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JEMANDEM KÖRPERLICHE SCHMERZEN ZUZUFÜGEN, WAR SCHON IMMER EIN PROBATES MITTEL, UM IHN EINZUSCHÜCHTERN, GESTÄNDNISSE ZU ERZWINGEN ODER DENJENIGEN DAZU ZU BRINGEN, ETWAS ZU TUN, WAS MAN IHM BEFAHL. NICHT JEDE ART VON ZÜCHTIGUNG IST AUF DEN ERSTEN BLICK AM KÖRPER NACHWEISBAR. ERFAHRENE FOLTERKNECHTE BEDIENEN SICH DABEI BESTIMMTER METHODEN, DIE SICHTBARE SPUREN VERMEIDEN UND DESHALB MEDIZINISCH SCHWER NACHWEISBAR SIND. IN FRÜHEREN JAHRHUNDERTEN WÄHLTE MAN HIERZU KÖRPERÖFFNUNGEN DES OPFERS: DIE NASE, DIE MUNDHÖHLE ODER DEN ANUS; HEUTE GEHT MAN MEHR UND MEHR DAZU ÜBER, MITTELS LICHT, DUNKELHEIT ODER EXTREMEM LÄRM ZU QUÄLEN ODER STELLVERTRETEND ANGEHÖRIGE ZU FOLTERN.

 

Matthias bemerkte, dass seine Finger unablässig das Gewebe des Schals kneteten, und befahl ihnen, damit aufzuhören. Allmählich schmerzten seine Knie und er erhob sich kurz, streckte die Arme nach oben und schüttelte die Beine aus, ehe er sich wieder hinter die Sträucher hockte. Von Weitem musste es aussehen, als verrichte er hier ein Geschäft. Nur dass er schon eine halbe Stunde da kauerte.

Würde die Sagorski kommen? Sie hatte noch genau zehn Minuten. Er leckte sich über die Lippen.

Wenn sie erschien, hieß das, dass sie seine Geschichte mit den belastenden Beweisstücken geglaubt hatte. Und das wiederum bedeutete, sie hatte tatsächlich an den Misshandlungen teilgenommen.

Gestern Abend hatte er sie angerufen und ihr die Anschuldigungen unterbreitet. Am Stocken ihrer Stimme und dem schneller gehenden Atem hatte er gemerkt, dass sie seine Worte ernst nahm, und da war ihm klar gewesen, dass er gewonnen hatte. Sie wusste, dass seine Behauptungen der Wahrheit entsprachen, und hatte ein schlechtes Gewissen. Aber reichte das aus, dass sie sich mit ihm treffen würde, um »die Dinge zu besprechen«, wie er sich ausgedrückt hatte? Hatte sie ihm die Story mit dem einmaligen Schweigegeld abgenommen?

Das Summen herannahender Reifen ließ ihn erstarren. Seine Ohren fokussierten sich auf das Geräusch. Die Hände krallten sich fester um den Schal.

Als der Wagen vorbeifuhr, entwich ihm ein enttäuschter Seufzer, dann lockerte Matthias seine angespannten Muskeln und gestattete seinem Körper, sich ein wenig an den Baum in seinem Rücken anzulehnen. Noch drei Minuten bis zum vereinbarten Termin.

Zum wiederholten Mal malte er sich den Ablauf der nächsten halben Stunde aus. Die Sagorski würde mit dem Auto kommen und auf den Parkplatz fahren. Der Rastplatz an der Schnellstraße lag zwar ruhig, aber nicht abgelegen. Er hatte diesen Ort mit Absicht gewählt, weil er annahm, dass sie sich nicht zu einem Waldstück locken lassen würde, schließlich war die Frau nicht dumm. Ein Parkplatz an einer Schnellstraße jedoch erschien ihr bestimmt nicht übermäßig bedrohlich. Seinen Wagen hatte er in dem Wäldchen hundert Meter entfernt abgestellt und war zu dem Rastplatz gelaufen.

So würde ihr Auto das einzige sein, und wenn ihm das Glück hold war, würde die Sagorski annehmen, der Erpresser sei noch nicht da, und warten. Das verschaffte ihm den Vorteil, sein Opfer zuerst ein bisschen beobachten zu können und in Ruhe abzuchecken, ob sie allein gekommen war.

Irgendwann  – so hoffte er  – würde sie aussteigen, um sich umzusehen. Und dann konnte er sie überwältigen. Die Sagorski war eine alternde, übergewichtige Vettel, es würde kein Problem geben, ihr den Schal um den Hals zu werfen und sie zu würgen, bis sie bewusstlos war. Das nachfolgende Fesseln und Knebeln hatte er ja schon bei Siegfried Meller und Isolde Semper geprobt. Im Anschluss daran würde er die Frau in ihr Auto bugsieren und zu der Stelle fahren, die er sich für die »Befragung« ausgesucht hatte. Eigentlich ein stimmiger Plan. Ob er jedoch funktionierte, musste sich erst noch zeigen.

Erneut fingen seine Ohren das Rauschen eines herannahenden Autos ein. Es wurde schnell lauter. Matthias duckte sich tiefer hinter die Sträucher und zügelte seine Atmung. Das Sirren der Reifen wurde langsamer.

Zwei schmale gelbe Lichtkegel schwenkten seitlich herüber, glitten über die Randbefestigung. Der Wagen bog auf den Parkplatz ein und rollte im Schritttempo über den Asphalt. Matthias spürte, wie seine Augen bei der Anstrengung, den Fahrer zu erkennen, hervortraten. Am Steuer saß eine kleine Person. Die Sagorski?

Das Auto, ein dunkler Audi A4, fuhr an seinem Versteck vorbei. Kleine Steinchen wurden aufgewirbelt, als der Wagen beschleunigte, ohne zu blinken auf die Schnellstraße zurückkehrte und davonbrauste. Matthias unterdrückte ein Schluchzen. Auch wenn er die Sagorski nicht richtig hatte sehen können, sie musste es gewesen sein! Wer sonst hatte zu dieser späten Stunde etwas auf diesem Parkplatz zu suchen? Die Frau war misstrauischer, als er es sich erhofft hatte. Was nun? Vorsichtig schob er sich am Stamm nach oben, streckte die Beine durch und schüttelte sie aus. Seine Rückenmuskeln schmerzten. Leise wisperte der Wald im Hintergrund. Der Mond war zwischen zwei Wolken hervorgekommen und verlieh der Szenerie eine gespenstische Stimmung.

Ein Käuzchen schrie. Matthias ließ die Schultern ein paarmal kreisen, warf sich den Schal um den Hals und tastete in der Hosentasche nach seinem Autoschlüssel. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, um die Sagorski aus ihrem Schneckenhaus herauszulocken. Seine Ohren vernahmen erneut ein feines Rauschen, das zu einem sich schnell nähernden Surren wurde. Mit gerecktem Hals fixierte Matthias die Einfahrt zum Parkplatz. Das Fahrgeräusch wurde schnell lauter. Er erwartete den Lichtschein der Scheinwerfer, aber es blieb dunkel.

Als kurz vor der Einmündung Bremsen quietschten, erstarrte Matthias für den Bruchteil einer Sekunde und ging dann in seinem Versteck schnell wieder in die Hocke. Er hatte sich kaum hingekauert, als auch schon der dunkle Audi erneut auf den Parkplatz rollte, dieses Mal mit ausgeschalteten Lichtern. Die Sagorski war wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass ihr Gegenüber noch nicht hier war, und wollte jetzt im Dunkeln auf seine Ankunft warten. Matthias wagte es kaum, Luft zu holen, während er hinüberschaute. Das Auto stand nur wenige Meter von ihm entfernt. Die Frau hinter dem Steuer rührte sich nicht.

Mondlicht tünchte den Lack der Kühlerhaube silbrig. Schorfige Borke drückte sich in seinen Rücken. Er reckte den Hals noch ein bisschen nach vorn. Kein Zweifel, das war die Heimleiterin. Jetzt bewegte sie sich, beugte den Oberkörper zur Seite, setzte sich wieder aufrecht hin, hielt die Hand an den Kopf. Sie telefonierte. Vielleicht hatte sie irgendwem von der »Verabredung« erzählt und berichtete nun davon, dass niemand hier war. Andererseits  – würde jemand, der erpresst wurde, so etwas tun? Im Endeffekt war es nicht wichtig. Wichtig war, dass die Frau hier war und dass sie allein gekommen war. Er glaubte nicht, dass sich auf der Rückbank jemand versteckte, um ihr im Notfall Beistand zu leisten. Diese Frau war so arrogant, dass sie meinte, keinen Beistand zu brauchen.

Jetzt musste er sie nur noch aus dem Auto locken, dann konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen. Matthias lächelte. Die Sagorski legte ihr Handy beiseite. Er trat aus dem Dunkel der Sträucher.

 

Die Kofferraumklappe glitt geräuschlos nach oben. Die beiden kleinen Lämpchen an den Seiten erleuchteten das Innere. »So, liebe Frau Sagorski. Da wären wir.« Matthias betrachtete die zusammengekrümmte Gestalt. »Sie sagen ja gar nichts.« Ein kleiner Witz. Natürlich konnte die Heimleiterin nichts sagen, da sie geknebelt war. Jetzt bewegte sie sich, drehte den Kopf nach oben und funkelte Matthias böse an. Unter dem Knebel drangen dumpfe Geräusche hervor. Sie versuchte, die Beine zu strecken. Der Kofferraum des Audis bot ihr viel Platz zum Herumzappeln. Er hatte von vornherein geplant, die Frau in ihrem Wagen zu transportieren. Zum einen, um nicht sein eigenes Auto mit ihren Spuren zu verunreinigen, zum anderen, um ihr Auto nicht auf diesem Parkplatz zurücklassen zu müssen. Hier, in diesem unwegsamen Waldstück würde es, wenn er Glück hatte, länger dauern, bis man sie fand.

Darüber, dass nun von ihm Hautschüppchen oder Fingerabdrücke im Audi verblieben, machte er sich keine Gedanken. Es ließ sich sowieso nicht völlig vermeiden und die Bullen hatten schließlich nichts, womit sie es vergleichen konnten. Die Sagorski lag jetzt wieder still, aber ihre Augen funkelten noch immer vor Zorn.

»Also gut. Dann wollen wir mal.« Matthias legte die Sackkarre neben den Kofferraum, dann beugte er sich über die Öffnung und versuchte, sein Opfer herauszuwuchten. Die gefesselte Frau kam ihm noch schwerer vor als beim Hineinheben. Aber davon ließ sich ein starker Mann mit trainierten Muskeln nicht abschrecken, und gleich darauf plumpste das verschnürte Paket auch schon auf den Weg. Er rollte das Bündel Mensch auf die Karre, wickelte Spanngurte um Körper und Metallstreben und richtete dann das Vehikel auf. »Und los geht’s!« Sie antwortete mit einem dumpfen Laut. Die Räder holperten über Wurzeln und Steinchen.

Matthias betrachtete den grauen Haaransatz, der vor ihm von links nach rechts schwankte. Mindestens vier Wochen nicht nachgefärbt. Nicht sehr sorgfältig, meine Liebe. Mondlicht zeichnete den Waldweg als hellen Streifen zwischen den Bäumen vor. Der Weg öffnete sich auf eine Lichtung, in deren Mitte ein abgestorbener Baum einen dunklen Buckel bildete. Matthias stellte das Gefährt mit der Frau neben der nach oben ragenden Wurzelscheibe ab. Die Naturgewalten hatten ihm hier ein schönes tiefes Erdloch zur Verfügung gestellt, ohne dass er lange graben musste. Die Sagorski schien zu ahnen, was sie erwartete, denn sie zappelte jetzt stärker und sog heftig schnaufend Luft durch die Nase.

Er würde sie erst einmal beruhigen müssen, um sie in dem Glauben zu lassen, sie könne das Geschehen noch beeinflussen. Zuerst die Informationen, dann die Strafe, aber das brauchte die Heimleiterin jetzt noch nicht zu wissen. Mit einem schnellen Ruck zog er ihr das Paketband vom Gesicht. Sie riss den Mund auf und schnappte nach Luft. Matthias gab ihr ein paar Sekunden zur Beruhigung, ehe er sprach. »Nun, Frau Sagorski, Sie wollten bisher nicht mit mir sprechen. Das war vorgestern, am Sonntag  – erinnern Sie sich?« Der Mond leuchtete so hell, dass er seine Taschenlampe nicht brauchte. Die Frau presste als Antwort nur die Lippen aufeinander, und so fuhr er fort. »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich im Kinderheim ›Ernst Thälmann‹ war und dass ich auf der Suche nach meiner Schwester bin. Sie war mit mir in diesem Heim und verschwand eines Tages. Wahrscheinlich wurde sie adoptiert. Mandy hieß sie.« Das sommersprossige Gesichtchen seiner Schwester tauchte vor Matthias’ innerem Auge auf. Die Zöpfchen schaukelten sacht.

»Ich … «, die dicke Frau räusperte sich und leckte mit der Zungenspitze über ihre Lippen, »ich kenne Ihre Schwester nicht.«

»Soso. Können Sie sich denn an mich erinnern?«

»Was, wenn ich es tue?« Der schmale Mund hatte einen hinterlistigen Zug bekommen. Die kleine dicke Frau wagte es doch tatsächlich, in ihrer Lage zu pokern.

»Sie sollten sich in Ihrem eigenen Interesse lieber fragen, was geschieht, wenn Sie es nicht tun!« Matthias versetzte dem Metallgestell einen Fußtritt, und die Karre kippelte, fiel aber nicht um.

»Also gut. Ja, ich erinnere mich, dass Sie im Heim waren.«

»Sehr schön, Frau Sagorski. Und was ist nun mit meiner kleinen Schwester? Mandy war zierlich, rotblond, mit vielen Sommersprossen und trug gern Zöpfe.«

»Nein. Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf, so gut das mit den ganzen Fesseln möglich war.

»Frau Sagorski! Ich rate Ihnen zum letzten Mal, kooperativ zu sein!« Noch ein energischer Tritt. »Dann kann das Ganze hier noch glimpflich für Sie ausgehen!« Würde sie ihm das abnehmen?

»Aber… ich weiß es wirklich nicht! Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich etwas wüsste! Bitte!« Jetzt begann sie zu schniefen. Selbstmitleid.

»Ab wann waren Sie Heimleiterin im ›Ernst Thälmann‹?«

»Mai 1984.« Sie zog die Nase hoch.

Matthias benagte seinen rechten Daumennagel, während er nachrechnete. Er wusste nicht genau, wann Mandy verschwunden war, aber sie war etwa zehn Jahre alt gewesen. Es konnte stimmen. Vielleicht war seine Kleine schon weg gewesen, als die Sagorski die Heimleitung übernommen hatte. »Also gut. Vielleicht haben Sie sie wirklich nicht mehr kennengelernt.« Die ehemalige Heimleiterin nickte hastig und schniefte noch einmal.

»Ich hätte aber noch ein paar andere Fragen.« Er nahm Notizbuch und Kugelschreiber aus der Tasche und betrachtete seine Stichpunkte. Dem Vollmond fehlte zwar rechts inzwischen ein schmales Stückchen, aber das silbrige Licht reichte aus, um die Zeilen zu erkennen.

»Bereit? Dann hören Sie gut zu, und geben Sie sich Mühe mit den Antworten. Erstens: Wie hießen die Erzieher, die außer Ihnen in dem Heim gearbeitet haben?«

Die Sagorski überlegte kurz, dann sprudelte sie die Namen so schnell hervor, dass er Mühe hatte, mit dem Schreiben nachzukommen. Anscheinend hatte sie jetzt beschlossen, kooperativ zu sein. Der Kugelschreiber fuhr über das Blatt; in Matthias’ Kopf wirbelte das Gedankenkarussell Gesichter und Namen durcheinander: Meller, Semper, Gurich. Dazu ein paar, die er noch nie gehört hatte.

Es dauerte mindestens eine Minute, bis er aus seiner Versenkung erwachte und feststellte, dass die Sagorski längst schwieg. Sie starrte ihn mit einem halb erwartungsvollen, halb ängstlichen Gesichtsausdruck an. »Gut. Es geht doch. Machen wir weiter.« Matthias blinzelte auf seine Notizen. »Wer war denn vor Ihnen Heimleiter?«

»Herr Grünkern.«

»Vorname?«

»Rainer, glaube ich.«

»Sie haben ihn nicht persönlich kennengelernt?«

»Nein.« Log sie?

»Ging Herr Grünkern in Rente oder warum haben Sie ihn abgelöst?« In Matthias’ Bauch flatterte es ganz sacht.

»Rentner war der noch nicht.« Die Sagorski kniff die Augen zusammen, während sie nachdachte. »Er wurde versetzt oder ist umgezogen. Ich weiß es nicht genau.«

»Rainer Grünkern also. Wie sah er aus?« Matthias hielt den Kugelschreiber über dem Papier. Der Stift zitterte leicht.

»Das müssten Sie doch wissen. Wenn Sie und Ihre Schwester schon vor 1984 im Heim waren, wie Sie sagen.«

Die Frau hatte recht. Das Flattern wurde stärker. Gleichzeitig wirbelten weiße Nebelfetzen in seinem Kopf herum. Warum konnte er sich nicht an den Heimleiter erinnern? Und wo war dieser Mann jetzt? Der Nebel verdichtete sich zu silbergrauen Schwaden. Plötzlich riss der Wolkenvorhang in der Mitte auseinander und ein hämisch dreinblickendes Männergesicht grinste kurz daraus hervor, bevor eilige Dunstwölkchen von den Seiten heranzogen und das Loch wieder verschlossen.

Matthias löste seinen Blick von den dunklen Umrissen der Baumwipfel und zwang ihn zurück auf die Notizen. Sinnlos, die Sagorski weiter nach ihrem Vorgänger zu fragen. Er glaubte ihr, dass sie in dem Fall nichts wusste.

»Drittens: Haben Sie noch Kontakt zu ehemaligen Kollegen?«

»Nein.« Die Sagorski schob das Kinn vor. Im Zwielicht konnte er nicht erkennen, ob sie die Wahrheit sagte. Matthias machte ein Kreuzchen hinter die Frage. Er würde sie nachher noch einmal stellen.

»Wissen Sie wenigstens, wo Ihre Kollegen von damals jetzt wohnen?«

»Nein. Das Kinderheim wurde kurz nach der Wende aufgelöst.«

»Das ist mir bekannt, aber es ist nicht die Antwort auf meine Frage. Sie sollten sich doch ein bisschen Mühe geben, Frau Sagorski. Noch einmal also: Sie haben also keine Ahnung, wo ich die ehemaligen Erzieher finden kann?«

»Nein.« Sie setzte eilends noch ein »Tut mir leid« hinzu, wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn damit zu beruhigen, fragte aber nicht, warum er all das wissen wollte. Vielleicht nahm sie an, er wolle auch ihre ehemaligen Kollegen nach seiner verschwundenen Schwester befragen. Und dieses Missverständnis wollte er so lange wie möglich aufrechterhalten, damit sie kooperierte. Denn sobald ihr schwante, wie der Abend tatsächlich enden sollte, würde er nichts von Bedeutung mehr aus ihr herausbekommen. Wieder zog die Frau auf der Sackkarre die Nase hoch, und er hätte sie am liebsten angeherrscht, gefälligst ein Taschentuch zu benutzen, hielt sich aber zurück.

»Wenn Sie ehemalige Heimkinder wie Ihre Schwester suchen  – vielleicht steht etwas darüber in den Akten. Von jedem Kind wurde eine Akte angelegt.«

Matthias nickte versunken. Auch sein neuer Brieffreund, Sebastian Wallau, hatte etwas von Akten geschrieben. Es war eine Möglichkeit, wenn auch eine vage, mit der er sich bis jetzt nicht näher befasst hatte. Vielleicht jedoch konnten diese Akten bei seinen zukünftigen Plänen noch von Bedeutung sein. Es war immer besser, sich auf Fakten, auf Aufzeichnungen berufen zu können als auf das eigene Gedächtnis, das zudem, wie er in den letzten Wochen leider hatte feststellen müssen, nicht unfehlbar war.

»Erzählen Sie mir mehr davon.«

»Von den Akten?« Die Sagorski klang hoffnungsvoll. Matthias nickte, setzte sich auf den Stamm des umgestürzten Baumes und zückte sein Notizbuch.

»Über jedes Heimkind gab es ein solches Dossier. Am Anfang befand sich die Heimeinweisungskarte. Jedem Zögling wurde dann von uns ein persönlicher Betreuer zugeordnet. Dieser beobachtete das jeweilige Kind, führte Gespräche und nahm Eintragungen in die Akte vor. Von Zeit zu Zeit wurden diese Dokumentationen mit dem Jugendamt besprochen.« Matthias legte seinen Zorn, der bei den bürokratischen Ausdrücken wie »Zögling« oder »Betreuer« hochkriechen wollte, an die Kette. Noch brauchte er ihre Kooperationsbereitschaft. Zumindest log sie nicht. Genau das, was sie ihm eben erzählt hatte, hatte auch Sebastian Wallau in seiner letzten E-Mail geschrieben. Er wischte die Frage, warum er selbst sich nicht an seinen »persönlichen Betreuer« und die Gespräche mit ihm erinnern konnte, beiseite. Darüber konnte er später nachdenken. »Wo wurden diese Akten gelagert?«

»Solange der Zögling bei uns im Heim war, haben wir sie dort behalten.«

»Und danach?«

»Wurden sie noch zehn bis maximal fünfzehn Jahre aufbewahrt. Das hing unter anderem vom Platz im Archiv ab.«

Der Zorn in Matthias’ Bauch hatte sich aufgerichtet und zerrte an seinen Fesseln. »Das bedeutet also, heute sind alle Akten aus dem Kinderheim ›Ernst Thälmann‹ vernichtet?«

»Nicht unbedingt. Außer der Heimakte gab es in den zuständigen Jugendämtern noch Adoptions- und Erziehungshilfeakten für jeden Zögling. Darüber weiß ich allerdings leider nichts.«

»Wo könnten diese Dokumente heute sein?«

»In den Archiven der zuständigen Jugendämter oder im Landesarchiv.« Die Sagorski bewegte den Hals von rechts nach links. »Mir tut alles weh. Vielleicht könnten Sie meine Fesseln ein wenig lockern.« Es klang weinerlich, aber Matthias meinte, einen beleidigten Unterton herauszuhören. Glaubte die Frau, ihn mit diesen vagen Auskünften zufriedengestellt zu haben?

»Liebe Frau Sagorski  – wir sind noch nicht fertig. Gedulden Sie sich ein wenig. Das Wichtigste fehlt noch.« Sie hatte ihn mit der Erwähnung der Akten von seinem ursprünglichen Fragenkatalog abgelenkt. Es wurde Zeit, zum eigentlichen Anliegen dieses »Treffens« zurückzukehren. Mal sehen, wie die Heimleiterin mit der Erkenntnis fertigwurde, dass sie nicht wegen ein paar unwichtiger Fragen zu ihren ehemaligen Kollegen hier war.

Matthias klappte sein Notizbuch zu und legte es neben den umgestürzten Baum ins weiche Moos. Für das, was jetzt kam, brauchte er seine Stichpunkte nicht. Er erhob sich und trat dicht vor die Frau. »Können Sie als Heimleiterin mir sagen, ob die Kinder bei Ihnen immer menschenwürdig behandelt wurden?«

Die Sagorski zögerte. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss sie ihn wieder und presste die Lippen aufeinander. Am giftigen Funkeln ihrer Schweinsäuglein konnte er erkennen, dass sie wusste, worauf seine Frage hinauslief, sich aber entschlossen hatte, nichts mehr zu sagen.

»Na? Sie waren doch eben noch so gesprächig! Warum auf einmal so still?« Er versetzte ihr einen Schlag auf die schlaffe Haut der Wange. Das wütende Glitzern ihrer Augen verstärkte sich. Ohne die Fesseln hätte sie wahrscheinlich zurückgeschlagen. Diese Leute lernten es nie. Wussten nie, wann es genug war, wann es besser für sie war, ihre Wut in den Griff zu bekommen.

»Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie und Ihre Kollegen die Ihnen anvertrauten Kinder, die Sie so abfällig ›Zöglinge‹ nennen, immer anständig behandelt?«

»Nicht alle fügten sich den Regeln.« Das presste sie zwischen fast geschlossenen Lippen hervor, als sei es eine Erklärung für ihr eventuelles Fehlverhalten.

»Ach so. Und das hatte zur Folge?«

»Verstehen Sie doch, wir mussten einige von ihnen disziplinieren. Manche kamen aus asozialen Elternhäusern, waren keine Ordnung und Manieren gewöhnt!« Der hochmütige Zug um den Mund war noch immer da.

»Wie sind Sie dabei vorgegangen?«

»Wobei?«

»Beim Disziplinieren, wie Sie es so poetisch ausgedrückt haben.«

»Äh, wir …« Sie zögerte, dachte wohl darüber nach, wie sie die Quälereien mit harmlosen Worten umschreiben konnte. »Es gab verschiedene Maßnahmen.«

»Welche?« Matthias horchte in sich hinein. Er hatte sich vorgenommen, geduldig zu sein, sich nicht von blinder Wut überrennen zu lassen. Die Frau sollte von selbst darauf kommen, was sie falsch gemacht hatte.

»Das hing von den Verfehlungen ab.«

»Frau Sagorski!« Jetzt war er doch ein bisschen lauter geworden. »Reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Sie wissen doch genau, was mit den Kindern geschah, die sich nicht fügen konnten oder wollten!«

»Die Kinder mussten zusätzliche Arbeiten verrichten. Aufräumen, saubermachen, in der Kleiderstube helfen.«

»Das war alles?«

»Manchmal gab es auch Arrest.«

»Wo war dieser Arrest?«

»Im Keller.«

»Im Keller des Kinderheims?«

»Ja. Diese Strafe haben wir aber nur im Notfall angewendet.« Die Sagorski seufzte. Melodramatisch, wie es ihm vorkam.

»Im Notfall, aha.« In Matthias’ Kopf flammte das Wort »Katakomben« auf. Er notierte es sich im Geist. Anscheinend gab es verborgene Erinnerungen an das Eingesperrtsein im Keller in seinem Unterbewusstsein. Er würde sie später hervorholen.

»Ich fasse mal zusammen, Frau Sagorski: Aufräumen, saubermachen, in der Kleiderstube helfen. Dazu Arrest bei manchen Kindern. War das jetzt alles?« Die Frau schwieg, presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nicht mehr zu sehen waren.

»Gut, dann stelle ich die Frage anders: Gab es auch körperliche Züchtigungen?«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Du lügst!« Er schlug ihr direkt ins Gesicht. Sie zuckte zusammen. »Antworte gefälligst!«

»N … Nein.«

»Du weißt, was das bedeutet? Ich hasse Lügner.« Er beugte sich nach vorn, betrachtete das fette, widerwärtige Gesicht und kehrte zum höflichen »Sie« zurück, um seinem Zorn die Möglichkeit zur Beruhigung zu geben. »Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance, die Wahrheit zu sagen. Nutzen Sie sie.«

»Ich … Es… Also gut. Ab und zu hat es wohl auch weitergehende Strafmaßnahmen gegeben …«

»Waren Sie auch an solchen Sanktionen beteiligt?«

Sie überlegte. Zu lange. Schon das verriet sie. Aber anscheinend glaubte sie noch immer, ihm etwas vorspielen zu können. Matthias trat einen halben Schritt nach vorn, sodass seine Fußspitzen das herausgeklappte Metallgestell der Karre berührten, und krümmte Daumen und Zeigefinger dicht vor ihren Augen zu einer Zange. Sie holte tief Luft. Dann fuhr die geöffnete Zange links und rechts in ihre Nase und krallte sich in die Nasenscheidewand. Die Heimleiterin gab ein dumpfes Gurgeln von sich, das in ein langes »Aahh« mündete. Matthias ließ los und wischte seine Finger an der Cargohose ab. Das Blut hinterließ zwei Schmierer auf dem Baumwollstoff, die im Mondlicht schwärzlich aussahen.

»Was fällt Ihnen hierzu ein?«

»Das … Das habe ich ab und zu mit unartigen Kindern gemacht.« Aus den Nasenlöchern der Sagorski sickerte schwarzrote Flüssigkeit, rann zäh in Richtung Oberlippe und tröpfelte geräuschlos auf ihre Brust.

»Sehr gut! Endlich begreifen Sie, was ich von Ihnen möchte! Was haben Sie den Ihnen anvertrauten Kindern außerdem angetan?«

»An den Haaren gezogen. Hab sie geschubst und ab und zu ein paar Ohrfeigen verteilt. Sonst nichts.«

»Sonst nichts? Gar nicht so schlimm, hm? Eigentlich waren Sie ganz harmlos?« Matthias hörte seine Stimme im Wald nachhallen. Ganz harmlos … Ganz harmlos … Was das Schlimmste dabei war  – der Kommentar stimmte. Von all den Peinigern war die Sagorski zweifellos die Harmloseste gewesen. »Waren das solche Ohrfeigen?« Er ließ seine Rechte spielerisch auf die aufgedunsene Wange klatschen. »Oder eher solche?« Jetzt schlug die Hand härter zu. Die Sagorski antwortete nicht. Ihre Augen schimmerten feucht. Nun hatte sie wirklich Angst. Matthias genoss es einen Augenblick lang, ehe er sich zur Räson rief. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich jetzt richtig Mühe gab mitzuarbeiten, und gestattete sich ein Lächeln.

»Es gab Schlimmere als mich.«

»Wie recht Sie haben.« Im gleichen Augenblick, in dem er ihr antwortete, sah Matthias das Begreifen in ihren Augen aufflackern, weil ihr klar wurde, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Durch ihre Aussage hatte sie ihm verraten, dass sie die ganze Zeit von den Untaten ihrer Angestellten gewusst und nichts dagegen unternommen hatte. »Und wie armselig von Ihnen! Sie wussten die ganze Zeit, all die Jahre, was Ihre Untergebenen mit den Kindern anstellten, und haben es hingenommen. Die Quälereien, die Misshandlungen, die Folter. Haben Sie kein schlechtes Gewissen?«

»Doch. Es tut mir sehr leid!« Sie schluchzte die Worte heraus, und Matthias brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass die Frau log. Sie log, um sich reinzuwaschen. Und um der Vergeltung zu entgehen. Was sie dabei nicht bedachte, war, dass er sie nach all dem hier nicht einfach freilassen konnte. Nicht nur, dass sie ihn und seine Geschichte jetzt kannte, es wäre für die Polizei auch ein Leichtes, aus den Schilderungen der Heimleiterin Parallelen zu ziehen, was mit Siegfried Meller und Isolde Semper geschehen war. Und damit wäre sein Rachefeldzug mit einem Schlag beendet, und das jetzt, wo er neue Namen hatte, um die er sich kümmern konnte. Tut mir leid, Frau Sagorski, aber das geht nicht.

Außerdem hatte sie genug Verfehlungen gestanden, um sein Gewissen zu beruhigen. Die Frau hatte ihre Strafe redlich verdient. Nicht nur, weil sie selbst Kinder gequält hatte, nein, als Leiterin einer solchen Einrichtung wäre sie verpflichtet gewesen, ihre Angestellten zu kontrollieren und deren Schikanen und Misshandlungen zu verhindern. Nichts davon hatte sie getan.

»Schön, dass Sie es bedauern.« Er blickte ihr in die Augen, sah Trotz, gemischt mit Entrüstung, und dahinter Furcht. Aber keine Reue. Wie von selbst fanden seine Finger den Schal, der rechts über dem Baumstamm hing. Schritt für Schritt tastete er sich um die Sackkarre herum zur Rückseite. Die Sagorski begann, ihn wüst zu beschimpfen. Als er ihr den Schal um den Hals legte, verlegte sie sich aufs Flehen. Dann gurgelte und röchelte sie nur noch.

 

Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Matthias fröstelte und lauschte in die Nacht, aber der Wald war viel zu still. Dann fiel sein Blick auf den grauen Haaransatz vor ihm. Die Heimleiterin hing schlaff in den Fesseln, der Kopf war zur Seite gesunken. War sie tot? Vorsichtig, um nicht zu stolpern, ging er um das Gefährt herum und betrachtete das geschwollene Gesicht aus der Nähe. Die Augen waren halb geöffnet, die Iris getrübt. Wie ein Stück schwärzliches Fleisch hing die Zunge halb aus dem Mund. Der Schal hatte sich so tief in ihren fleischigen Hals eingegraben, dass er von zwei Hautfalten fast überdeckt wurde.

Matthias musste nicht nach ihrem Puls suchen, um zu wissen, dass sie nie wieder Bedauern heucheln würde.

Der Mond kam wieder hervor und färbte die Ränder einer von ihm wegdriftenden Wolke silbrig. Es war an der Zeit, das, was von der Heimleiterin noch übrig war, einzugraben. Matthias holte den Klappspaten und das Teppichmesser aus der Tasche. Er musste den Tatort noch von Spuren säubern, das Auto der Heimleiterin an einen unverdächtigen Ort bringen und sein eigenes aus dem Wäldchen bei der Schnellstraße abholen. Allerhand zu tun, bis der Morgen kam.

Und auch dann konnte er sich nicht ausruhen. Interessante Aufzeichnungen und neue Namen harrten ihrer Erkundung.