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»Guten Morgen, liebe Kollegen. Hatten Sie ein schönes Wochenende?« Der Redaktionsleiter reckte sich, um größer zu wirken. Papier raschelte. »Sie haben den Ausdruck vor sich?« Alle nickten, und so setzte er fort: »Am Gesamtplan für diese Woche hat sich nichts geändert. Alle langfristigen Termine sind geblieben. Gehen wir das noch einmal schnell durch. Isabell  – Sie schreiben.« Die Praktikantin nickte eilfertig und klickte mit ihrem Kuli. Nach zehn Minuten war alles besprochen. Hampenmann blickte in die Runde. »Und nun noch ein paar Bemerkungen zum Schluss. Tom?« Der Angesprochene schaute auf, und Hampenmann lächelte ihm väterlich zu. »Die beiden Artikel über den Leichenfund in Grünau  – große Klasse. Das hast du sehr schön geschrieben. Weiter so. Gibt es in dem Fall schon Neuigkeiten?«

»Nein, Chef. Jedenfalls noch nichts, was wir veröffentlichen könnten.«

Lara hatte das Gefühl, Tom drücke seinen Brustkorb noch ein bisschen weiter heraus, während er sich Mühe gab, nicht zu erfreut dreinzuschauen. Sie grub die Schneidezähne in die Unterlippe. Weiter so. Das bedeutete wohl, der Kollege sollte Fortsetzungen über die Plattenbauleiche schreiben. Nicht etwa sie. Andererseits hatte er noch nichts Neues erfahren. Sagte er zumindest.

»Das war’s für heute. Wer Fragen hat  – ich bin bis vierzehn Uhr in meinem Büro, danach habe ich einen Außentermin. An die Arbeit.« Hampenmann erhob sich. Das war das Zeichen für alle anderen, es ihm nachzutun. Mappen wurden zugeklappt, Stühle scharrten. Einer nach dem anderen marschierte hinaus.

Lara betrachtete Friedrichs rosakariertes Hemd. Gewagte Farbe für einen fast Sechzigjährigen. »Außentermin, hm?« Friedrich grinste zu seinen gemurmelten Worten. »Wahrscheinlich in einem Edellokal mit einem dieser unheimlich wichtigen Managertypen. Oder noch besser  – mit einer gutaussehenden Tussi, die ihre Lippen viel zu rot geschminkt hat.« Lara musste lächeln.

»Ihr solltet nicht lästern.« Tom ging an ihnen vorbei und steuerte seinen Platz an.

»Du musst dich gerade aufregen …« Friedrichs Antwort hörte Tom nicht. Er hatte sich schon auf seinen Drehstuhl plumpsen lassen und fixierte angestrengt den Bildschirm.

»Ich geh eine rauchen.« Friedrich verschwand nach draußen. Lara setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, den Redaktionsplan mit ihren Terminen abzugleichen.

»Was ist eigentlich mit dem Prozess gegen diesen ehemaligen Klinikarzt, der Kinder missbraucht haben soll?« Toms Stimme durchkreuzte ihre Überlegungen.

»Was soll damit sein?«

»Machst du die Berichterstattung?«

»Wer sonst?« Vor Laras Augen flackerten die Tabellenzeilen.

»Ich hab ja nur gefragt. Hast du etwa schlechte Laune?«

»Nein. Ich war in Gedanken.« Lara versuchte, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen. Wollte der Lackaffe ihr diesen Fall jetzt auch noch abspenstig machen?

»Dann ist es ja gut.« Sie hörte an Toms Stimme, dass er aufgestanden war. Sehen konnte Lara es nicht, weil sie noch immer auf ihren Terminplaner starrte. Der Kollege sollte auf keinen Fall merken, dass sie sich von ihm provozieren ließ. Ihr Zorn verlieh dem Papier einen rötlichen Schimmer. Pass bloß auf, mein Freund, dass du nicht zu übermütig wirst!

»Hallo miteinander!« Die Tür flog an die Wand, und Jo stürmte herein, ein breites Grinsen im Gesicht. »Tolles Wetter heute!« Der Fotograf hob kurz die Hand und winkte den aufschauenden Kollegen zu. Dann lächelte er Lara an. Ihre Empörung verflog so schnell, wie sie gekommen war.

»Trinkst du einen Kaffee mit mir?« Jo nahm seine Kameraausrüstung von der Schulter und legte sie auf eine Ecke von Laras Schreibtisch.

»Gern.« Im Aufstehen erhaschte sie Toms argwöhnischen Blick. Er schien sie auf dem Weg in die kleine Küche zu verfolgen.

 

»Na, wie stehen die Aktien?« Jo hielt die bauchige Tasse mit beiden Händen umfasst.

»Alles wie gehabt. Hampenmann spielt den Zirkusdirektor, Hubert ist maulfaul wie immer, Christin habe ich seit einer Woche nicht gesehen, Friedrich qualmt eine nach der anderen, Tom sieht zu, dass er seine Schäfchen ins Trockene bringt, und Isabell ist bald weg.« Lara dachte kurz darüber nach, ob Tom der Praktikantin auch nur eine Träne nachweinen würde, fand den Gedanken dann aber nebensächlich. Es würde sicher bald naiver Nachschub kommen.

»Ärgert dich dein Kollege immer noch?«

»Was heißt ›ärgern‹, Jo? Ich werde das Gefühl nicht los, dass er dauernd an meinem Stuhl sägt.«

»Kannst du das beweisen?«

»Nicht so richtig.« Sie fasste im Telegrammstil die Ereignisse um die Plattenbauleiche zusammen.

»Davon habe ich gehört. Der gute Tom macht jetzt sogar die Fotos selbst, hm?«

»Eines. Weil er gerade ›in der Nähe‹ war, hat er gesagt.«

»Aha. Ich hoffe nicht, dass der Mann denkt, er könnte ausgebildete Fotografen ersetzen.« Jo goss sich noch eine halbe Tasse nach. »Überlässt du ihm denn nun den Fall?«

»Er hat ihn doch schon. Ich habe aber trotzdem am Wochenende ein bisschen recherchiert.« Lara dachte an ihre fruchtlosen Versuche, den Jugendlichen in Grünau irgendwelche Informationen zu entlocken, und daran, wie sie entnervt nach Hause gefahren war. Sie sprach leiser weiter: »Vielleicht finde ich noch etwas Interessantes heraus, was er nicht weiß.«

»Du lässt dich nicht unterkriegen, was?« Jo zwinkerte wieder und Lara hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, er flirte mit ihr.

»Hast du mal wieder was von Mark gehört?« Der Fotograf hatte den Psychologen letztes Jahr bei der gemeinsamen Jagd auf den Serienmörder Martin Mühlmann, der auch Lara in seinen Fängen gehabt hatte, kennengelernt.

»Wir telefonieren fast jede Woche.« Lara fiel wieder ein, dass sie ihre neuen »Halluzinationen« mit Mark besprechen wollte. Draußen klapperten leise die Tastaturen. Irgendwo klingelte ein Telefon. Sie stellte ihre leere Tasse in die Spüle.

»Hi, Lara! Hi, Jo!« Isabells Stilettos klapperten im Takt zu ihren Worten über die Bodenfliesen. »Wir gehen jetzt was essen!«

»Wer ist wir?« Lara beobachtete, wie Jo den kurzen Rock der Praktikantin musterte, und verkniff sich ein Grinsen.

»Ich und Tom.«

»Na dann, guten Appetit!« Der Esel nannte sich immer zuerst. Isabell und Tom gingen gemeinsam essen, wie könnte es anders sein. Und als Nachtisch gab es dann ein schnelles Nümmerchen auf der Damentoilette.

»Wollen wir zwei auch etwas essen gehen?« Lara hörte Jos Frage, sah sich selbst mit dem Fotografen in einer Toilettenkabine, spürte Hitze von ihrem Hals nach oben steigen und wandte sich ab. »Gern. Ich spül das hier nur schnell ab.«

»Dann lade ich eben noch die Fotos von dem Auffahrunfall auf der Autobahn herunter.« Jo verschwand aus der Küche, und Lara strich sich mit dem nackten Arm über die Stirn. Das hatte ihr noch gefehlt.

Anscheinend vermisste ihr Körper Sex. Es waren mittlerweile  – sie rechnete kurz nach  – schon fast elf Monate, seit Peter ausgezogen war.

 

»So, meine Liebe. Ich verabschiede mich gleich hier.« Jo war vor dem Bistro stehen geblieben und blinzelte in die Sonne. »Hab noch ein paar Außentermine.«

»Und ich mache mich auf den Rückweg. Nicht dass der Hampelmann auf die Idee kommt, ich dehne meine Mittagspause zu lange aus.«

»Und was machst du heute noch?«

»Zuerst rufe ich noch einmal in der Rechtsmedizin an.« Lara spürte die trockene Wärme von Jos Handfläche.

»Wegen dieser Plattenbauleiche?«

»Ja. Ich wüsste gern, ob bei der Obduktion noch etwas Interessantes entdeckt wurde, außer der Tatsache, dass der Mann ertränkt wurde.«

»Er wurde ertränkt?« Das letzte Wort betonte Jo. »Das hast du vorhin aber nicht erzählt. Ich hatte angenommen, dass das irgendein Penner war. Totgesoffen oder Herzstillstand, so etwas in der Art.«

»Scheiße.« Lara griff nach Jos Oberarm. »Das ist absolut vertraulich. Ich habe es von einer ›zuverlässigen Quelle‹, wie es so schön heißt. Du musst das für dich behalten, bis die offizielle Verlautbarung raus ist.«

»Klar doch. Ertränkt bedeutet doch aber…«

»Vergiss es Jo, bitte. Ich komme sonst in Teufels Küche.«

»Na gut. Weil du es bist.« Er grinste dabei und rückte dann den Schultergurt seiner Kameraausrüstung zurecht. »Glaubst du, die werden dir in der Rechtsmedizin Auskunft geben?«

»Wenn ich Doktor Seiler persönlich drankriege, dürfte es kein Problem sein. Er kennt mich von früheren Fällen.«

»Na, dann viel Glück!« Jo lächelte stärker, drehte sich um und marschierte davon. Seine Kamera schwang bei jedem Schritt fröhlich von vorn nach hinten.

Lara sah ihm noch einen Moment nach, dann suchte sie nach ihrem Handy und ging in die andere Richtung.

 

Auf Laras Computer erschien der letzte Artikel, an dem sie geschrieben hatte, ein Bericht über das Feuerwehrfest für die morgige Ausgabe. Sie ging ihn noch einmal Zeile für Zeile durch, während sie über das Gespräch mit dem rechtsmedizinischen Institut nachdachte. Mit der Frau, die am Telefon gewesen war, hatte sie noch nie zu tun gehabt. Nach eindringlicher Nachfrage war diese schließlich damit herausgerückt, dass der endgültige Bericht nicht vor morgen vorliegen werde. Die Journalistin könne sich ja dann beim Pressesprecher der Polizei danach erkundigen.

Lara spürte noch immer Reste von Groll in ihrem Innern. Dieser Montag schien nicht ihr Tag zu sein.

Sie speicherte den Feuerwehrartikel und fragte sich gleichzeitig, wieso die Rechtsmediziner dieses Mal eigentlich so lange für ihren Abschlussbericht brauchten. Eine ganz »normale« Autopsie dauerte im Höchstfall einen Tag. Und die Plattenbauleiche war letzten Dienstag gefunden worden  – vor fast einer Woche. Eigentlich konnte es nur zwei Gründe geben  – entweder die Rechtsmediziner waren dermaßen überlastet, dass die Toten sich türmten, oder man wartete erst noch das Ergebnis weiterer Untersuchungen wie Drogenscreening und Laboranalysen ab. Ersteres erschien unwahrscheinlich. Schließlich hatte Kriminalobermeister Ralf Schädlich sich schon letzten Mittwoch wegen des Ertränkens verplappert. Diese Information konnte er nur aus der Gerichtsmedizin gehabt haben. Was wiederum hieß, dass die die Leiche am Mittwoch schon unter dem Messer gehabt hatten.

Lara fand ihre Beweiskette schlüssig. Sie sah zu Toms leerem Stuhl hinüber. Entweder dehnte der Kollege seine »Mittagspause« mit Isabell über Gebühr aus oder er war schon wieder zu einem Termin außer Haus, was auch immer das heißen mochte. Da Hampenmann ihnen heute Vormittag verkündet hatte, dass er ab vierzehn Uhr unterwegs sein würde, gab es keine Kontrollinstanz.

Der Bildschirm erwachte zum Leben. Neue Kurzmeldungen liefen über den Newsticker. Lara überflog die Zeilen flüchtig. Es war nichts Relevantes für die Tagespresse dabei.

Aus der Kaffeeküche drang Isis schrilles Kichern. Lara registrierte, dass sich damit die Frage, ob Toms Mittagspause mit der Praktikantin schon beendet war, erledigt hatte.

Ihre Gedanken kreisten noch immer um den Autopsiebericht, während sie lustlos ihre Notizen für die geplante Hintergrund-Serie zum Thema »Gewalt gegenüber Wehrlosen  – Verbrechen an Kindern« aufrief.

Wenn der vollständige Bericht der Rechtsmedizin morgen kommen sollte, dann hieß das noch lange nicht, dass dieser auch an die Öffentlichkeit gelangen würde. Oft hielten die Ermittler Erkenntnisse zurück, um ihre Jagd nach den Tätern nicht zu gefährden.

Sie konnte morgen den Pressesprecher anrufen und nachfragen, aber damit war noch nicht gesagt, dass er ihr auch etwas mitteilen würde. Dazu kam, dass Tom mit Sicherheit das Gleiche vorhatte. Hampenmann hatte ihn mit seinem »Weiter so« ja förmlich angestachelt, an der Sache dranzubleiben.

Lara zog ihr Handy heran und suchte im Menü nach der Telefonnummer von Kriminalobermeister Schädlich. Vielleicht hatte er Lust auf einen Kaffee mit ihr, morgen oder übermorgen. War es letzte Woche im Lindencafé nicht nett gewesen?

Das schlechte Gewissen regte sich nur kurz. Die insistierende Stimme in ihrem Kopf verstummte fast augenblicklich, als die Tür aufschwang, Tom hereinspazierte und sich umsah. Seine Augen glühten förmlich. Nein, wenn sie es recht bedachte, fühlte sie sich nicht schlecht bei der Sache. Ungewöhnliche Ereignisse erforderten ungewöhnliche Maßnahmen.