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Matthias Hase ließ die Kiste mit den Einkäufen auf den Küchentisch poltern und keuchte dabei. Aus den feinen Schweißperlen auf seiner Stirn hatten sich warme Rinnsale gebildet, die nun langsam in Richtung der Augenbrauen sickerten.

Er öffnete das Fenster, holte die Küchenrolle und wischte sich mit einem Stückchen Krepp über die Stirn. Sein Appetit auf ein warmes Mittagessen war ihm gründlich vergangen. Jedes Mal das gleiche Theater. Er schaffte es nie, in der Woche einzukaufen, und musste sich am Wochenende ins Getümmel stürzen. An den Sonnabenden war es in den Supermärkten immer besonders voll. Er hasste es, zwischen all den Menschen nach Lebensmitteln suchen zu müssen. Noch mehr als Einkaufen aber hasste er das Auspacken und Einräumen der Lebensmittel.

Mit einem Seufzen betrachtete Matthias den Inhalt der blauen Klappkiste. Es nützte nichts. Die Sachen würden sich nicht von allein in den Kühlschrank stapeln. Und lange auf dem Tisch stehen lassen konnte man sie bei der Wärme auch nicht. Noch einmal tupfte er sich mit dem Küchenkrepp über das Gesicht und machte sich dann an die Arbeit.

Ein laues Lüftchen wehte durch das Fenster herein und kühlte sein erhitztes Gesicht. Draußen surrte ein Fahrrad vorbei. Ein Kind kicherte. Doch Matthias Hase hörte nichts davon. Seine Gedanken waren bei einer Gründerzeitvilla mit einem Dämonengesicht über der Tür.

Seit letztem Dienstag, als er die Seiten über das Kinderheim  – sein Kinderheim  – im Internet entdeckt hatte, hatte Matthias es jeden Abend kaum erwarten können, den Computer hochzufahren und in seinen Posteingang zu schauen, aber der »Postmaster« hatte ihm bisher nicht geantwortet. Auch die Seiten über das Heim waren nicht mit weiteren Inhalten gefüllt worden. Vielleicht war der Verfasser im Urlaub oder hatte wenig Zeit. Oder er wollte nichts mit den ehemaligen Zöglingen zu tun haben.

Davor fürchtete sich Matthias am meisten, denn er brauchte den anderen, brauchte dessen Wissen, seine Informationen über andere Kinder, mehr noch aber über die Erzieher, denn obwohl er sich seit einer Woche den Kopf zermarterte, wollten ihm weder weitere Details über das Leben im Heim noch die fehlenden Namen der Aufpasser einfallen.

Mit sanftem Schmatzen saugte sich die Kühlschranktür fest. Matthias faltete die Klappkiste zusammen und brachte sie in den Flur. Dann holte er sich eine Pepsi light und ging ins Arbeitszimmer. In seinem Kopf begann es zu summen.

 

Die Windows-Musik ertönte. Matthias nahm einen Schluck Cola. Nach dem Abstellen zitterte die Flüssigkeit im Glas noch ein bisschen. Vorsichtig senkte er die Finger auf die Tasten und loggte sich in seinen E-Mail-Account ein. Es dauerte scheinbar endlose Sekunden, bis das Bild sich aufgebaut hatte. Matthias kniff die Augen zusammen und öffnete sie sofort wieder. Das Summen hinter seiner Stirn verdichtete sich zu einem Raunen. Wie von selbst senkte sich der Zeigefinger auf die linke Maustaste und klickte auf die Mail mit dem Absender »postmaster@kinderheim-ernst-thaelmann.de«.

Lieber Matthias,

 

vielen Dank für Deine Zeilen! Ich habe mich unheimlich darüber gefreut!

Ich will mich kurz vorstellen, denn wie Du ja schon selbst bemerkt hast, habe ich es noch nicht geschafft, die persönlichen Informationen über mich ins Netz zu stellen. Mein Name ist Sebastian Wallau, und ich bin im Frühjahr 1988 in das Kinderheim »Ernst Thälmann« gekommen. Bei meiner Ankunft war ich dreizehn.

Du schreibst, Du warst von 1976 bis 1987, als Du achtzehn geworden bist, im Heim. Fast elf Jahre  – Mann, das ist ganz schön lang!

Da ich erst 1988 da war, können wir uns also nicht begegnet sein. Aber das macht nichts, wir können uns trotzdem austauschen, oder?

Weil das Heim zum Jahresende 1989 aufgelöst wurde, dauerte mein Aufenthalt nur anderthalb Jahre. Zu meinem Glück, kann ich heute sagen. Ich war dann noch bis zu meinem 18. Lebensjahr in der Kinderarche Sachsen. Jetzt lebe ich in Zwickau. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.

Nun aber zu Deinen Fragen. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Es gab ja etliche Erzieher  – Frühschicht, Mittagsschicht und Nachtschicht  –, und man hatte nicht mit allen zu tun.

Als ich im Frühjahr 1988 hinkam, war die Heimleiterin eine Frau Sagorski. Kanntest Du sie auch? Sie machte anfangs einen sehr netten Eindruck, war herzlich, bemühte sich um mich und gab die liebenswürdige, besorgte Erzieherin. Ich war ziemlich entsetzt, als sich herausstellte, dass diese Freundlichkeit nur Heuchelei war. Sehr schnell wurde deutlich, dass diese Frau immer nur dann die Nette mimte, wenn jemand Offizielles im Heim war. Kaum verließen uns die Besucher, fiel ihre Maske, und sie wurde mit einem Schlag herrschsüchtig, zänkisch und bösartig. Eine richtige Domina!

Wir Kinder versuchten, ihr tunlichst aus dem Weg zu gehen, aber immer gelang uns das nicht. Die Sagorski hockte zwar die meiste Zeit in ihrem Büro, telefonierte, füllte Akten aus oder hielt Besprechungen ab, aber ab und an zitierte sie einen von uns zu sich.

Matthias ballte die Fäuste, schloss die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eine kleine dicke Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Sie saß hinter ihrem riesigen Schreibtisch, fuchtelte mit den Armen und grinste dabei höhnisch. Ihr Mund öffnete und schloss sich, aber er konnte kein Wort hören. Wieso hatte er sich bis jetzt nicht an die Sagorski, diese gefühllose, unbarmherzige Heimleiterin erinnert? Auch ihn hatte sie in ihr Büro zitiert, auch er musste vor ihr auf dem harten Bürostuhl sitzen und ihre keifende Stimme über sich ergehen lassen, auch er hatte unter ihrer Großmannssucht gelitten. Die Sagorski hatte die Kinder nicht persönlich gequält, das überließ sie ihren Untergebenen. Matthias öffnete die Augen wieder. Die Sternenpunkte des Bildschirmschoners flogen auf ihn zu. War jemand wie die Sagorski es wert, bestraft zu werden? Körperlich hatte sie niemandem Schaden zugefügt, aber die Demütigung durch permanente Erniedrigung war schrecklich gewesen. Er hielt die Hände mit den Handflächen nach unten vor sich hin und betrachtete seine Fingerspitzen. Sie zitterten.

Matthias beschloss, die Entscheidung auf später zu vertagen. Vielleicht hatte Sebastian noch mehr Namen für ihn.

Dann war da noch Herr Meller. Ich glaube, er hieß mit Vornamen Siegfried, aber wir nannten ihn nur »Fischgesicht«. Du müsstest ihn kennen, denn es hieß, dass Meller schon ewig im Kinderheim gearbeitet hätte. Er hatte diese ekelhaft roten Schlauchboot-Lippen. Hätte es das in der DDR schon gegeben, ich hätte geschworen, dass er sie sich hat aufspritzen lassen! Meller war ein Schwein. Ich weiß von mehreren Kindern, dass er sie im Keller gequält hat. Dabei war Wasser sein bevorzugtes Mittel. Ich blieb zum Glück verschont, vielleicht weil ich ein Junge war  – Meller mochte lieber kleine Mädchen  –, vielleicht auch, weil ich mich sehr schnell anpasste und alles tat, was er anordnete. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Ich möchte ihm jedenfalls nie wieder begegnen!

Das wirst du auch nicht. Meller wird niemanden mehr mit Wasser foltern. Matthias Hase lächelte sanft und bedauerte es, Sebastian nichts von Mellers Strafe schreiben zu können. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Bauch aus und flutete langsam nach oben. Es war ein atemberaubendes Gefühl. Er nahm einen Schluck Cola und las weiter.

Außer Meller erinnere ich mich noch an eine Frau Gurich. Ihren Vornamen weiß ich leider nicht. Die Sagorski und die Gurich sahen sich ziemlich ähnlich. Sie hätten Schwestern sein können. Kanntest Du die Gurich auch? Ihr Spitzname war »Miss Piggy«, weil ihre Nase wie die eines Schweines aussah.

Kindern, die ins Bett gemacht hatten, hängte sie einen Schweineschwanz an den Rücken. Sie hat sicher nicht geahnt, wie wir sie genannt haben.

Matthias betrachtete den Namen auf dem Bildschirm und buchstabierte ihn noch einmal stumm, aber weder bei GURICH noch bei »Miss Piggy« tauchten irgendwelche Bilder in seinem Kopf auf. Wahrscheinlich hatte die Erzieherin erst nach seinem Aufenthalt angefangen, im Heim zu arbeiten. Er nahm sich vor, seinen neuen Brieffreund danach zu fragen.

 

Matthias betrachtete die Fernbedienung in seiner Rechten und wusste im ersten Augenblick nicht, was er damit anfangen sollte. Er saß auf dem Sofa, gemütlich in eine Ecke gekuschelt, die Patchworkdecke über den Füßen, neben sich auf dem flachen Tisch ein halbvolles Glas Rotwein. Im Fernsehen liefen die Nachrichten. Der Ton war auf stumm gestellt. Er musste eingeschlafen sein, ohne es zu merken. Die Arbeitswoche hatte ihn anscheinend mehr geschafft, als er es gedacht hatte.

Nur langsam arbeiteten sich die Erinnerungen in seinem Bewusstsein ans Licht. Diese E-Mail von Sebastian Wallau hatte ihn ziemlich durcheinandergebracht. All die Einzelheiten, die Spitznamen, die Ereignisse wirbelten durch seinen Kopf wie trockenes Laub im Herbstwind. Er schaltete den Fernseher aus und wurstelte die Beine aus der Decke.

In der Küche goss er den restlichen Rotwein in die Spüle. Draußen wurde es schon dunkel. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er fast drei Stunden geschlafen hatte. Aber das machte nichts, schließlich war Wochenende, und er konnte so lange auf dem Sofa schlafen, wie er wollte. Und jetzt hatte er Hunger.

Matthias Hase dachte über den weiteren Verlauf des Abends nach. Er hatte zwei neue Namen  – Gurich und Sagorski. Da er diese Frau Gurich nicht kannte, würde er zuerst Nachforschungen über die Heimleiterin anstellen, auch wenn noch nicht entschieden war, ob er sie überhaupt bestrafen wollte. Darüber konnte er sich später noch Gedanken machen.

Sagorski

Obwohl es ein seltener Name war, spuckte das Internet-Telefonbuch hunderte von Einträgen zu dem Namen aus. Matthias betrachtete die rosa unterlegte Seite und überlegte dabei, wie er die Trefferzahl eingrenzen konnte. Der Vorname der mopsgesichtigen Frau wollte ihm noch immer nicht einfallen, aber vielleicht wohnte die Heimleiterin noch in der Nähe des ehemaligen Kinderheims. Mit der Umkreissuche fand er drei Sagorskis, allerdings alle drei mit männlichen Vornamen. Das musste jedoch nichts bedeuten, denn oft wurde nur der Name des Mannes in die Telefonbücher eingetragen. Schnell kritzelte Matthias Adressen und Telefonnummern auf einen Zettel und schaute dann bei Google Maps nach, wo die drei wohnten. Morgen war Sonntag. Er würde genug Zeit haben, der Reihe nach zu den drei Häusern zu fahren und zu schauen, ob »seine« Frau Sagorski dabei war. Ein Vorwand, um an der Tür zu klingeln und, falls sie nicht selbst öffnete, nach ihr zu fragen, würde sich auch noch finden. Alles zu seiner Zeit. Auch die Entscheidung, ob die Heimleiterin ebenfalls bestraft werden sollte, ließ Matthias Hase offen. Seine innere Stimme würde es ihm sagen, wenn er ihr gegenüberstand.