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Grell blendeten die aufflackernden Neonlampen. Matthias Hase kniff die Augen zusammen und öffnete sie gleich wieder. Das Kunstlicht verlieh seiner Haut jedes Mal eine kränkliche Farbe, und doch wollte er im Badezimmer keine andere Beleuchtung. Er trat an das Waschbecken heran, seifte die Hände gründlich ein und erwiderte dabei im Spiegel seinen eigenen kritischen Blick. Unter den Augen hatte die Haut einen bläulichen Schimmer. Und es zeigten sich feine Knitterfältchen, die man nur sah, wenn man so dicht vor dem Spiegel stand, dass er beschlug. Sein Mund hatte einen wehmütigen Zug, und Matthias Hase zog probehalber die Mundwinkel nach oben. Weil die Augen nicht mitlächelten, wirkte es ein wenig gezwungen. Er stellte das Wasser ab und griff nach dem Handtuch, ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. Der vierzigjährige Mann, der ihm entgegenschaute, war attraktiv, ohne schön zu sein. Er hielt seinen Körper in Schuss, trieb regelmäßig Sport und achtete auf seine Ernährung. Seine Haare waren in den Jahren weder schütter noch merklich grau geworden, was daran liegen mochte, dass sie blond waren. Auch von auffälligen Falten war er bisher verschont geblieben. Das Schicksal hatte es gut gemeint mit seinem Äußeren. Ihm fehlte ein bisschen Schlaf, aber das war auch schon alles.
Nachdenklich ging er zurück ins Wohnzimmer. Es war Zeit für sein abendliches Ritual: zuerst die Nachrichten und dann das Abendbrot.
»Einzelhaft, Schläge, Vergewaltigungen. In einem Heim auf der Kanalinsel Jersey wurden Waisenkinder über Jahre hinweg systematisch gequält. Nach ersten Vermutungen soll es sogar Tötungen gegeben haben.« Die Fernsehkamera schwenkte langsam von dem hellen Mittelgebäude über ein davor aufgebautes weißes Zelt zu einem der beiden spitzgiebeligen Seitenteile und glitt dann von oben nach unten über die braunroten Natursteine und die in viele Fächer geteilten Fenster.
Matthias Hase legte die Fernbedienung wieder zurück auf den kleinen Beistelltisch und beugte sich nach vorn, als habe er Witterung aufgenommen.
»Alles fing damit an, dass der Keller des heute als Jugendherberge genutzten Hauses marode war und modernisiert werden sollte.« Jetzt kam die Reporterin ins Bild. Sie hielt ein zottiges Mikrofon in der Rechten. Ihre blonden Haare wurden vom Wind zerzaust. Mit der linken Hand zeigte sie auf das altertümliche Gebäude im Hintergrund.
»Bei diesen Sanierungsarbeiten wurden erste Knochenteile entdeckt. Die hinzugezogene Polizei suchte den Keller des viktorianischen Gebäudes daraufhin mit Spürhunden ab …«, die Reporterin machte eine dramatische Pause, »… und wurde fündig.« Das Bild zweier Männer in den typischen weißen Anzügen der Spurensicherung wurde eingeblendet. Sie hockten auf dem Boden, umgeben von gelben Tüten, und kratzten im Beton.
Matthias Hase versuchte zu schlucken, aber sein Mund war eine Wüste. Er konnte den Blick nicht vom Bildschirm abwenden.
»Die auf Leichengeruch spezialisierten Hunde schlugen über einer massiven Betonschicht an. Darunter fand man den Schädel eines Kindes, das vermutlich in den achtziger Jahren starb. Dicht daneben wurden Stoffreste, ein Knopf und eine Haarspange entdeckt. Die Fundstücke sind mittlerweile zu forensischen Untersuchungen aufs britische Festland gebracht worden. Die Polizei sucht inzwischen mit Spezialausrüstung nach weiteren Leichen; vor allem in einem zugemauerten Kellerraum; denn hier, im Keller, so berichten ehemalige Insassen, wurden die Kinder bei schlechtem Betragen eingesperrt.«
Das Foto der Spurensicherer verschwand und wurde durch eine Grafik der Räume ersetzt. Von oben konnte man sehen, dass die Gebäudeteile zu einem Rechteck mit Innenhof angeordnet waren. Das helle Frontgebäude, vor dem das weiße Zelt stand, schien nachträglich zwischen die langen Seitenflügel eingefügt worden zu sein. Der rückwärtige Trakt war breiter. An der linken oberen Ecke stand das Wort skull. Matthias musste nicht auf die erklärende Stimme der blonden Reporterin warten, um zu wissen, was das hieß. Dort war also der Schädel gefunden worden.
Vor der rechten Längsfront – er konnte nicht verhindern, dass in seinem Kopf jemand die Anzahl der Fenster zählte – waren zwei kleinere, halbrunde weiß-blaue Aufblaszelte und das Wort cellar eingezeichnet. Cellar hieß Keller. Matthias Hase hatte in Englisch immer gut aufgepasst. Sein Mund war noch immer trocken, und er sehnte sich nach etwas zu trinken, konnte aber jetzt nicht aufstehen. Zuerst musste er diesen Bericht bis zum Schluss ansehen.
»Auch außerhalb des Gebäudes werden mit den Hunden sechs hot spots untersucht, an denen Leichenteile vermutet werden.« Hinter dem linken Seitenflügel zeigten zwei Pfeile auf das Wort pits – Gruben.
»Der Leiter der Suchaktion, Jerseys stellvertretender Polizeichef Sam Lowell, bestätigte, dass die Polizei mit Listen mit den Namen vermisster Kinder arbeitet.« Die Grafik verschwand und die Reporterin erschien wieder im Bild. Der Wind wehte jetzt offenbar stärker, denn Matthias hatte das Gefühl, sie müsse sich regelrecht dagegenstemmen.
»Die mutmaßlichen Morde an den Heimkindern sollen in der Zeit von 1960 bis zum Jahr 1986, als das Kinderheim geschlossen wurde, geschehen sein. Die Ermittler gehen überdies davon aus, dass außer Tötungen hier auch zahlreiche andere Straftaten stattgefunden haben. Heimkinder wurden sexuell missbraucht, gequält, eingesperrt, geschlagen.« In Matthias’ Kopf bildeten die Worte der Reporterin einen Strudel, der immer schneller kreiselte und alle klaren Gedanken zu verschlingen drohte.
»Bereits vor fünf Jahren hatte man hier bei Bauarbeiten Knochen gefunden. Diese wurden jedoch für Tierknochen gehalten – obwohl man sie in unmittelbarer Nähe zu Kinderschuhen gefunden hatte. Angesichts der sich anbahnenden Morduntersuchung versucht die Polizei jetzt, diese Knochen wiederzufinden, damit sie noch einmal untersucht werden können.« Die Reporterin hielt kurz inne und holte tief Luft. Hinter ihr kam Bewegung in das Bild. Ein blau-gelb gestreiftes Auto mit der Aufschrift Police rollte vor das Gebäude. Ein Mann mit neongelber Weste und Schirmmütze stieg aus, gefolgt von einem dunkel gekleideten Herrn. Beide verschwanden in dem weißen Zelt.
Die Journalistin erklärte unterdessen weiter. »Inzwischen haben sich mehr als achtzig ehemalige Insassen bei der Polizei gemeldet, unter ihnen auch Zeugen, die inzwischen im Ausland leben. Sie alle berichteten von systematischem Missbrauch im Haut de la Garenne.«
Matthias Hase spürte sein Herz pochen. Es hämmerte mit weit über hundert Schlägen und er überlegte, ob es womöglich schlappmachen würde. Ehemalige Insassen. Der Begriff schnürte ihm die Kehle zu. Er war selbst in so einer Einrichtung gewesen. Seine Erinnerung war verschwommen, aber er musste damals ungefähr acht Jahre gewesen sein. Seine kleine Schwester Mandy war zu dem Zeitpunkt erst vier gewesen. Jahrelanger Aufenthalt in einem Kinderheim prägte das ganze weitere Leben. Er war wie gelähmt. Seine Kaumuskeln schmerzten.
Nun wurde ein grobkörniges vergilbtes Foto, auf dem ungefähr vierzig Jungen in drei Bankreihen saßen, gezeigt. Am hinteren Rand stand ein Mann mit schwarzem Anzug und weißem Hemdkragen. Das Gesicht des Lehrers war ein verwaschener grauer Fleck, und doch vermeinte Matthias, die Bösartigkeit darin zu erkennen.
»Das Kinderheim Haut de la Garenne wurde 1867 als Schule für ›junge Menschen der unteren Klassen und vernachlässigte Kinder‹ gegründet. Zu Beginn besuchten nur Jungen die Institution. Sie waren zwischen sechs und fünfzehn Jahren alt. Erst ab dem Jahr 1959 nahm man auch Mädchen auf…«
Jungen, Mädchen, vernachlässigte Kinder. Matthias schüttelte den Kopf und öffnete die Augen, die er, ohne es zu merken, geschlossen hatte. Das Boulevardmagazin hatte sich inzwischen anderen Themen zugewendet. Mühsam erhob er sich und tappte wie ein alter Mann in die Küche. Das Mineralwasser schmeckte nach Blut. Seine Unterlippe schmerzte. Er leckte mit der Zunge darüber und spürte an der Innenseite eine wunde Stelle. Was war in diesem Kinderheim auf Jersey geschehen? Und warum wühlte ihn das bis ins Innerste auf? Was war in seinem Kinderheim vor dreißig Jahren geschehen? Wo zum Teufel waren eigentlich alle seine Erinnerungen an diese Zeit?
Die Wasserflasche unter den Arm geklemmt, marschierte er ins Arbeitszimmer. Vielleicht würde eine Internetrecherche seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
Hastig tippten die Finger Kinderheim + »Ernst Thälmann« in die Suchmaschine. Fast 4000 Einträge erschienen. Es gab Einrichtungen mit dem Namen des Arbeiterführers in Dessau, Eisenhüttenstadt, Kyritz, Flöha, Pillnitz, Eilenburg und noch in vielen weiteren Städten. Zu einigen existierten sogar Foren und Weblogs. Es folgten Kinderheime in Ernst-Thälmann-Straßen und Heime, die in anderer Form mit dem Namen verknüpft waren.
Nur zu dem Kinderheim, in dem er und Mandy gewesen waren, fand sich nichts als zwei uralte Zeitungsmeldungen von der Schließung 1989. Keine »Ehemaligen-Seiten«, keine Foren.
Matthias betrachtete abwesend das Etikett der Wasserflasche. War das ungewöhnlich oder nicht? Da er nicht wusste, wie viele Heime mit dem Namen »Ernst Thälmann« es gegeben hatte, fiel es ihm schwer, das zu entscheiden. Sein Blick wanderte zu der Holzschatulle, in der er seine wenigen persönlichen Erinnerungen aufbewahrte. Er musste sie nicht öffnen, um zu wissen, was darin war: ein paar kleinformatige Fotos, Notizen, Briefe, eine Haarspange seiner Schwester Mandy.
Die Jahre im Heim waren ihm in der Erinnerung immer so nichtssagend wie die Schwarz-Weiß-Bilder in dem Kästchen erschienen, ein ewig gleicher Reigen von Schule, Hausaufgabenbetreuung, schlechtem Essen und mürrischen Erziehern. Was also hatte ihn vorhin an diesem Bericht über das Haut de la Garenne dann so aufgewühlt? Erinnerte ihn irgendein unwichtiges Detail der Berichterstattung an etwas? Er brauchte detaillierte Informationen, dann würde es ihm vielleicht wieder einfallen. Wie von selbst huschten die Finger über die Tastatur.
Schon seit Jahren hatte es im idyllischen St. Martins auf Jersey Gerüchte über Vorfälle in dem Kinderheim Haut de la Garenne gegeben. Die Gerüchte blieben jedoch immer ohne Folgen, bis im Jahre 2006 eine verdeckte Ermittlung zu dem vermuteten Kindesmissbrauch ihren Anfang nahm, in deren Folge immer mehr grausige Details ans Licht der Öffentlichkeit gelangten.
Ein ehemaliger Heimbewohner, der inzwischen verstorben ist, berichtete, Direktor Badham sei für seine Grausamkeit bekannt gewesen: »Er hat mich vor versammelter Mannschaft so lange mit dem Stock geschlagen, bis ich blutete. Einem Jungen hat er dabei einen Finger abgetrennt.«
Matthias schluckte mehrmals. In seinem Kopf lief ein Film ab, in dem ein Mann im schwarzen Anzug auf einen kleinen Jungen eindrosch. Wie lange musste man mit einem Rohrstock auf eine Hand schlagen, bis ein Finger abgehackt wurde?
Seit den Knochenfunden der vergangenen Woche haben sich bereits zehn weitere Personen gemeldet, die den sexuellen und körperlichen Missbrauch in dem Heim bestätigt und weiterführende Aussagen gemacht haben. Damit steigt die Zahl der Zeugen auf über hundert. Insgesamt wurden seit Beginn der Ermittlungen schon dreißig Verdächtige von der Polizei vernommen. Nur einer von ihnen wurde bisher angeklagt: Der ehemalige Wachmann Allan Waterford, der zehn Jahre in Haut de la Garenne tätig war, muss sich seit Januar wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht verantworten. Er wurde wegen sexueller Übergriffe in drei Fällen angeklagt, weil er zwischen 1969 und 1979 mehrere Mädchen unter 16 Jahren missbraucht haben soll.
Etwas flammte in Matthias’ Kopf auf wie eine altertümliche Blitzlichtlampe und verlosch sofort wieder.
Laut den Angaben der Ermittler werde es immer deutlicher, dass sich möglicherweise noch Schlimmeres in dem ehemaligen Kinderheim abgespielt habe. Sie erhielten mehrere separate Hinweise, dass sich sterbliche Überreste von Kindern hier befinden könnten. Aus sicherer Quelle war zu hören, dass in den Kellerräumen verkohlte Knochenteile, Kinderzähne und Gegenstände, die wie Fußfesseln aussahen, gefunden worden seien. In einer Badewanne habe man eindeutige Blutspuren entdeckt.
Die Polizei vermutet, dass es sich um Folterkeller gehandelt habe, in denen mindestens fünf Kinder im Alter von vier bis elf Jahren brutal ermordet worden seien. Die Untersuchungen werden noch mehrere Wochen andauern. Erste Obduktionsergebnisse der gefundenen Leichenteile werden frühestens in vierzehn Tagen erwartet.«
Der nächste Link führte ins Nichts. Die Seite war nicht erreichbar. Matthias griff nach der Wasserflasche, um zu trinken, und stellte fest, dass sie leer war. Seine Hände zitterten. Eine Stimme in ihm flüsterte, er sollte den Computer ausschalten, sollte die schrecklichen Berichte vergessen, die Bilder verdrängen. Wenn er nicht damit aufhörte, würde es schlimme Folgen für ihn haben.
Nach dem Bericht eines ehemaligen Heimkindes, das in den 1960er Jahren dort untergebracht war, floh dessen damals 14-jähriger Freund Michael C. aus dem Heim und wurde nur kurze Zeit später erhängt an einem Baum aufgefunden. In zwei weiteren Fällen seien Jungen spurlos verschwunden. Man habe sie als vermisst gemeldet und es hieß: »Sie sind wieder nach Hause gegangen.« Der Zeuge sagte aus, dass ihm dies aus heutiger Sicht fraglich erscheint.
»Wissen Sie, das waren alles Kinder, die keiner wollte«, sagte ein ehemaliger Anwohner. »Jeder in St. Martin wusste, dass in dem Heim hart durchgegriffen wurde, aber nichts anderes wurde in der damaligen Zeit erwartet.« Er zieht das Fazit: »Es wundert mich eigentlich nicht, dass dort Kinder verschwunden sind. Sie waren ja schon fast verschwunden, als man sie dahin brachte.«
Ein Name loderte in dunkelroten Lettern vor Matthias’ Augen: Peter. Dann machte irgendetwas in seinem Kopf Knack. Eine Tür ging auf. Es wurde dunkel.