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An Mama und Papa
Wo seit ihr? Ich vermisse euch so ser. Liebe Mama, hoffendlich bist du wieder gesund. Bitte kommt und hohlt mich hier ab.
Bitte bald.
Ich habe euch ser lieb.
Eure Melissa
Matthias Hase betrachtete die Kinderschrift. Das Papier zitterte in seinen Händen. Es war schon ein bisschen vergilbt und die Ecken zerbröselten allmählich. Unter die Zeilen hatte das Kind noch ein großes rotes Herz gemalt.
Melissa war nicht lange bei ihnen gewesen, und doch hatte sich ihr Bild tief in sein Herz gegraben. Genau wusste er es nicht mehr, aber es konnte höchstens ein halbes Jahr gewesen sein. Eines Tages verschwand sie, wie sie gekommen war, verschwanden ihre Sachen auf geheimnisvolle Weise aus ihrem Schrank, verschwanden alle materiellen Erinnerungen; so als sei die Kleine nie dagewesen. Bis auf diesen Brief.
Matthias’ Gedächtnis hatte die Szene konserviert. Jede Einzelheit war noch vorhanden: der stickige Schlafsaal mit den Doppelstockbetten, sauber übereinandergefaltete Decken, das rötliche Muster des Linoleums, die müden Sonnenstrahlen, die zu den Fenstern hereinschienen, die tote Fliege auf dem Fußboden neben dem Tischbein. In der rechten Ecke des großen Zimmers, dort, wo es auch am Nachmittag dämmrig war, hatte Melissa gehockt, die Arme um die dünnen Beinchen geschlungen, das Gesicht zwischen den Knien versteckt. Sie musste ihn gehört haben, weil er sehen konnte, wie sie bei seinen Schritten erschauerte, aber sie hatte nicht aufgeschaut, hatte sich stattdessen nur noch stärker zusammengekrümmt.
Erst als seine Hand ihre Schulter sanft berührte – die Knochen waren unter der Haut deutlich zu spüren –, erst dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren gerötet und schimmerten feucht, und sie schniefte. Matthias wusste noch, dass er in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch gesucht, aber keines gefunden hatte. Sie trug »Affenschaukeln«, die gleiche Zopffrisur, die auch seine Schwester Mandy liebte. Vielleicht war es das gewesen, was sein Herz am stärksten berührt hatte.
Warum waren er und Melissa an diesem Tag eigentlich nicht bei den anderen gewesen? Nachmittags hatten die Kinder in den Schlafsälen nichts zu suchen, von zwei Uhr bis zum Abendessen saßen alle in dem Raum, den sie das »Hausaufgaben-Zimmer« nannten, und befassten sich mit Schularbeiten. Auch an den Wochenenden verbrachten sie die Nachmittage dort. Es gab immer etwas zu lernen oder vorzubereiten für das Kollektiv des Kinderheims, wie man die Kinder nannte. Irgendwie jedoch musste es ihnen an diesem Tag geglückt sein, sich der Aufsicht zu entziehen, und da hatten sie nun gehockt – der große, schlaksige Vierzehnjährige und das kleine, zarte Mädchen.
Nach einer Weile hatte Melissa aufgehört, zu schluchzen und ihm gezeigt, was sie in der Tasche ihres Kleidchens verbarg wie einen kostbaren Schatz. Diese Nachricht an Mama und Papa, die sie in ihrer schönsten Kinderschrift geschrieben hatte; heimlich, am Abend vorher, unter der Bettdecke.
Es war nicht erwünscht, dass die Kinder Botschaften an Verwandte schickten, und jeder Brief wurde vor dem Absenden sorgfältig kontrolliert. Melissa hatte Matthias erzählt, dass sie nicht wusste, wie sie ihre Eltern erreichen konnte, sie hatte keine Adresse, besaß keinen Umschlag und auch kein Geld für eine Briefmarke. Dann hatte sie wieder zu schniefen begonnen, und weil das kleine Häufchen Elend ihm fast das Herz brach, beschloss er, sich der Sache anzunehmen; auch wenn er sich sonst aus den Angelegenheiten der anderen heraushielt, um sich selbst zu schützen.
Die Kleine erinnerte sich nicht an besonders viele Details, nur dass ihre Mama sehr krank geworden war und der Vater jeden Tag Bier und Schnaps getrunken hatte. Irgendwann war die Mutter in eine psychiatrische Klinik – Melissa sagte »Klapse« und Matthias hörte die verächtliche Stimme ihres besoffenen Vaters heraus – eingeliefert worden. Der Vater war anscheinend schnell mit den Kindern überfordert gewesen. Und so war sie hier gelandet. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihren beiden älteren Schwestern geschehen war. Dann hatte sie wieder zu weinen begonnen.
Matthias faltete den Brief vorsichtig, um ihn nicht weiter zu beschädigen, und legte ihn in die geschnitzte Schatulle zurück. Draußen hupte ein Auto. Ein salziger Schweißtropfen rann an seiner Stirn herunter und bog an der Augenbraue rechts ab.
Melissas Brief hatte ihre Eltern nie erreicht, obwohl er ihr das hoch und heilig versprochen hatte, nachdem die Tränen versiegt waren. Matthias hatte ihr geschworen, ihn sicher für sie aufzubewahren, weil sie glaubte, dass er dies besser könne als sie. Keiner der Schränke war abschließbar, immer wieder verschwanden Sachen, aber die Älteren hatten fast alle irgendwo ein Versteck.
Es war ihm nie gelungen, herauszufinden, wo Melissas Eltern lebten oder was mit ihren Schwestern geschehen war. Und so war dieser Brief bis heute bei ihm geblieben. Eines aber hatte sich damals verändert – seit der Begegnung im Schlafsaal hatte Matthias Hase die kleine Melissa in sein Herz geschlossen und bemühte sich, so gut er konnte, sie zu beschützen.
Es waren damals nicht nur die Erzieher. Auch die Kinder, besonders die älteren unter ihnen, konnten grausam zueinander sein. Das schien unlogisch, schließlich wäre es für sie alle sinnvoller gewesen zusammenzuhalten, sich gegen die Willkür der Erwachsenen gemeinsam zur Wehr zu setzen, aber Logik funktionierte hier nicht. »Fressen oder gefressen werden« war die Devise. Entweder man hielt das alles aus oder man zerbrach. Matthias hatte es ausgehalten.
Aber jetzt, fast dreißig Jahre später, war es an der Zeit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Bedächtig schmeckte er den letzten Schluck Cola, ehe er den Computer einschaltete. Den Kindern im Heim vergab er ihre Bosheiten. Schließlich kannten die meisten von ihnen es nicht anders. Einige stammten aus Elternhäusern, in denen Schläge, Misshandlungen, Beleidigungen und Vernachlässigung an der Tagesordnung gewesen waren. Die Ungewollten waren schon im Babyalter fortgegeben worden. Andere waren krank oder schwer therapierbar – ab mit ihnen ins Heim. Ältere hatten die Schule geschwänzt, gestohlen oder einfach nur die falsche Musik gehört. Woher hätten diese Kinder und Jugendlichen wissen sollen, wie man sich »normal« verhielt? Und nicht zu vergessen – sie alle waren Kinder gewesen. Nein, den anderen Kindern konnte er verzeihen, nicht aber den Erziehern. Vor allem die Kleinen hatten es schwer gehabt. Sie waren eine leichte Beute für die Erzieher, konnten sich kaum zur Wehr setzen und litten meist schweigend. Melissa war es besonders schlecht ergangen, gerade weil sie so zart und klein gewesen war. Es war ein Glück für sie gewesen, dass ihr Aufenthalt nur ein halbes Jahr gedauert hatte.
Matthias hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Die Erzieher erteilten den Kindern keine Auskunft, aber es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Melissa adoptiert worden – von liebevollen Pflegeeltern, die sich genau so ein kleines Mädchen immer gewünscht hatten – oder ihre Mutter war gesund geworden und hatte sie wieder zu sich genommen. Matthias’ Gedächtnis hatte zwar die Szene mit dem Brief bis ins kleinste Detail behalten, aber vieles von dem, was danach passierte, war verwischt, unscharf wie ein zu lange belichtetes Foto.
Der Rechner summte. Es war an der Zeit, ein wenig zu recherchieren. Wie jedes Mal gab er zuerst Namen und Ort des Kinderheims in die Suchmaschine ein, um festzustellen, ob neue Artikel erschienen waren, und wie immer war das nicht der Fall.
Matthias Hase lehnte sich kurz zurück und schloss die Augen. Dann hämmerte er den Namen der Frau in die Tasten, die den Spitznamen »Walze« gehabt hatte – Isolde Semper.
Während sein Blick über die Einträge huschte, zischelte die eisige Stimme der Gesuchten durch seinen Kopf und befahl: »Du isst das jetzt auf, sofort!« Ein klatschendes Geräusch. Der rote Abdruck einer Handfläche in einem Kindergesicht. Tränchen kullerten über rosige Wangen. Ein Löffel zitterte in der Luft und dicke Tropfen einer undefinierbaren Suppe platschten zurück auf den halbvollen Teller.
»Ich kann das nicht essen, bitte.« Leises Flehen. »Es ist zu salzig.«
»Willst du damit sagen, ich hätte dein Essen versalzen?« Bis auf das erneute Klatschen herrschte Totenstille. Matthias Hase hatte die Augen geschlossen und versuchte, ein Bild zu dem Dialog heraufzubeschwören, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen zu sehen, wer da von der Walze gequält wurde.
»Was meinen die anderen? Ist eure Suppe auch zu salzig?« Auch wenn er keine Bilder zu dem Fragment fand, Matthias wusste, dass niemand etwas geantwortet hätte. Ein vorsichtiges Kopfschütteln war alles, was man auf diese rhetorische Frage erwidern durfte. Die Speisen und Getränke der anderen waren ja auch stets in Ordnung. Es betraf immer nur ein Kind – dasjenige, das die Semper gerade auf dem Kieker hatte, und es war nie jemand von den Älteren. Die Walze schikanierte bevorzugt die Kleinen.
Auch Melissa, seine kleine Schutzbefohlene, bekam verdorbenes Essen vorgesetzt. Keiner wusste, wie Isolde Semper es anstellte, denn die Suppe wurde immer aus der großen Terrine geschöpft, kein Kind bekam eine Extrawurst, aber die Erzieherin schaffte es irgendwie gleichwohl.
Matthias hatte die Augen wieder geöffnet. Seine Finger glitten über die Tasten und hinterließen klappernde Echos in der Stille des Nachmittags. Die Luft im Arbeitszimmer roch nach staubigem Papier.
Er musste Isolde Semper finden, wo auch immer sie jetzt lebte. Und er hoffte inständig, dass sie noch lebte. Sie musste inzwischen auf die sechzig zugehen, genau wusste er es nicht.
Die Walze war nicht die Schlimmste gewesen. Im Vergleich zu den anderen erschienen ihre Quälereien sogar fast harmlos, alle Betroffenen hatten die Marter überlebt. Dennoch durfte auch sie nicht ungestraft davonkommen. Auf eine Reihenfolge hatte er sich nicht festgelegt. Matthias Hase überließ sich ganz seinen Eingebungen, wartete darauf, dass sein Gehirn ihm den Namen des Nächsten, den er suchen sollte, eingab. Er vertraute seinem Unterbewusstsein, das die schrecklichen Erinnerungen nur nach und nach an die Oberfläche ließ, in kleinen Portionen, die der Geist gerade noch bewältigen konnte. Das diffuse Gefühl, dass da weit schrecklichere Dinge im Verborgenen lauerten, verstärkte sich zwar mit zunehmender Konfrontation mit der Vergangenheit, aber noch war er anscheinend nicht bereit, sich all dem zu stellen.
Den Erinnerungen an die Essensfolter hielt sein Geist stand. Vielleicht auch deswegen, weil er nie selbst betroffen gewesen war. Die Walze hasste zarte, kleine Mädchen wie Melissa am meisten. Das jeweilige Kind wurde gezwungen, Löffel für Löffel hinunterzuschlucken. Wenn es sein musste, auch mit Schlägen. Irgendwann waren alle anderen fertig und verließen den Speiseraum, das würgende Geräusch von Nahrung, die die Speiseröhre wieder nach oben quoll, im Ohr.
Matthias hatte es nie mit eigenen Augen gesehen, aber wenn die Kinder ihr Essen tatsächlich erbrachen, mussten sie den sauersalzigen Brei erneut auflöffeln. Geschah dies, konnte sich die Prozedur über Stunden hinziehen, manchmal bis zum Abendessen. Übergeben – Verzehren. Erneutes Speien – nochmaliges Aufessen.
Bis auf die Schläge ins Gesicht hatte die Semper keine Gewalt angewendet, und sie beteiligte sich auch nicht an den nächtlichen »Aktivitäten« der männlichen Betreuer. Isolde Semper hatte eine sadistische Freude daran, Kinder mit verdorbener Nahrung zu drangsalieren, das war aber auch alles. Mochte manch einer meinen, solcherart Quälerei sei nicht lebensbedrohlich; der Selbstekel jedoch, der bei den Kleinen zurückblieb, die ihr eigenes Erbrochenes gegessen hatten, führte zu seelischen Verletzungen, die oft schwerer heilten als körperliche Wunden.
Vielleicht hatte die Walze den Tod nicht verdient. Das würde sich zeigen, wenn er ihr gegenüberstand.
Matthias Hase betrachtete sein leeres Colaglas. Seit dem Aufenthalt im Heim hatte er nie wieder Tee getrunken. Schon der Geruch von Fenchel oder Kamille verursachte ihm Übelkeit. Er richtete den Blick zurück auf den Bildschirm.
Von draußen drang Kindergeschrei herein. Staubfünkchen tanzten im Licht der Nachmittagssonne. Wohlwollend summte der Rechner. Lautlos erschien eine Liste von Namen und Adressen auf dem Bildschirm.
»Da haben wir dich ja.« Matthias Hase biss sich auf die Unterlippe und grinste dann. Jetzt war alles Folgende ein Kinderspiel.