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Lara Birkenfeld wischte sich mit dem nackten Unterarm über die Stirn. Die Redaktionsräume glichen einer Sauna. Seit Tagen lag eine glühende Hitze über der Stadt, die den Aufenthalt in den Büros schon vormittags unerträglich machte. In ihrem Kopf verwoben sich das hämmernde Geräusch der Tastaturen, das unverständliche Murmeln an den Telefonen und das Rattern des Faxgerätes zu einer Kakophonie des Schmerzes.

Sie stand auf, um eines der Fenster zu öffnen, und lehnte sich einen Augenblick hinaus. Die Sonne brannte ihr entgegen. Hinter Lara kicherte Isabell ihr albernes Kleinmädchenlachen. Wie eine heiße Wand aus zähem Honig stand die Luft vor dem Gebäude. Lara schloss das Fenster wieder und seufzte. Wenn sie jetzt noch einen Kaffee trank, würde ihr Kopf wahrscheinlich wie ein überdehnter Luftballon platzen. Die Klimaanlage brachte auch nichts. Es zog höchstens an allen Ecken und Enden, und am nächsten Tag waren garantiert drei Leute heiser.

Lara setzte sich auf ihren Drehstuhl, starrte auf den Bildschirm und dachte an ihren Urlaub und dass sie es noch immer nicht geschafft hatte, sich für ein Reiseziel zu entscheiden. Am Ende würde es wieder irgend so eine Last-Minute-Reise werden, an die sie sich im Nachhinein gar nicht mehr richtig entsinnen konnte.

Ihr gegenüber zuckte Tom plötzlich unmerklich zusammen. Sein Blick huschte hin und her, danach beugte er sich nach vorn und schob seinen Kopf dichter an den Monitor. Lara kannte die Anzeichen. Eine interessante Meldung war hereingekommen, und Tom wollte der Erste sein, der sie las, um den Artikel an sich reißen zu können. Es konnte eigentlich nur eine unerwartete Agenturnachricht oder ein Computerfax von der Polizei sein. Ohne den Oberkörper zu bewegen, drückte Lara leise ein paar Tasten und hatte die Nachricht auf dem Bildschirm.

Leichenfund in Abbruchhaus. Todesursache unbekannt.

Lara konnte Tom schnaufen hören, während sie den kurzen Text überflog. Vier Bauarbeiter hatten in einem leerstehenden Plattenbaublock, der diese Woche abgerissen werden sollte, eine verweste Männerleiche gefunden. Allerdings würde man die Obduktion abwarten müssen, um festzustellen, ob es sich um ein Tötungsdelikt, einen Unfall oder Selbstmord handelte.

Vor Laras innerem Auge tauchte das Plattenbaugebiet im Südwesten der Stadt auf. Ein Viertel, in dem vor der Wende zehntausende Menschen gewohnt hatten. Jetzt waren viele Wohnungen verwaist, und es hatte ein Prozess begonnen, den man »Rückbau Ost« nannte.

Tom schnaufte jetzt leiser. Seine Nasenspitze zuckte so wie immer, wenn er Witterung aufgenommen hatte, wenn er die Möglichkeit sah, einen Vorteil für sich herauszuschinden. Wahrscheinlich wappnete er sich schon mit Argumenten, warum er und nicht seine Kollegin Lara Birkenfeld über diesen Fall berichten müsste. Dabei war das gar nicht sein Ressort. Aber das hatte Tom noch nie interessiert.

Das Pochen in Laras Kopf verstärkte sich. Wenn die Tagespresse ihre Leser über die »Plattenbauleiche« informierte, dann war das ihre Aufgabe. Jetzt hatte sie dem Fall schon einen Namen verpasst. »Plattenbauleiche«  – das klang seltsam pedantisch, so als wäre der Tote nie ein lebendiger Mensch mit Wünschen und Träumen gewesen.

Tom lehnte sich zurück, bemerkte, dass seine Kollegin ihn beobachtete, setzte ein schnelles Grinsen auf und ging sofort zum Angriff über. »Du siehst geschafft aus!«

»Findest du? Mir fehlt nichts.« Lara hatte keine Lust, mit ihm über die Hitze oder ihre Kopfschmerzen zu diskutieren und das geheuchelte Mitleid zu ertragen, das sich in Schadenfreude verwandelte, sobald sie ihm den Rücken kehrte.

»Hast du heute noch Außentermine?« Tom deutete mit dem Kinn in Richtung Fenster.

»Bis jetzt noch nicht. Warten wir die Redaktionskonferenz ab. Und du?«

»Ich muss nachher zur Neueröffnung des Mehrgenerationenhauses in Grünau. Ein paar städtische Prominente habe ich im Vorfeld schon interviewt. Daraus machen wir morgen ein Meinungsbild.«

»Ach ja. Wie schön.« Lara griff nach ihrer Wasserflasche, während sie beschloss, so bald wie möglich Kriminalobermeister Schädlich anzurufen und ihn ein bisschen wegen der Plattenbauleiche auszuhorchen. Kampflos würde sie Tom das Feld nicht überlassen.

 

»So liebe Kollegen.« Gernot Hampenmann straffte den Rücken und legte beide Handflächen auf die Tischplatte. »Dann wollen wir mal. Zuerst der Wochenfahrplan.« Im Eiltempo ging der Redaktionsleiter die Termine durch, vermerkte die diensthabenden Journalisten und teilte ihnen Fotografen zu.

»Und nun die neu reingekommenen Sachen.« »Hampelmann« machte seinem Spitznamen alle Ehre. Er konnte einfach nicht stillsitzen. Sein Oberkörper bewegte sich vor und zurück, und die Hände flogen wie zwei aufgescheuchte Tauben durch die Luft, während er sprach. Ohne dass sie hinsehen musste, wusste Lara, dass auch seine Dackelbeine unter dem Tisch hin- und herschwangen, wobei die Fußspitzen den Boden gerade so berührten.

»Da hätten wir als Erstes die Protestdemonstration zur geplanten Biogasanlage.« Der Redaktionsleiter lehnte sich kurz zurück, faltete die Hände vor dem Bauch, ließ dabei den Blick über seine Kollegen schweifen und wartete darauf, dass sich jemand freiwillig meldete. Lara verbarg ein Grinsen, während sie wie alle anderen auf ihre Notizen schaute. Es war immer das Gleiche. Manche Themen wollte einfach niemand haben. Hampenmann verharrte noch einen Augenblick lang in seiner gestrafften Haltung, dann flatterte seine Rechte nach oben und deutete auf Hubert. »Herr Belli  – was ist mit Ihnen?«

»Ich, äh…« Hubert hatte sich im Vorfeld keine unaufschiebbaren Aufgaben zurechtgelegt, was ihm jetzt zum Verhängnis wurde.

»Dann machen Sie das.« Die Hand des Redaktionsleiters klatschte auf die Tischplatte und besiegelte seine Worte. Hubert schob die Unterlippe nach vorn, wagte es aber nicht zu protestieren.

»Kommen wir zu dem Leichenfund im Abbruchhaus.« Lara hob den Kopf, um zu antworten, und hörte im gleichen Moment Toms Stimme. »Das übernehme ich.«

»Tom, alles klar.« Gernot Hampenmann zückte den Kugelschreiber, um den Namen in seine Liste einzutragen. Lara öffnete den Mund und wollte protestieren, brachte aber kein Wort heraus, während Tom schon weiterredete. »Ich habe deswegen schon mit KK Stiller telefoniert.« Laras Mund öffnete sich noch ein bisschen weiter. Ihr Kollege hatte den Kriminalkommissar schon angerufen? »Ich bin heute Nachmittag sowieso in Grünau, das Mehrgenerationenhaus, Sie wissen …?« Tom zögerte gerade so lange, dass Hampenmann nicken konnte, und redete dann schnell weiter. »Da kann ich auch gleich ein paar Bilder vom Fundort der Leiche schießen, und wir brauchen nicht erst einen Fotografen hinzuschicken.«

»Sehr gut.«

In Laras Kopf rauschte das Blut. »Das ist eigentlich mein Ressort.« Sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Oh, entschuldige, Lara.« Tom klang zuckersüß. »Ich will dir nichts wegnehmen. Aber da du diese Woche schon mehrere Gerichtstermine hast und deshalb dauernd außer Haus bist, dachte ich, es wäre dir recht, wenn du heute nicht auch noch rausmüsstest.« Lara spürte, wie ihr linkes Augenlid zu zucken begann. Das hatte Tom ja geschickt eingefädelt. Er musste das Ganze geplant haben, seit die Nachricht heute Morgen über den Ticker gekommen war. Der Wochenplan hatte ihm dann noch die nötigen Argumente geliefert.

»Tom hat vollkommen recht. Sie können sich dann ja absprechen, wer den Fall weiterverfolgt.« Hampenmanns Tonfall gab zu verstehen, dass die Diskussion damit beendet war.

Lara versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Lid zuckte unaufhörlich, und sie war sich ziemlich sicher, dass Tom das bemerkt hatte. Dem Rest der Besprechung hörte sie nur mit halbem Ohr zu, während sie sich fieberhaft zu erinnern versuchte, wann der Kollege die Gelegenheit gehabt hatte, den Kriminalkommissar anzurufen. Dauernd musste Tom in ihr Ressort eindringen. Wahrscheinlich machte er das, weil ihm die Polizei- und Gerichtsberichterstattung prestigeträchtiger erschien als der allgemeine Lokalteil.

»Das war’s. Und nun wieder an die Arbeit, Kollegen. Ich bin heute bis halb drei hier, dann habe ich einen Termin außer Haus.« Hampenmann sprang wie ein Schachtelmännchen auf und eilte hinaus.

»Ich koche Kaffee. Wer möchte alles?« Isabell stolzierte in Richtung der Büros, schwenkte dabei ihre Hüften vor Tom her und zählte durch.

»Ich gehe eine rauchen.« Friedrich schlurfte zur Tür.

»Ich komme mit.« Lara folgte ihm. »Ich brauche frische Luft.« Nebeneinander gingen sie die Treppen hinunter.

 

»Hättest du lieber über die Leiche geschrieben?« Friedrich schnippte Asche in das große Silbermaul des Standaschenbechers neben der Eingangstür.

»Für Straftaten und Gerichtsberichte bin ich zuständig.« Lara versuchte, tief ein- und auszuatmen.

»Aber wenn Tom eh dort ist… und auch schon mit Stiller gesprochen hat …«

»Das wäre auch meine Aufgabe gewesen!«

»Er will dir doch nur helfen. Und mit KK Stiller kannst du doch eh nicht.«

»Ja, aber…«

»Dann lass ihn das doch machen, und sieh es einfach als Arbeitserleichterung. Ich glaube nicht, dass Tom dir eins auswischen will.« Friedrich drückte den Stummel aus. »Gehen wir wieder hoch. Manchmal klappt halt nicht alles so, wie man sich das wünscht.«

Lara schluckte. So wie Friedrich das sagte, klang alles ganz stimmig. Sah denn niemand, dass Tom versuchte, sie auszubooten?