9
Wenn die Sonne über Grünau aufgeht, spiegelt sich der endlose Himmel in den Fensterscheiben der verwaisten Wohnungen. Die meisten Menschen sind längst fortgezogen, die grauen Betonquader warten auf ihren Abriss. Wie die Tagespresse gestern schon berichtete, entdeckten Bauarbeiter der mit den Abbrucharbeiten beauftragten Firma Leißmann GmbH am Dienstag in einem dieser leerstehenden Blocks die Leiche eines unbekannten Mannes.
Lara wandte den Blick vom Bildschirm. Sie ärgerte sich. Darüber, dass Tom einen mehrspaltigen Artikel über die Plattenbauleiche geschrieben hatte. Noch mehr aber ärgerte sie sich, dass der Text gut war. Er enthielt ausreichend Tatsachen, um die Leser anzufüttern, aber nicht zu viel Technisches, was sie langweilen könnte. Und der lakonisch-depressive Schreibstil vermittelte ein plastisches Bild vom Zustand dieses Viertels. Er musste den Artikel gestern am späten Nachmittag geschrieben haben, als sie mit Kriminalobermeister Schädlich im Lindencafé gesessen hatte.
Nach Polizeiangaben handelt es sich bei dem Toten um einen Mann europäischer Herkunft zwischen sechzig und siebzig Jahren. Da die Untersuchungen in der Rechtsmedizin noch nicht abgeschlossen sind, können derzeit keine Angaben über die Todesursache gemacht werden. Sicher ist jedoch, dass Fremdeinwirkung im Spiel war.
Wieder blickte Lara auf. Nach »Polizeiangaben«? Wenn Tom so etwas schrieb, dann hatte er die Polizei auch befragt. Und jemand musste ihm die – wenn auch spärlichen – Informationen gegeben haben, mit denen Kriminalobermeister Schädlich gestern nicht hatte herausrücken wollen. Mit Sicherheit war den Beamten ein Maulkorb verpasst worden. Lara hatte gestern Abend noch einmal ihr Diktiergerät abgehört. Bis auf den Satz: »Er wurde ertränkt« war nichts von Belang dabei gewesen, und auch das war Schädlich nur aus Versehen herausgerutscht. Tom schien von diesem »Ertränken« keine Kenntnis zu haben. Oder er hob sich die brisante Information für die Fortsetzung auf. Denn dass es eine Fortsetzung dieses Artikels geben würde, war so gut wie sicher. Und auch, wer der Verfasser sein würde. Lara atmete tief durch, kritzelte »Pressesprecher Polizei« auf ihren Notizblock und las den Artikel zu Ende.
»Vor dem Abbruch führen wir immer eine Gesamtkontrolle durch.« Fred Möllek, Chef der Abrisstruppe, erklärte, dass er und seine Kollegen immer alle Räume überprüfen. Die Abnahme begänne immer im obersten Stockwerk, dann arbeiteten sich die Männer bis zum Erdgeschoss vor.
Im vierten Stockwerk sei ihnen als Erstes der Geruch aufgefallen. Ein Geruch von verwesendem Fleisch, der die Bauarbeiter zuerst an einen toten Vogel denken ließ. »Manchmal fliegen sie durch die kaputten Fenster und finden nicht wieder heraus«, so Holger Schmalmann, der die Wohnung zuerst betreten hat. Schon im Korridor seien ihm dann Unmengen von Fliegen entgegengekommen. Die Leiche habe im Bad in einer Badewanne gelegen, doch »anfangs haben wir gar nicht sehen können, dass sich dort tatsächlich menschliche Überreste befanden, weil die Fliegenlarven sie von oben bis unten bedeckt hatten«, setzt Schmalmann fort.
Neben den Spalten prangte ein großformatiges Foto mit der Unterschrift »Foto Tom Fränkel«. Ein Plattenbaublock ragte leicht schräg nach oben, die eingeschlagenen Fenster fletschten schwarzen Mäulern gleich gezackte Zähne. Am unteren Rand leuchtete rot-weißes Absperrband mit den schwarzen Blockbuchstaben »Polizeiabsperrung«.
Lara trank einen Schluck Wasser. In ihrem Kopf begann es schon wieder zu pochen. Sie betrachtete mit aufeinandergepressten Lippen den verwaisten Schreibtisch gegenüber. Tom hatte genau wie sie Frühschicht, war aber außer Haus. Vielleicht recherchierte er für seine Fortsetzung.
Sie klickte den Artikel weg und rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn.
»Lara Birkenfeld von der Tagespresse, genau. Ich hätte noch ein paar Fragen zu dem Toten aus dem Abbruchhaus in Grünau.« Lara klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und betrachtete die weiß-grauen Rauchspiralen, die sich von Friedrichs Zigarette nach oben kringelten. »Ich weiß, dass Sie meinem Kollegen gestern schon Auskunft erteilt haben. Tom Fränkel und ich bearbeiten den Fall gemeinsam.« Kurze Pause. »Ich verstehe. Können Sie mir denn wenigstens sagen, ob der Obduktionsbericht inzwischen vorliegt?« Während sie der Antwort des Pressesprechers lauschte, verdrehte sie die Augen nach oben. Friedrich grinste.
»Dann danke. Ja, das machen wir.« Lara legte auf.
»Ihr bearbeitet den Fall also ›gemeinsam‹, hm?« Friedrich grinste.
»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Alles, was mit Gericht und Polizei zu tun hat, ist mein Ressort. Tom hat den Fall einfach an sich gerissen.«
»Lass ihn doch einfach. Sieh es mal so«, Friedrich nahm noch einen tiefen Zug, dann drückte er den Stummel aus, »es erspart dir allerhand Arbeit. Und der nächste Fall gehört dann wieder dir.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Lara schaute in die grelle Nachmittagssonne und unterdrückte ein Niesen. Vorn links bog Jo um die Ecke und kam schnell näher. Seine Fotoausrüstung schaukelte im Takt seiner Schritte vor und zurück. »Na, ihr zwei Hübschen?« Dabei blickte er Lara an. Sie fand, dass seine Augen in der Sonne in einem noch intensiveren Blau strahlten als sonst.
»Hallo, Jo.« Friedrich setzte sich in Bewegung. »Ich geh wieder rauf, sonst meckert der Hampelmann, wenn die Rauchpause zu lange dauert.« Der Fotograf folgte ihm.
Lara warf einen sehnsüchtigen Blick auf die gegenüberliegende Seite des Platzes, wo Springbrunnen und Eisverkäufer Urlaubsflair verbreiteten. »Ich komme auch gleich. Muss noch ein Telefonat erledigen.« Sie wartete, bis die beiden Männer im Eingang verschwunden waren, und wählte dann Marks Telefonnummer.
»Ich habe bis jetzt nichts Interessantes herausfinden können. Seit ich nicht mehr mit der Kripo zusammenarbeite, sind meine Quellen versiegt. Tut mir leid, Lara.«
Mark klang kurzatmig, und Lara fragte sich, wobei sie ihn gerade gestört hatte. »Ich wollte auch keine Interna hören, nur deine fachliche Meinung über den Fall, das hatte ich dir ja gestern Nachmittag schon gesagt. Mein Kollege Tom hat sich in die Berichterstattung hineingedrängelt, und ich will ihm das Feld nicht kampflos überlassen. Leider hält sich auch der hiesige Pressesprecher bedeckt, sie geben aus ermittlungstaktischen Gründen keine Details aus dem Obduktionsbericht bekannt. Aber einem der Kripobeamten ist etwas herausgerutscht. Er hat wortwörtlich gesagt: ›Er wurde ertränkt.‹« Lara hörte Mark atmen. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete.
»Er wurde ertränkt? Ja, dann war es eindeutig Mord. Es gab also einen Täter, der den Mann aktiv unter Wasser gedrückt hat.«
»Mord. Das dachte ich mir auch schon. Was fällt dir noch dazu ein?«
»Die Leiche lag in einer Badewanne?«
»Ja.«
»Die Wasserleitungen waren aber abgestellt, oder?«
»Soweit ich weiß.« Lara begann zu schwitzen.
»Ich gehe jetzt der Einfachheit halber davon aus, dass der Täter das Opfer an Ort und Stelle ertränkt hat. Er muss das Wasser mitgebracht, oder besser noch, vorher dort deponiert haben. Eine haushaltsübliche Badewanne hat eine Füllmenge von ungefähr 150 Litern Wasser.« Lara war verblüfft, was Mark alles wusste, aber er redete schon weiter. »Zieht man den Raum ab, den das Opfer einnimmt, bleiben immer noch einige Liter übrig. Vorausgesetzt, der Mann saß in dieser Wanne.«
»Was meinst du damit, vorausgesetzt, er ›saß‹ darin? Wie könnte es denn sonst abgelaufen sein?«
»Nun, ertrinken kann man auch, wenn man vor der Wanne kniet und jemand einem den Kopf unter Wasser drückt. Aber auch dazu braucht man viel Wasser. Der Täter könnte ihn auch in einem großen Eimer ertränkt haben.« Mark holte Luft. »Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Entweder wurde der Mann woanders ertränkt und die Leiche dann in das Abbruchhaus geschafft oder der Täter erledigte ihn an Ort und Stelle.«
Lara trat in den Schatten und sah auf ihre Armbanduhr. Es wurde allmählich Zeit, dass sie wieder nach oben ging. Der Redaktionsleiter mochte es nicht, wenn die Kollegen ihre Mittagspause über Gebühr ausdehnten. Aber sie hatte dieses Gespräch auch nicht in der Redaktion führen wollen. Journalisten waren von Berufs wegen neugierig. Mark dagegen schien sich jetzt regelrecht in das Thema zu verbeißen. »Ich finde Variante zwei schlüssiger, denn es ist unlogisch, eine Leiche in den vierten Stock zu schleppen, nur um sie dort, für jeden offensichtlich, in der Badewanne zu drapieren. Wenn ich sie nur loswerden wollte, würde ich – wenn es schon ein Abbruchhaus sein muss – ein Versteck suchen. In einem der Keller zum Beispiel, wo die Gefahr, dass Bauarbeiter sie vor dem Abriss finden, geringer ist. Diesem Täter aber war es egal, ob man das Opfer findet. Lara, ich bin davon überzeugt, dass dieser Tatort und das Ertränken keine Zufälle sind. Er hat den Plattenbaublock wahrscheinlich ausgewählt, weil er dort in Ruhe agieren und niemand die Schreie des Opfers hören konnte.« Lara verzichtete auf Kommentare, warf nur ab und zu ein »Hm« ein und versuchte, sich all das zu merken, um es nachher zu notieren.
»Gleichzeitig ist der Tatort meiner Meinung nach symbolisch für das, was der Täter dem Opfer antun wollte. Ich weiß nur nicht, wofür die Symbolik steht. Er könnte zum Beispiel einen Wasserfetisch haben. Die grundsätzlichen Fragen also sind: Warum musste es gerade Tod durch Ertrinken sein, und warum war gerade dieser Mann das Opfer? Wenn du das herausgefunden hast, dann hast du auch deinen Täter.« Mark schnaufte leicht. »So, ich bin fertig mit meiner Fallanalyse.« Sie konnte hören, wie er kurz grinste, ehe er hinzusetzte: »Du solltest an der Badewanne dranbleiben. Wurden Wasserbehälter gefunden? Haben die Anwohner etwas beobachtet? Zum Beispiel wie jemand Kanister hochgeschleppt hat? Manchmal treffen sich auch Jugendliche in solchen Abbruchhäusern. Die könnte man ebenfalls befragen.«
»Mark, ich fürchte, mir fehlt die Zeit, in meiner Freizeit all das zu recherchieren. Offiziell ist Tom an dem Fall dran.«
»Na, dann überlass das Ganze doch einfach ihm. Wo ist das Problem?«
Mark Grünthal verabschiedete sich, während Lara noch über seinen letzten Satz nachsann. Sollte sie Tom seine Spielchen spielen lassen? Sie öffnete die Eingangstür. In der dämmrigen Kühle des Treppenhauses beschloss Lara Birkenfeld, genau dies nicht zu tun. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Man würde ja am Ende sehen, wer die Nase vorn hatte.
Und was war eigentlich ein »Wasserfetisch«?