der Absender Frau Sandmann tatsächlich verwechselte und sie fälschlicherweise für seine Schwester hielt. Um das jedoch herauszufinden und auch das, was an diesem Brief so verstörend war, würde er ihn aber lesen müssen. »Sie haben das Kuvert dann geöffnet.«
»Heute Vormittag.« Sie wiederholte sich. »Er war in meinem Briefkasten. Ich dachte, er ist für mich.«
»Und er ist an eine Mandy von ihrem Bruder Matthias gerichtet. Wohnt in Ihrem Haus eine Frau namens Mandy?« Jetzt überlegte sie. Ihre Augen wanderten nach oben und dann nach links.
»Nein.«
»Wahrscheinlich liegt wirklich einfach eine Verwechslung vor. Lassen Sie mich einmal hineinschauen. Vielleicht gibt es Anhaltspunkte, anhand derer wir den wahren Adressaten feststellen können.« Er belog ihr Unterbewusstsein, aber es gab keine andere Möglichkeit. Warum wühlte das Geschriebene sie so auf, dass sie hundertfünfzig Kilometer nach Berlin fuhr, um ihren Therapeuten aufzusuchen – wegen eines Briefes, der nicht an sie gerichtet war und dessen Inhalt ihr egal sein konnte? Etwas darin hatte Maria Sandmann ziemlich verstört, aber sie wagte nicht, es sich einzugestehen. Er musste den Text lesen. Behutsam streckte Mark die Hand aus, und jetzt reagierte die Frau und gab ihm das Kuvert.
Dienstag, der 14. 07.
Liebe Mandy,
wahrscheinlich wirst Du diesen Brief nie zu Gesicht bekommen. Wenn Du ihn aber liest, ist entweder irgendetwas verdammt schiefgegangen, oder ich habe meine Vorhaben geschafft. …
Wenn das Datum stimmte, war er vor vier Wochen geschrieben worden. Es waren zwei Blätter, eine Kopie des Originals. Auf Seite zwei hatte jemand mittendrin einen Teil herausgeschnitten. Mark Grünthal überflog die erste Seite, ohne konkrete Inhalte wahrzunehmen. Stattdessen analysierte er die Schrift des Verfassers. Das Bewegungsbild zeigte eine eilige, druckvolle Schrift, die Buchstaben waren fast durchweg miteinander verbunden, die n- und m-Bögen girlandenförmig. Es dominierten magere, spitze Formen, i-Punkte waren vorauseilend gesetzt. Formbild und Raumbild erschienen relativ normal. Die Anfangsbuchstaben waren betont, die Schrift griff weit nach oben und unten aus. Es war nur eine flüchtige graphologische Analyse. Für exakte Angaben würde er nachmessen und vergleichen müssen, aber fürs Erste reichte das, um den Verfasser einzuschätzen. Ein Mensch, der flexibel im Denken war und Zusammenhänge gut erfasste. Sachverstand überwog gegenüber Gefühlen und Fantasien. Der Verfasser besaß klare Zielvorstellungen, blieb meist innerlich kühl und distanziert und vertraute auch im mitmenschlichen Kontakt mehr dem Kopf als dem Herzen. Jemand, der sich in seinem Tun nicht gern aufhalten ließ, manchmal etwas hastig und ungeduldig sein konnte, meist aber dynamisch und unternehmungslustig war.
Mark ließ den Brief sinken. Maria Sandmann hatte die Hände auf die Oberschenkel gelegt. Sie rührte keinen Muskel, nur ihre Augen wanderten. Von Marks Gesicht zu dem Brief in seiner Hand und wieder zurück. Sie schien auf etwas zu warten.
»Sehr interessant. Darf ich es noch einmal in Ruhe durchgehen?« Mark hob die Seiten kurz an. Das Nicken der Frau war unmerklich. Er begann zu lesen.
Jetzt, meine liebe Mandy, jetzt aber will ich Dir endlich vom ersten Schritt berichten! Sicher bist Du schon gespannt, wen ich mir als Erstes vorgenommen und wie ich ihn bestraft habe… Ist Dir Sieg fried Meller noch gegenwärtig? »Fischgesicht« nannten wir ihn im Geheimen, weil er diese hervorstehenden Augen hatte und seine aufgequollenen, viel zu roten Lippen immer die Form eines erstaunten »Os« hatten. Eigentlich sah er ganz harmlos aus, fast ein bisschen dumm, was er nicht war. Er liebte Wasser in jeder Form, dieses Schwein …
Mark sah auf und runzelte die Stirn. Die Beschreibung erinnerte ihn an etwas, aber er konnte nicht sagen, was es war, also blätterte er um und las weiter.
Ich habe es gesehen. Als die kleine Heike aus dem Keller zurückkam, war ihr Blick wie tot, und sie ist gelaufen wie einer dieser Blechroboter zum Aufziehen. Es hat Tage gedauert, bis sie wieder mit uns gesprochen hat. Wahrscheinlich erinnerst Du Dich nicht daran, denn Du warst damals ja auch noch ziemlich klein, und ich habe so gut es ging versucht, Dich von solchen Erlebnissen fernzuhalten …
Mellers Zappeln wurde schnell schwächer. Ich zählte bis fünfzehn und zog seinen Kopf dann mit einem Ruck aus dem Wasser. Er röchelte und hustete. Es klang genauso wie bei uns, wenn das Gesicht aus dem Waschkessel auftauchte. Da wusste ich, dass er das Gleiche empfand wie die kleine Heike und all die anderen Kinder, die er aus purer Lust am Quälen gepeinigt hatte. Diese Panik, wenn man keine Luft bekommt, wenn die Kehle immer enger wird, wenn der Brustkorb sich zusammenzieht, wenn man weiß, man muss den Mund geschlossen halten, und es doch nicht beherrschen kann. Dann dieses schreckliche Gefühl, nach Luft zu schnappen und Wasser einzuatmen – Todesangst.
Ich gab ihm ein paar Sekunden Zeit, dann drückte ich seinen Kopf wieder unter Wasser. Nachdem wir das viermal wiederholt haben, hat Meller irgendwie aufgegeben. Dann hat er sich nassgemacht. Irgendwann war plötzlich Ruhe. Ich habe ihn noch exakt fünf Minuten untergetaucht, um sicher zu sein, dass er auch wirklich tot war.
Zum Schluss habe ich das Wasser abgelassen und ihn so da liegen lassen. In einer leeren Badewanne.
Die nächsten Schritte sind nicht mehr ganz so einfach. Zuerst muss ich die anderen Scheusale finden, eines nach dem anderen. Ich hoffe nur, sie leben noch alle. Einige waren damals ja schon älter. Aber ich schwöre Dir, dass ich alles Mögliche tun werde, um unsere Rache zu vollenden. ALLES.
Meine liebe Mandy, mit diesem Versprechen möchte ich meinen Brief beenden. Ich werde ihn an einem sicheren Ort verwahren, bis es an der Zeit ist, ihn abzuschicken.
In Gedanken bin ich immer bei Dir, meine Kleine. Ich bin mir sicher, Du spürst das.
Bis bald.
Ich liebe Dich.
Dein Matthias
Darunter hatte der Verfasser noch ein paar Sätze gekrakelt: »Sei nicht böse, kleine Mandy. Ich kann Dir nur Seite eins und vier schicken. Alles, was dazwischen steht, muss noch im Verborgenen bleiben, um das Projekt nicht zu gefährden. Du wirst den fehlenden Teil zu gegebener Zeit erhalten. Aber dieser Ausschnitt dürfte ausreichen, um Dich zu informieren. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, Dich im Unklaren zu lassen. Halte durch. Lass Dich nicht verrückt machen.«
Mark legte die Blätter auf den Tisch, betrachtete seine Patientin und ärgerte sich, dass er die Analyse der Videoaufzeichnung von Maria Sandmanns Hypnosesitzung immer wieder aufgeschoben hatte. Die exakten Details wären jetzt sehr nützlich. So aber musste er sich auf das verlassen, was sein Gedächtnis hergab.
Sie hatte sich in der ganzen Zeit nicht bewegt, saß noch immer wie eine bleiche Marmorstatue auf der Vorderkante des Sessels, die Hände im Schoß gefaltet, und schwieg, den Blick über seine Schulter in die Ferne gerichtet. Er lächelte ihr zu und versuchte, aus dem steinernen Gesicht Emotionen abzulesen. Ihr Körper war angespannt, die Schultern hatte sie hochgezogen, die Finger ineinander zu einem Gebilde verschränkt, das in der Fachsprache »Igel« genannt wurde, weil die mittleren Fingerknöchel alle nach außen stachen. Eine Abwehrhaltung.
Mark dachte darüber nach, was die Maria Sandmann, die hier neben ihm saß, wusste. Sie hatte den Brief gelesen, schien sich jedoch nicht zu erinnern, dass sie den Begriff »Fischgesicht« kannte und dass sie in ihrer Vergangenheit je einem Herrn »Meller« begegnet wäre. Ihr Unterbewusstsein schützte sie, kapselte die Erinnerungen ab, versteckte sie in unzugänglichen Kammern. Aber wie lange würde dieses Konstrukt stabil bleiben? Vor einer halben Stunde, bei ihrer Ankunft, war die Frau noch völlig aufgelöst gewesen. Ihre Persönlichkeit schien aus dem Leim zu gehen, löste sich auf wie Zucker im warmen Wasser. Und nun wirkte sie wie eingefroren, stählern, unnahbar. Welcher Zustand war der beständigere?
»Ein sehr interessanter Brief.« Ihr Blick zuckte kurz zu ihm und versenkte sich dann wieder in einem der Bilder an der Wand. »Finden Sie nicht auch?«
»Interessant ist wohl nicht das richtige Wort. Da schreibt jemand, er wolle Scheusale finden und bestrafen. Für mich klingt das nach einem Verbrechen.«
»Wenn das stimmt, was da steht.« Mark glättete die Seiten. Wenigstens redete sie mit ihm.
»Das kann man nicht wissen.«
»Nein. Jemand könnte sich das alles ausgedacht haben.«
»Aber wozu?«
Wenn wir das wüssten, liebe Maria Sandmann. »Was glauben Sie?«
»Ich habe keine Ahnung.« Sie sprach jetzt mit abgehackter, herrischer Stimme. »Sagen Sie es mir, Sie sind doch der Seelenklempner.«
»Ich weiß es auch nicht.« Mark log nicht einmal. Er war sich selbst im Unklaren, ob das, was da beschrieben wurde, reine Fantasie war oder ob ein Teil davon tatsächlich stimmte. Was er jedoch inzwischen glaubte, mit relativer Sicherheit sagen zu können, war, dass dieser Brief seiner Patientin zugedacht war, auch wenn sie es anscheinend nicht wahrhaben wollte. Aber was mochte auf den fehlenden Seiten stehen? Einzelheiten, anhand derer man den Schreiber identifizieren konnte? Details über die Adressatin Mandy?
»Und jetzt?«
»Darf ich mir das kopieren?«
»Nur zu.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung zu ihren Worten, und Mark erhob sich.
»Danke. Einen Moment bitte. Ich bin gleich wieder da.« Der Kopierer stand im Wartezimmer. Im Hinausgehen grübelte Mark, was er jetzt tun sollte. Was hatte die Patientin sich erhofft, als sie mit dem Schreiben zu ihm gekommen war? Vorhin hatte sie den Eindruck gemacht, kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen, aber ihr Befinden hatte sich ohne sein Zutun konsolidiert. Durfte er sie nach Hause schicken? Sie musste hundertfünfzig Kilometer fahren. War die Frau stabil genug dafür? Und würde sie daheim stabil bleiben? Sie hatte suizidale Fantasien geäußert, sie schlafwandelte, in ihrer Psyche gab es verschlüsselte Geheimnisse. Der Kopierer erwachte summend zum Leben, ratterte und fuhr den Wagen mit den Druckerpatronen hin und her. Im Sprechzimmer war Totenstille. Wahrscheinlich saß Maria Sandmann noch immer wie festgewachsen auf ihrem Sessel und rührte kein Glied. Mark klappte den grauen Deckel hoch und legte die erste Seite auf das Glas.
Andererseits – was könnte er sonst für sie tun? Die Probleme dieser Frau waren mit einer einzigen Hypnosesitzung nicht zu bewältigen. So, wie er die Sache einschätzte, würden sie mindestens ein halbes Jahr brauchen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Aber was gab es sonst für Alternativen? Es war inzwischen kurz vor sieben. Seine Frau und die Kinder warteten, dass er endlich zum gemeinsamen Essen erschien. Das zweite Blatt glitt ins Ablagefach, und Mark schaltete das Gerät aus und ging zurück zu seiner Patientin. Sie stand neben dem Sessel, in den Händen das leere Kuvert.
»Können Sie morgen wiederkommen, Frau Sandmann?«
»Wann?« Sie nahm das Original, faltete es und schob die Seiten zurück in den Umschlag.
»Um zehn hätte ich einen Termin frei.«
»Gut.« Jetzt sah sie ihm direkt in die Augen. Ihr Blick war klinisch kalt. Mark hatte für eine Sekunde das Gefühl, sie analysiere ihn, dann war der Moment vorbei. Maria Sandmann zog sich die Tasche über die Schulter und warf ihm im Hinausgehen ein »Dann bis morgen! Wiedersehen!« zu. Es machte den Eindruck, als könnte sie gar nicht schnell genug verschwinden. Die Tür fiel ins Schloss. Weg war sie. Im Spiegel sah Mark die Querfalten zwischen seinen Augenbrauen. Er wurde aus ihr nicht schlau. Einmal war sie wie ein hilfloses Kind, dann wieder spielte sie die kühle, rationale Frau. Etwas stimmte ganz entschieden nicht mit ihr, aber er konnte einfach nicht erkennen, was es war.
Für die morgige Sitzung mit ihr würde er sich besonders gründlich vorbereiten müssen. Mark beschloss, sich noch zehn Minuten zu nehmen, setzte sich in seinen Sessel, nahm den Brief noch einmal zur Hand und vertiefte sich in das Geschriebene.
Dass er den Namen Meller schon einmal in anderem Zusammenhang gehört hatte, fiel ihm in diesem Moment nicht ein. Noch nicht.