30

MITHILFE VON DAUMENSCHRAUBEN KONNTE DIE INQUISITION DIE FINGERGLIEDER DES DELINQUENTEN LANGSAM ZERQUETSCHEN, SO LANGE, BIS DAS BLUT HERVOR-SPRITZTE. DIE PROZEDUR DAUERTE BIS ZU EINER STUNDE. GESTAND DER GEFOLTERTE NOCH IMMER NICHT, GRIFF MAN ZU DEN BEINSCHRAUBEN, DIE AUCH »SPANISCHER STIEFEL« GENANNT WURDEN. AUCH DAS HINEINTREIBEN SPITZER GEGENSTÄNDE WIE NÄGEL, NADELN ODER KLINGEN UNTER FINGER- ODER FUSSNÄGEL WAR EINE BELIEBTE METHODE, JEMANDEN ZUM REDEN ZU BRINGEN.

 

Matthias Hase sah dem Mann vom Auto aus nach. Die im Takt schwingenden Stöcke gleißten wie flüssiges Silber. Rainer Grünkern entfernte sich schnell. Matthias scannte das Ziffernblatt seiner Armbanduhr und rechnete die Ankunftszeit aus. Sein Zielobjekt funktionierte wie ein mechanischer Affe. Er walkte jeden Tag, am Wochenende anderthalb Stunden, in der Woche eine Stunde länger, weil er da eine größere Tour absolvierte. Heute war Sonntag, das hieß, Matthias hatte insgesamt neunzig Minuten zur Verfügung, bis der Mann wieder hier war. Das war ausreichend Zeit, um sich ein wenig in Grünkerns Wohnung umzusehen. Die Uhr zeigte 9:55 Uhr. Mit dem eingeplanten Sicherheitspuffer musste er spätestens um elf wieder in seinem Auto sitzen. Matthias öffnete die Fahrertür und stieg aus.

Das Klingelbrett zeigte zwanzig Namen. Grünkern stand ganz oben. Also wohnte er vermutlich in der obersten Etage. Matthias Hase fand das sehr gut. Je weiter oben jemand wohnte, desto weniger Leute gingen an dessen Eingangstür vorbei und desto weniger Menschen würden etwaige Geräusche hören, die aus der Wohnung drangen. Matthias studierte die Namen nur kurz, damit für einen außenstehenden Beobachter nicht der Eindruck entstand, er wisse nicht, wohin. Wenn er erst einmal drin war, konnte er sich Zeit lassen. Der Zeigefinger fuhr sanft über die schwarzen Knöpfe und legte sich dann auf einen von ihnen.

Die Gegensprechanlage knackte und knisterte. Dann ertönte der Summer. Matthias konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, während er die Tür mit dem Fuß aufstieß. Die Leute in diesen Plattenbaublocks waren nur an sich selbst interessiert. Klingelte es unten, fragten die meisten von ihnen gar nicht erst, wer da war, sondern drückten einfach den Türöffner. Dass so auch Vertreter und womöglich auch Einbrecher oder Penner ins Haus gelangten, schien sie nicht zu stören.

Matthias sah sich flüchtig im Eingangsbereich um und lauschte auf Geräusche, die darauf hindeuteten, dass derjenige, der eben die Tür geöffnet hatte, nun auf einen Besucher wartete. Als alles still blieb, machte er sich auf den Weg nach oben. Zur Sicherheit trug er das, was er seine »Berufsbekleidung« nannte: eine blaue Baumwollkluft, die wie ein Arbeitsanzug aussah, dazu die dunkle Baseballkappe. Zwei große Pakete mit Hermes-Etiketten vervollständigten die Maskerade. Sie waren leer, und er konnte sie so hoch halten, dass sie sein Gesicht verdeckten.

Niemand achtete auf einen Postboten. Er war ein Dienstleister. Die große Umhängetasche mit dem Logo des Paketdienstes unterstützte seine Verkleidung.

Im zweiten Stock roch es nach Schmorbraten und gedünsteten Zwiebeln. Bruchstücke eines Violinkonzertes schwebten durch das Treppenhaus. Matthias zwinkerte die Schweißperlen beiseite, die ihm über die Stirn rannen. Die Luft schien von Etage zu Etage stickiger zu werden. Er hatte recht gehabt. Rainer Grünkern wohnte ganz oben. Blitzschnell ließ er den Blick über die beiden benachbarten Eingänge gleiten. Keine Türspione. Zu DDR-Zeiten hatte man das nicht für nötig befunden. Es gab auch so genug Aufpasser. Nach der Wende hatte sich manch ein Mieter nachträglich einen einbauen lassen, aber diese hier nicht. Matthias stellte die Pakete ab und öffnete seine Umhängetasche. Die Wohnung ganz oben, keine heimlichen Beobachter. Das Glück war ihm hold. Jetzt musste er nur noch das Türschloss knacken.

Er hatte geübt. Mit nagelneuen Zylinderschlössern aus dem Baumarkt. Zum »Lockpicking«, wie es die Experten nannten, gab es sogar Anleitungsvideos im Internet. Das Werkzeugbesteck ähnelte dem eines Zahnarztes. Mittlerweile schaffte er es in knapp einer Minute. Er drückte und ruckelte an den beiden dünnen Metallstäbchen, bis es klickte und sich der Riegel drehen ließ.

Schnell schob Matthias die beiden Pakete in den Flur und schloss die Tür. Er war drin. Sein Puls raste. Ein kurzer Check zeigte, dass es zwei Minuten nach zehn war. Noch fast eine Stunde. Jetzt konnte er sich Zeit lassen.

Zuerst musste die Tür wieder verschlossen werden. An einer Hakenleiste neben der Gegensprechanlage hingen ein braunes Lederetui und mehrere einzelne Schlüssel. Rainer Grünkern hatte ein Schlüsselband um den Hals hängen gehabt, als er losmarschiert war. Matthias griff nach dem Etui. Gleich der erste Schlüssel passte. Er drehte ihn zweimal um und steckte ihn dann in die rechte Hosentasche. Ein kleiner Puffer, falls sein Freund eher als errechnet zurückkehrte. Nicht dass er das erwartete, aber es schadete nicht, gewappnet zu sein.

Matthias stellte die Umhängetasche neben die Pakete auf den Kokosteppich und sah sich um. Rechts ging eine Tür ab, links waren es zwei. Wie ein Tänzer setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis er in den ersten Raum links schauen konnte. Die Küche. Ein typischer schlauchförmiger Raum mit Einbauschränken links und rechts, der in vielen DDR-Plattenbaublocks gleich aussah. Es gab keinen Platz zum Sitzen. Nur weißes Holz und Chromgriffe; die Ceranfläche des Herdes spiegelte das hereinfallende Sonnenlicht. Die Arbeitsflächen waren leer, überall ungewöhnliche Sauberkeit. Das Einzige, was herumlag, war der Karton eines Fertiggerichtes. Das war nicht die klassische Küche eines alten Mannes, aber es hatte auch nicht den Anschein, dass eine Frau mit Rainer Grünkern hier lebte.

Die zweite Tür links war geschlossen. Matthias streifte sich Latexhandschuhe über, ehe er die Klinke herunterdrückte. Hier verbarg sich das Bad. Auch hier erwartete ihn klinische Reinheit. Weiße Badewanne, weißes Waschbecken, weißer Toilettendeckel, weiße Fließen, weiße Handtücher. Das Weiß war so hell, dass es in den Augen schmerzte. Jetzt war sich Matthias sicher: Rainer Grünkern lebte allein. Frauen hinterließen vor allem in Badezimmern nicht zu übersehende Spuren: Parfümflaschen, Haarbürsten, Schmuck, irgendwelchen Schnickschnack. Hier fand sich nichts davon. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, erhaschte einen Blick auf sein verwirbeltes Bild im Spiegel und ging wieder hinaus. Küche und Bad konnte er vergessen. Außer dass die Person, die hier lebte, ein Reinlichkeitsfanatiker war, sagten sie nichts über den Charakter des Bewohners aus. Im Hinausgehen zog Matthias schnüffelnd die Luft ein. Ein unmerklicher Duft nach Lavendel und Koriander, darunter etwas Eichenmoos gemischt mit Minze und Neroli. Er ging zurück und öffnete aufs Geratewohl den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Die karibikblaue Flasche stand neben dem Rasierzeug. Davidoff Cool Water. Nachdenklich schloss Matthias die Schranktür. Ging der Typ etwa parfümiert walken? Wenn ja, war das außer der auffallenden Hygiene die erste Eigentümlichkeit, die er entdeckt hatte.

Zwölf nach zehn. Er hatte noch eine gute Dreiviertelstunde, um etwas zu finden. Wenn es etwas gab. Eigentlich hatte Matthias geplant, sich die Wohnung des Mannes anzusehen, um sich ein Bild von dessen heutigem Lebensstil zu machen. Außer nebelhaften Erinnerungsblitzen und der unbestimmten Ahnung, dass da etwas Schreckliches im Verborgenen schlummerte, hatte sein Gedächtnis bis jetzt noch nichts Relevantes über den ehemaligen Heimleiter zutage gefördert. Dabei war dieser Mann laut Aussagen seiner Nachfolgerin Birgit Sagorski für mindestens zehn Jahre Leiter im Kinderheim Ernst Thälmann gewesen.

Matthias Hase wollte niemanden zu Unrecht verurteilen und bestrafen, sondern sich sicher sein. Und dazu musste er in diesem Fall zuerst versuchen, mehr über das Zielobjekt herauszufinden.

Die Tür, die rechts vom Flur abging, führte in ein Wohnzimmer, das von einer großen Fensterfront mit Balkon dominiert wurde. Auch hier herrschten helle Farben vor. Die Couch war mit cremefarbenem Leder bezogen, das mit dem gelblichen Birkenfurnier der Schrankwand harmonierte. Matthias betrachtete die Buchrücken. Technisches und Historie. Keine Romane. Kein Nippes hinter den Glastüren. Keine Familienbilder in kitschigen Rahmen. Nichts auch nur irgendwie Persönliches. Die gesamte Wohnung strahlte Ablehnung und soziale Kälte aus, die Einrichtung verkündete: Hier wohnt ein kaltherziger Mensch, der klinische Verhältnisse schätzt.

Ohne sich der Balkontür zu sehr zu nähern, spähte Matthias hinaus. Die Blumenkästen waren leer. Tote braune Erde. Der gegenüberliegende Block lag so nah, dass sich die Bewohner, wenn sie es wollten, etwas zurufen konnten.

Neben dem Ledersofa gab es eine weitere Tür. Das Schlafzimmer. Die Armbanduhr zeigte 10:16 Uhr. Matthias drückte die Klinke nieder und blieb, verblüfft über die Finsternis, im Türrahmen stehen. Links flackerten ein paar winzige Lämpchen, blau und grün. Sonst war es Nacht in Rainer Grünkerns Schlafzimmer.

Seine Finger tasteten nach dem Lichtschalter, und als das Licht aufflammte, wechselte Matthias Hases Gesichtsausdruck von überrascht zu konsterniert.

Der Raum sah aus wie die Schaltzentrale eines Flughafentowers. Links befand sich ein von Wand zu Wand reichender Schreibtisch mit übereinandergestapelten Ablagen, darunter und daneben auf dem Boden mehrere Computer, zwei Monitore und verschiedene Geräte, mit denen Matthias nichts anfangen konnte, graue und schwarze Kästchen, an denen kleine Leuchtdioden blinkten. Die der Tür gegenüberliegende Wand wurde von einem bis zur Decke reichenden Regal eingenommen, vor dem ein braungemusterter Vorhang hing.

Matthias machte zwei schnelle Schritte in den Raum hinein. Die Luft war unangenehm stickig. Erst jetzt bemerkte er die Liege, die an der rechten Wand, halb von der Tür verborgen, stand. Schwarze Satinbettwäsche. Matthias fühlte ein kaltes Rinnsal seinen Rücken herablaufen.

Das Fenster hinter dem Schreibtisch war von einem blickdichten Metallrollo verschlossen, durch das kein Lichtstrahl drang. Die Eisfinger an Matthias’ Rücken kribbelten aufwärts in Richtung Nacken. Wozu brauchte jemand solch eine Barrikade, wenn er nichts zu verbergen hatte? Unschlüssig ließ er den Blick von den Computern zu dem verhangenen Regal und wieder zurück schweifen. Neben den beiden Monitoren blinkten die grünen Ziffern einer Digitaluhr: 10:20 Uhr. Noch vierzig Minuten. Matthias entschied sich für das Regal. Vier schnelle Schritte brachten ihn an sein Ziel. Der Vorhang war am oberen Brett nur mit Reißzwecken angeheftet. Er würde vorsichtig sein müssen. Der Stoff roch ein bisschen muffig, wenn man direkt davorstand. So, als würde hier nie gelüftet. Behutsam schob er die Latexfinger unter den Stoff.

Videos. Es mussten hunderte sein. Reihen von Videokassetten, penibel nebeneinander aufgereiht. Im oberen Fach stand die moderne Variante: DVDs. Auch hier die gleiche erbarmungslose Ordnung wie in den anderen Räumen. Rainer Grünkern war ein fanatischer Pedant. Die glänzenden Oberflächen der Schutzhüllen reflektierten das Licht, und er konnte die Titel auf den Rücken nicht lesen. Matthias trat noch dichter an das Regal, bis seine Nasenspitze die spiegelnden Oberflächen fast berührte.

»Kleine Wilde«. »Freche Gören«. »Schulmädchenreport«. »Feucht und feurig.« »Klein, aber oho.«

Es reichte. Er wandte den Blick ab. An seiner Schläfe hatte eine Ader begonnen, zu pulsieren. Matthias fröstelte es trotz der stickigen Wärme. Mittlerweile hatte die Eiseskälte seinen ganzen Körper erfasst. Der Vorhang fiel und verdeckte die unsägliche Parade von Filmen.

Einen Schritt vor dem Schreibtisch blieb Matthias stehen. An beiden Monitoren leuchtete ein orangefarbenes Lämpchen. Das bedeutete, sie waren nicht ausgeschaltet, sondern liefen im Standby-Modus. Auch das Flackern der LED-Lampen an den Kästchen deutete darauf hin, dass hier irgendetwas im Gange war. Die Computer waren an. Würde die Technik aufzeichnen, dass jemand in Grünkerns Abwesenheit hier herumgespielt hatte? Wen kümmerte das noch. Matthias streckte die Hand aus und legte sie ganz sachte auf die Maus.

Mit einem Knistern erwachte der Bildschirm zum Leben. Ein Fenster verkündete: »67 % von 1 Datei. 25 Minuten verbleibend«. Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, zog Matthias den Drehstuhl heraus, setzte sich und rollte dicht an den Schreibtisch heran. Der Chefsessel war weich gepolstert. Auch nach stundenlangem Sitzen würde man keine Beschwerden verspüren.

Die Digitaluhr neben ihm blinkte: 10:32 Uhr.

Matthias legte das Download-Fenster unten ab und öffnete den Internet Explorer. Jetzt würde sich zeigen, ob der gute Rainer Grünkern ein echter Crack war. Jeder Internetbrowser speicherte die besuchten Seiten, es sei denn, man änderte die Einstellungen und ließ den Verlauf bei jedem Herunterfahren löschen. Ein paar schnelle Tastenbewegungen zeigten, dass der Mann dies nicht für nötig gehalten hatte.

Ohne sich zu bewegen, fixierte Matthias die URLs. Er wusste, welche Portale der ehemalige Heimleiter besucht hatte, konnte es an den Bezeichnungen nach dem www. ablesen, und doch brauchte er Gewissheit. Der Zeigefinger senkte sich und drückte die rechte Maustaste nieder. Ein feines Klicken ertönte und die erste Seite baute sich auf.

Matthias Hase seufzte jämmerlich, und dann rollten seine Augen nach oben, sodass nur noch das Weiße zu sehen war.

 

Leises Knirschen eines Schlüssels im Schloss. Eine Tür klappte. Rascheln. Dann das Tappen bestrumpfter Füße über einen Kokosteppich. Murmeln.

Wie eine altersschwache Schlafpuppe öffnete Matthias die Augen. Vor ihm flimmerten Sterne über einen schwarzen Monitor. Die rechte Hand lag neben dem Mauspad. In seiner Kehle ätzte Säure, die Augen brannten, Nacken- und Rückenmuskulatur hatte sich zu harten Strängen zusammengekrampft. Eine weitere Tür klappte. Dann plätscherte Wasser. Leises Summen ertönte. Es klang wie ein Kinderlied, intoniert von einer Männerstimme. Matthias rieb sich mit den Fingern über die Stirn, schaute sich um. Bett mit schwarzer Satinwäsche, Regal mit Vorhang, Schreibtisch mit Computern.

Wie ein Blitz gleißte die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, auf. Das Summen wurde lauter, näherte sich.

Matthias sprang von dem Drehstuhl hoch, seine Füße verhedderten sich in den Kabeln unter dem Schreibtisch, kamen frei, er stolperte in letzter Sekunde hinter die geöffnete Schlafzimmertür, wobei er im Vorbeitaumeln mit dem Ellenbogen das Licht ausschaltete. Er versuchte, das Röcheln in seiner Kehle zu unterdrücken. In seinen Eingeweiden rumorte es.

Rainer Grünkern kam hereinmarschiert. Das Kinderlied, das er summte, war »Hänschen Klein«. Er ging, ohne sich umzusehen, zum Schreibtisch und beugte sich nach vorn. Der Bildschirm erwachte zum Leben. Weiß strahlte das Licht in den dunklen Raum hinein. Grünkern beugte sich noch etwas weiter nach vorn. Matthias hielt die Luft an und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber sein Gehirn war leer wie eine Wüste nach dem Sandsturm.

Dann, als spüre er die Anwesenheit von etwas Fremden im Raum, drehte der Mann am Schreibtisch sich ganz langsam um, die Hand noch immer auf das Mousepad gestützt. Matthias’ Muskeln erzitterten kurz und verkrampften sich dann noch mehr.

»Ich grüße Sie.« Rainer Grünkern hatte nicht einmal die Stimme erhoben. Ein kurzes Runzeln der Stirn, als er sah, wer da hinter der Tür stand. Dann erschien ein Lächeln im Gesicht des Mannes, das Matthias’ Herz ins Trudeln brachte. »Wir haben uns doch beim Walken gesehen, nicht?«