15
»Mein Mandant räumt die ihm vorgeworfenen Missbrauchsfälle ein. Wir wollen den Opfern damit eine Aussage vor Gericht ersparen.« Der Verteidiger zupfte seine Krawatte zurecht und wandte dabei den Blick nicht vom Richtertisch. Die beiden Jugendschöffen versuchten, ihren angewiderten Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bekommen.
Lara kritzelte »räumt Vorwürfe ein« in ihr Notizbuch und fügte »Strafminderung?« hinzu. Während der Richter antwortete, schaute sie sich verstohlen im Gerichtssaal um. Neben ihrem Kollegen Frank Schweizer von der Tagespost saßen noch vier weitere Journalisten, zwei Männer und zwei Frauen, die sie hier noch nie gesehen hatte. Auch die Reihe hinter ihnen war mit Pressevertretern besetzt. Sie alle hatten strikte Order bekommen, keine Details über die Straftaten des angeklagten Klinikarztes zu veröffentlichen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war das Interesse der Medien groß. Das regionale Fernsehen wartete vor dem Gerichtssaal im Flur, um ein paar Bilder zu erhaschen. Sie wussten es nicht genau, aber dies konnte der letzte Verhandlungstag vor der Urteilsverkündung sein. Mit der Jugendkammer des Landgerichtes hatte Lara bisher wenig Erfahrung. Der Prozess fand wegen des Alters der Opfer nicht vor der sonst üblichen Großen Strafkammer statt.
Der Rechtsanwalt hatte inzwischen wieder neben seinem Mandanten Platz genommen. Nachdem der Richter eine Mittagspause von einer Stunde angeordnet hatte, erhoben sich beide und verschwanden, gefolgt von zwei Beamten, in Windeseile durch eine kleine Seitentür.
»Kommst du mit in die Cafeteria?« Frank Schweizer packte seine Sachen in eine schwarze Aktentasche und sah dann hoch.
»Gern.« Lara folgte ihm zu der riesigen zweiflügeligen Tür. Da es schon in einer Stunde weitergehen würde, lohnte sich ein Abstecher in die Stadt nicht.
»Wie findest du seinen Schachzug?« Frank flüsterte fast, als sie sich auf dem Flur an dem jungen Mann mit der Fernsehkamera auf der Schulter vorbeimogelten.
»Dass er den Missbrauch einräumt? Das habe ich erwartet. Seine Strafe würde mit Sicherheit höher ausfallen, wenn er alles abstreitet und die Mädchen vor Gericht aussagen müssten.«
»Ich finde den Typ widerlich.« Frank sprach noch immer leise, obwohl niemand mehr in ihrer Nähe war. Sie schritten die Treppen zur Cafeteria hinunter. »Ein Arzt! Hoffentlich bekommt er ordentlich was aufgebrummt!« Er stieß die Schwingtür auf. Sofort waren sie von Stimmengemurmel und Essensdunst umgeben. Fast alle Stühle waren besetzt. Lara ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen und entdeckte einen freien Tisch am rückwärtigen Ende des Raumes. Frank Schweizer im Schlepptau steuerte sie im Zickzack auf den Platz zu. Sie deponierten ihre Taschen auf den Stühlen und stellten sich dann an der Schlage an.
Jeder mit einem Tablett beladen kehrten sie zurück, nahmen Platz und begannen zu essen. Lara verglich den Sauerbraten des Kollegen mit ihrem Salat und lobte sich im Stillen für ihre Entscheidung.
»Schmeckt gut.« Frank Schweizer nahm einen Schluck Cola und sah sich dabei um. »Dahinten sitzt der Staatsanwalt.« Franks Kinn ruckte in Richtung Tür. »Und Roland Westwald von Leipzig heute ist bei ihm. Die verstehen sich anscheinend super.«
»Glaubst du, die werden heute noch mit allem fertig?« Lara war mit ihren Gedanken ganz woanders. Ihre Verabredung mit Ralf Schädlich nachher ging ihr nicht aus dem Kopf. Der Kriminalobermeister hatte sich bei ihrem gestrigen Anruf fast zu bereitwillig gezeigt, sich mit ihr zu treffen. Seine Freude darüber, dass sie ihn angerufen hatte, war nicht zu überhören gewesen, und Lara hatte den ganzen Abend mit Schuldgefühlen gekämpft, weil sie dem Beamten Interesse vorgaukelte, wo keines war. Sie wurde das klebrige Gefühl nicht los, sich damit auf eine Stufe mit Tom Fränkel herabbegeben zu haben.
»Das hoffe ich. Soweit ist alles durch, nur die psychologischen Sachverständigen haben noch nicht ausgesagt. Vielleicht werden die Gutachten auch nur verlesen.«
»Darauf bin ich gespannt.«
»Ich kann mir denken, was darin steht. Du hast den Typen doch gesehen und gehört. Ein manipulativer Pädophiler. Kaum anzunehmen, dass seine Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt ist.«
»Warten wir es ab.« Lara pikte die Gabel in die letzten beiden Tomatenscheiben.
»Ist hier noch Platz?«
Lara ließ die Gabel wieder sinken und schaute auf. Eine schlanke Frau um die vierzig mit blondem Pagenkopf und auffallend grünen Augen stand vor ihr. Sie trug ein Nadelstreifenkostüm. In einer Hand balancierte sie einen Teller mit Suppe, in der anderen ein Glas Mineralwasser.
»Aber gern. Bitte sehr!« Frank hatte schon einladend genickt und auf den Stuhl neben sich gezeigt. Die Frau lächelte verlegen, stellte ihr Geschirr ab und setzte sich, nicht ohne vorher den Rock glattzustreichen.
»Lassen Sie es sich schmecken!«
Die Fremde nickte und griff zum Löffel. Lara verkniff sich ein Lächeln. Franks Interesse an der schönen Blonden war nicht zu übersehen.
»Trinken wir noch einen Kaffee?« Frank wartete auf Laras Nicken und erhob sich. »Bleib sitzen. Ich bringe dir eine Tasse mit. Wollen Sie auch einen?« Die blonde Frau sah zu dem leeren Stuhl hinüber und realisierte dann, dass sie gemeint war. »Das wäre nett. Schwarz bitte.«
Frank verschwand in Richtung der Essensausgabe.
»Sie beide waren auch bei dem Verfahren gegen Doktor Schwärzlich?« Lara runzelte die Stirn, deshalb setzte die Fremde schnell noch hinzu: »Der Anästhesist, der sich an den Kindern vergangen hat.«
Lara nickte langsam und ging dabei in Gedanken die Reihen im Gerichtssaal durch. Die Frau im Nadelstreifenkostüm hatte in der vorletzten Reihe gesessen. »Sie beobachten den Fall? Sind Sie auch von der Presse?«
»Nein, ich komme vom Jugendamt. Ich berate die betroffenen Mädchen und ihre Eltern. Laut Jugendgerichtsgesetz sollte bei solchen Verfahren immer jemand von uns mit dabei sein. Ich habe mich gar nicht vorgestellt, entschuldigen Sie. Sandmann.« Sie streckte die Hand aus, und Lara ergriff sie.
»Lara Birkenfeld von der Tagespresse. Und da kommt mein Kollege, Frank Schweizer, von der Tagespost.« Frank balancierte heran, den Blick starr auf den Kaffee gerichtet, um nichts zu verschütten. Mit einem Seufzen stellte er die drei Tassen ab und nahm Platz.
»Wir haben uns inzwischen bekannt gemacht. Das ist Frau Sandmann vom Jugendamt.« Lara öffnete das Döschen mit der Kaffeesahne.
»Vom Jugendamt sind Sie?« Franks Stimme kippte bald über. Es hörte sich an, als sei dies eine sensationelle Enthüllung. »Das ist ja interessant!«
»Da die Opfer minderjährig sind, steht ihnen eine Beratung zu.« Die blonde Frau knetete ihre Hände und begann dann schweigend, den schmalen Granatring an ihrem linken Ringfinger zu drehen.
»Ich finde das Ganze unglaublich. Da vergeht sich ein angesehener Arzt über mehrere Jahre hinweg an zehn- bis zwölfjährigen Mädchen, teilweise in seinem Büro im Klinikum. Er erklärt den Eltern, an einer Studie über Bronchialasthma bei Kindern teilzunehmen – ganz im Dienste der Wissenschaft natürlich –, und das alles nur, damit sich die Mädchen vor ihm ausziehen.« Frank sah sich in der Kantine um und dämpfte seine Stimme etwas. »Und wie wir an den vorhergehenden Prozesstagen gehört haben, hat Schwärzlich die Kinder nicht nur begrabscht, sondern sich vor einigen auch noch selbst befriedigt.«
»Vergiss nicht die versteckte Kamera, mit der er alles gefilmt hat.« Lara rührte um und betrachtete die im Kreis wirbelnden Milchschlieren in ihrer Tasse. »So etwas wird als schwerer Missbrauch eingestuft. Außerdem hat man Kinderpornos bei ihm gefunden.«
»Ich verstehe bloß nicht, warum es die Anweisung gegeben hat, die sexuellen Neigungen des Beschuldigten nicht öffentlich auszubreiten. Wen will man damit schützen?« Jetzt klang Frank ärgerlich.
»Vielleicht hat auch er Familie?« Frau Sandmann legte die Hände auf den Tisch, als wolle sie diese damit zur Ruhe zwingen. Für ein paar Sekunden schwiegen die drei. Geschirr klapperte, die Espressomaschine gab mahlende Geräusche von sich. Im Hintergrund kicherte eine Frau. Es war drückend heiß.
»Wer weiß. Ich finde es trotzdem nicht richtig. Schwärzlich ist doch nachgewiesenermaßen ein pädophiler Straftäter. Manchmal habe ich das Gefühl, dass in Deutschland Täterschutz vor Opferschutz geht.« Frank musterte sein Gegenüber. Die beherrschte Miene unterstrich die Schönheit ihres Gesichtes noch. »Ein Glück, dass die Mädchen nicht aussagen müssen. Wie verkraften sie das Ganze denn?«
»Dazu möchte ich hier nichts sagen. Es ist für die betroffenen Familien schon schwer genug, dass einige Details an die Öffentlichkeit gelangt sind.« Frau Sandmann sah sich um.
Lara überlegte, ob die letzten Worte einen versteckten Vorwurf gegen die Presse enthielten. Frank schwieg, und so antwortete sie: »Das verstehen wir. Aber vielleicht kommt es Anfang nächster Woche schon zur Urteilsverkündung, dann ist zumindest der Prozess vorbei.« Sie trank ihren Kaffee aus und sah zur Uhr. »Es wird Zeit.«
»Ich bringe das Geschirr weg.« Noch ehe die beiden Frauen etwas entgegnen konnten, hatte Frank schon begonnen, alles auf ein Tablett zu stapeln.
Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zum Gerichtssaal. Lara hatte keine Ahnung, dass Frau Sandmann in den nächsten Wochen noch eine große Rolle in ihrem Leben spielen würde.
»Hallo!« Ralf Schädlich war schon da und hatte Lara, die suchend am Eingang stand, entdeckt. Jetzt winkte er und versteckte dann den Arm schnell unter dem Tisch, als schäme er sich, seine Freude so öffentlich zu zeigen. Lara spürte erneut das nagende Schuldgefühl in ihrem Bauch, während ihr Mund sich wie von selbst zu einem netten Begrüßungslächeln verzog.
»Es ist etwas später geworden, Entschuldigung.« Der Korbstuhl knarrte beim Setzen. »Ich war bei Gericht, und es hat mal wieder länger gedauert.«
»Das macht nichts.«
»Ein Prozess gegen einen Arzt. Eigentlich sollte um sechzehn Uhr Schluss sein. Aber ehe die Gutachten verlesen und ausgewertet waren … Dann haben Verteidiger und Vorsitzender Richter ewig herumdiskutiert. Immer das Gleiche. Wenigstens sind sie jetzt durch. Nächsten Montag wird das Urteil verkündet. Na, Sie kennen das ja, nicht?« Lara holte tief Luft. Sie redete zu viel und zu schnell.
»Ist nicht schlimm. Ich habe inzwischen einen Saft getrunken und die Zeitung studiert.« Ralf Schädlich zeigte auf die gefaltete Tagespresse neben seinem Glas. »Der Artikel über das Feuerwehrfest ist sehr anschaulich.« Er lächelte.
Lara musste auch lächeln. Schädlich wusste natürlich, dass der Text von ihr war, schließlich standen ihre Initialen darunter. Ein etwas plumpes Kompliment, aber gerade das Ungeschickte daran machte es sympathisch. Ein Kellner erschien, und sie bestellte sich eine Weinschorle. Der Kriminalobermeister nahm noch einen Orangensaft. Der Kellner verschwand, und Schweigen breitete sich wie eine unbehagliche graue Wolke über dem Tisch aus.
»Etwas essen?« Ralf Schädlich schob die Karte über den Tisch. Vor Verlegenheit war er in den Telegrammstil verfallen.
»Vielleicht.« Lara nahm das Heft und blätterte darin. Sie hatte Hunger. Der Salat im Gericht war schon wieder fünf Stunden her.
»Werden Sie über den Prozess gegen diesen Arzt schreiben?«
»Am Montag sicher. Dann ist die Urteilsverkündung. Bisher war wegen der minderjährigen Opfer der Deckel auf der Sache, und wir durften keine Details schreiben.« Die Getränke kamen.
»Was wird dem Angeklagten denn vorgeworfen?«
Lara dachte kurz nach, ehe sie antwortete. Sie hatten zwar einen Maulkorb verpasst bekommen, aber erstens war Schädlich Polizist und zweitens bestand die Hoffnung, dass er ihr Vertrauen erwiderte und im Gegenzug mit Neuigkeiten über die Plattenbauleiche herausrückte. In Kurzform begann sie, die Ereignisse um Doktor Schwärzlich zu schildern, nur unterbrochen vom Kellner, der ihre Speisenbestellung aufnahm.
Ralf Schädlich war ein guter Zuhörer. Er nickte ab und zu und warf Bemerkungen wie »Das ist ja schrecklich« oder »Unglaublich« ein, die einzig dazu dienten, ihren Erzählfluss zu unterstützen.
Als das Essen gebracht wurde, war Lara fast fertig. Zum Schluss betonte sie noch einmal, dass dies alles streng vertraulich sei. Der Kriminalobermeister riss die Augen etwas weiter auf und nickte heftig. Sein bulliges Gesicht glänzte. Lara faltete die Serviette auseinander und beschloss, während des Essens über unverfängliche Themen zu reden. Danach würde sie versuchen, Antworten auf ihre Fragen nach der Plattenbauleiche aus Schädlich herauszukitzeln.
»Das war sehr gut.« Der Kellner näherte sich, um abzuräumen, und Lara bestellte noch eine Weinschorle. Dann schielte sie unauffällig auf ihre Uhr. Das Unbehagen, Schädlichs Vertrauen auszunutzen, wuchs mit jeder Minute. Sie gab sich einen Ruck. »Wie weit sind Sie denn in dem Fall mit der Leiche in dem Abbruchhaus vorangekommen?«
»Meinen Sie den Toten in Grünau von letzter Woche?« Ralf Schädlich klang verwirrt.
»Genau den. Mein Kollege Tom Fränkel«, sie deutete auf die gefaltete Zeitung, die noch immer neben ihnen auf dem Tisch lag, »hat darüber zwei Artikel geschrieben.« Sollte der Kripobeamte ruhig wissen, dass sie eigentlich gar kein persönliches Interesse an der Story hatte.
Lara setzte ihr »Eigentlich-interessiert-mich-das-alles-garnicht«-Gesicht auf. Na komm schon! Ich habe dir doch vorhin auch fast alles über den pädophilen Arzt erzählt! »Hat denn die Obduktion etwas Neues ergeben?«
»Ich glaube nicht.«
Lara sah, wie Ralf Schädlich sich in der Gaststätte umblickte, als fürchte er, beim Ausplaudern interner Informationen beobachtet zu werden. Dabei hatte er bis jetzt noch gar nichts Spannendes von sich gegeben. Und was sollte »ich glaube« heißen? Wusste er es nicht besser, oder wollte er nichts sagen? Der Pressesprecher, den sie heute Vormittag vom Gericht aus angerufen hatte, war auch ziemlich wortkarg gewesen. Der Obduktionsbericht läge vor, man könne jedoch aus ermittlungstaktischen Gründen keine Details an die Öffentlichkeit geben. Die üblichen Floskeln. »Steht denn die Identität des Opfers schon fest?« Sie bemerkte, wie Schädlich unbewusst den Kopf schüttelte, und setzte schnell hinzu: »Keine Angst, davon wird nichts in der Tagespresse stehen. Ich frage nur aus persönlicher Neugier.«
»Wir überprüfen gerade alle infrage kommenden Vermisstenfälle.«
»Und? Gibt es schon Ergebnisse?« Das war ja Schwerstarbeit. Ihr Gesprächspartner ließ sich jede Einzelheit aus der Nase ziehen.
»Wir haben eine Spur zu einem vermissten Mann aus Wurzen.«
»Aha!« Schnell wandte Lara den Blick ab, um das Funkeln ihrer Augen zu verbergen, und trank noch einen Schluck von der Schorle, die inzwischen lauwarm geworden war.
»Es ist aber nur eine Möglichkeit von vielen.«
»Na, da haben Sie wenigstens etwas, dem Sie nachgehen können.« Lara stellte ihr Glas ab und lächelte beschwichtigend. Aber sicher, mein Lieber. Rudere nur zurück. Sie würde jetzt noch ein bisschen auf den Busch klopfen und dann zum Ende der »Verabredung« überleiten. Es ging auf zwanzig Uhr zu, und sie musste morgen wieder in die Redaktion. »Ich frage mich, warum das Opfer gerade in diesem Haus ertränkt wurde. Das kann doch eigentlich nur bedeuten, dass der Täter Grünau kennt, nicht? Das wiederum heißt, es kann eigentlich nur ein Einheimischer gewesen sein.«
»Das ist möglich, aber nicht zwingend.« Der Kerl war eine Auster. Sie musste jetzt aufhören, Fragen zu stellen, sonst roch der Kriminalobermeister Lunte. Lara startete einen letzten Versuch. »Und etwas, worüber ich noch gestolpert bin: Warum hat der Täter das Opfer ertränkt? Das war doch nur mit ziemlichem Aufwand zu bewerkstelligen, nicht? Schließlich war das Wasser in den Blocks längst abgestellt.«
»Das sehen wir auch so. Ich kann aber auch dazu noch nichts sagen.« Seine Finger schoben den Bierdeckel auf der Tischdecke hin und her.
»Das verstehe ich doch.« Lara streckte ihre Hand aus, um sie auf die des Kriminalobermeisters zu legen, zog sie aber im letzten Moment zurück. Sie wollte keine falschen Hoffnungen in ihm wecken. Aber vielleicht hatte sie das längst getan. Das schlechte Gewissen erwachte und nagte erneut an ihr. Es wurde Zeit, dem Ende des Abends entgegenzusteuern. Lara kramte in ihrer Tasche und legte das Portemonnaie auf den Tisch, während sie kurz darüber nachdachte, ob sie Ralf Schädlich von der alten Dame und dem schwarzen Auto vor den Abbruchhäusern erzählen sollte. Das würde jedoch bedeuten, dass sie ihre privaten Nachforschungen gestehen müsste. Und das wiederum würde den Argwohn des Kripobeamten mit Sicherheit wecken, so er denn nicht schon erwacht war. »Ich muss morgen wieder früh raus.« Ein entschuldigendes Lächeln.
»Ich auch. Bezahlen wir.« Ralf Schädlich hob den Arm und winkte dem Kellner. »Das war ein netter Abend, Lara.«
Lara? Wollte er sie jetzt duzen? Sie tat, als habe sie den letzten Satz nicht gehört, und steckte die Rechnung ein. Sie erhoben sich gleichzeitig, dann marschierte Schädlich vorneweg. Er war ein paar Zentimeter kleiner als Lara. Sie betrachtete die bullige Gestalt vor sich und dachte dabei an Mark. Sie brauchte jetzt den Rat eines Freundes. Auf dem Parkplatz vor dem Lokal verabschiedeten sich Lara und Ralf Schädlich mit einem Handschlag voneinander.
Lara setzte sich in ihren Mini Cooper, schloss die Tür und atmete tief durch. So etwas war nichts für sie. Ralf Schädlich war ein netter Mann, aber gar nicht ihr Typ. Sie spürte noch die Wärme seiner Handfläche in ihrer Rechten. Hoffentlich wollte er sich jetzt nicht öfter mit ihr treffen. Die Luft im Wagen war stickig und roch nach Staub. Das Auto des Kripobeamten kurvte schwungvoll aus der Parklücke. Im Vorbeifahren winkte er ihr zu, und Lara zwang ihre Mundwinkel nach oben.
Erst als er verschwunden war, griff sie nach ihrem Handy und wählte Marks Nummer.
»Was ich noch fragen wollte: Was ist eigentlich ein ›Wasserfetisch‹?«
Während Mark kurz überlegte, konnte Lara leises Klappern von Geschirr und eine Kinderstimme hören. Sie hatte ihn zu Hause erreicht, und anscheinend war die Familie gerade mit dem Abendessen fertig geworden.
»Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Warte kurz.« Mark flüsterte jemandem zu: »Ich bin im Arbeitszimmer«, dann klappte eine Tür, und die Hintergrundgeräusche verstummten schlagartig.
»Der Fetischbegriff wird verschieden benutzt. In der Religion ist Fetischismus die Verehrung von Gegenständen, weil man an ihre übernatürliche Eigenschaften glaubt. Fetische findet man oft bei Naturvölkern. Sie werden auch in der Naturheilkunde eingesetzt, zum Beispiel von Schamanen. Aber das passt in dem Fall mit deiner Badewannenleiche natürlich nicht.« Er machte eine kurze Pause. »Hier ist ein sexueller Fetisch wahrscheinlicher. Es gibt dabei harmlose und gefährliche Fetische, was aber allen gemein ist, ist die Tatsache, dass die benutzten Dinge oder Fantasievorstellungen immer zur Stimulierung und Befriedigung dienen. Wurden bei der Leiche in der Badewanne irgendwelche Spuren sexueller Aktivitäten gefunden?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann ist es unwahrscheinlich, dass dein Täter einen Wasserfetisch hat.«
Lara nickte. Mark hatte recht. »Du hattest den Begriff nur letztens erwähnt, und Wasser scheint hier ja eine große Rolle zu spielen.«
»Das stimmt. Im Moment sehe ich allerdings keine Ansatzpunkte für mögliche Nachforschungen. Aber wenn sich etwas Neues in dem Fall ergibt, kannst du mich gern wieder um Rat fragen.«
»Danke, das mache ich.«
»Du wolltest mir aber noch etwas anderes erzählen, hast du vorhin erwähnt?«
Lara seufzte unhörbar, betrachtete den Schmutz auf dem Armaturenbrett und löste die Finger vom Zündschlüssel, den sie gerade hatte umdrehen wollen. »Ja, das stimmt. Meine Halluzinationen sind zurückgekehrt.«