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Sonnabend, der 18.07.
Liebe Mandy,
nur wenige Tage sind vergangen, seit ich den ersten Brief an Dich geschrieben habe, und heute sitze ich schon wieder an meinem Schreibtisch, um Dir von spannenden Neuigkeiten zu berichten – das geht ziemlich schnell, nicht?
Damit Du die von mir gewählte Züchtigung verstehst und gutheißen kannst, musst Du Dich zuerst erinnern. An die Person selbst und ihr Auftreten im Kinderheim.
Bist Du bereit?
Dann schließe kurz die Augen und erinnere Dich.
Die Frau hieß Isolde Semper und war Erzieherin in unserem Heim. Wir nannten sie »Walze«, weil sie ziemlich unförmig war und überhaupt keine Taille hatte. Fällt es Dir wieder ein? Frau Semper hat uns tagsüber beaufsichtigt, sobald wir aus der Schule kamen; jeden Tag, auch an den Wochenenden. Manchmal frage ich mich, ob sie keine Angehörigen gehabt hat, denn mir kam es so vor, als wäre sie Tag und Nacht dagewesen.
Wenn Du Dich erinnerst, dann weißt Du jetzt auch wieder, was die Passion dieser Frau war – die Nahrungsaufnahme.
Bei jeder Mahlzeit saß sie mit uns am Tisch. Und wehe, eins der Kinder wollte nicht aufessen! Wenn sie jemanden besonders quälen wollte, präparierte sie dessen Essen gezielt. Es war versalzen, mit Essigessenz versetzt, übermäßig gepfeffert, mit ungarischen Peperoni vermischt. Vor den Jungs fürchtete sie sich ein wenig, so glaube ich heute, und deshalb waren ihre bevorzugten Opfer immer die kleinen Mädchen.
Heute frage ich mich manchmal, warum wir ihr nicht Einhalt geboten haben, schließlich saßen wir ja mit euch im Speiseraum, aber auch wir waren eingeschüchtert.
Es war gar nicht so schwierig, sie zu finden, wie ich angenommen hatte. Das Internet ist ein tolles Instrument, um zu recherchieren.
Die Walze ist auch im Osten geblieben. Ich entdeckte sie in Magdeburg. Nachdem ich ihre Adresse kannte, habe ich die Gegend inspiziert. Ich erspare Dir die unwichtigen Einzelheiten. Es war jedenfalls für meine Belange fast ideal. Eine Reihenhaussiedlung in Magdeburg-Stadtfeld. Frau Semper wohnte allein in ihrem Häuschen. (Ich benutze die Vergangenheitsform, denn Du ahnst ja sicher schon, dass sie nicht mehr unter uns weilt.)
Wenn Du jetzt fragst, ob ich wieder den Trick mit dem Hermes-Paket angewendet habe, dann kann ich Dir sagen, dass das nicht nötig war. Die Semper hatte einen Kater. Ein vollgefressenes, träges Vieh. Stell ihn Dir so ähnlich wie diese Comicfigur Garfield vor. Das Tier kam mir wie gerufen. Ich benutzte ihn, um sie spät abends auf ihre Terrasse zu locken.
Auch sie ließ sich, genau wie Fischgesicht Meller, ohne Weiteres von meiner Pistole einschüchtern. Als wir dann in der Küche waren, war sie allerdings nicht mehr ganz so kooperativ. Ich hatte ihr versalzenen Bohneneintopf mitgebracht. Aber sie weigerte sich, auch nur davon zu kosten. Ich musste sie zwingen. Und die Alte war zäh. Sie hat im Gegensatz zu Meller nicht ein einziges Mal um Gnade gefleht, dabei musste sie ganz schön schlucken, im wahrsten Sinne des Wortes. Musst Du bei der Formulierung auch ein bisschen lachen, meine kleine Mandy? Auch das, was sie herausgekotzt hat, wollte sie partout nicht wieder essen. Darin glich sie uns Kindern damals aufs Haar, nur dass wir irgendwann nachgeben mussten. Ich habe eine Kelle und einen großen Trichter benutzt, um ihr das Erbrochene wieder einzuflößen. Trotzdem hat die Semper sich geweigert zu bereuen. Ich werde das Gefühl nicht los, sie war bis zum Schluss der Überzeugung, ihre Bestrafungen an den Kindern wären nötig gewesen. Dass mich das ziemlich wütend gemacht hat, kannst Du Dir bestimmt lebhaft vorstellen!
Liebe Mandy, es tut mir unendlich leid, aber ich kann leider nicht schreiben, dass die Walze Buße getan hätte. Sie wurde zwar gerichtet, eingesehen hat sie ihre Schuld jedoch nicht. Nachdem sich das Spiel »Essen-Kotzen-Essen-Kotzen« mehrmals wiederholt hatte, reichte es mir. Ich wollte ja nicht die ganze Nacht dort verbringen. Ich habe ihr einfach ein großes Handtuch fest auf Mund und Nase gedrückt und gewartet.
Die Semper hat sich ganz schön gewehrt, bis sie endlich an ihrer eigenen Kotze erstickt ist. Ich hätte nicht gedacht, dass eine alte Frau so zäh sein kann! Und dieser fette Kater hat mein Tun die ganze Zeit beobachtet wie ein gelangweilter Buddha. Ich bin froh, dass sie keinen Hund hatte, denn Hunde verteidigen ihre Besitzer doch, oder? Dieser Garfield-Verschnitt jedoch rührte keine Pfote, um sein Frauchen zu beschützen.
Dann war es endlich vorbei. Die Semper hing zusammengesackt in ihrem Sessel, nur gehalten von den Verschnürungen. Ihr Gesicht war rotblau angelaufen, die Zunge quoll wie ein vergammeltes Rumpsteak aus dem halb offenen Mund. Einfach ekelhaft! Nicht dass sie vorher viel besser ausgesehen hätte – das nicht, aber dieser Anblick überbot alles.
Dieses Mal hatte ich weniger Nacharbeiten zu erledigen. Ich lerne dazu. Dass ich Meller mit seinem Auto durch die Gegend gefahren habe, war ein Fehler. Was, wenn mich eine Verkehrsstreife angehalten hätte? Oder wenn mich jemand beim Abbruchhaus beobachtet hätte? Ich hätte ihn auch gleich in seinem Haus erledigen sollen.
Bei der Semper war alles einfach.
Ich habe sie da sitzen lassen, an ihrem Küchentisch, vor sich die orangefarbene Schüssel. Wäre das Gewebeband um ihre Arme und Beine nicht gewesen, hätte es von Weitem ausgesehen, als wäre sie beim Essen eingeschlafen.
Als ich ging, entwischte ihr Kater durch die Terrassentür in den Garten. Im Dunkeln habe ich nicht richtig aufgepasst. Ich hatte ihn eigentlich im Haus einsperren wollen. Aber vielleicht ist das Vieh draußen sogar besser aufgehoben. Es kann lernen, Mäuse zu fangen.
Auf der Heimfahrt habe ich an den Fall gedacht, der erst vor kurzem in einem Kindergarten im Vogtland passiert ist, heute – mehr als zwanzig Jahre nach der Wende! Erzieherinnen haben Kinder, die ihre Mahlzeiten nicht mochten, gezwungen, diese aufzuessen. Erbrachen die Kleinen ihr Essen, mussten sie auch das auflöffeln. Wie abscheulich können Menschen sein? Ich hätte nicht übel Lust, dorthin zu fahren und diesen Frauen die gleiche Strafe zukommen zu lassen wie der Walze! Denn was wird ihnen in diesem Staat schon groß geschehen? Sie verlieren vielleicht ihre Jobs. Das war es dann aber auch schon. Dann ziehen sie in ein anderes Bundesland und können sich von Neuem in Kindertagesstätten bewerben – oder als Tagesmutter arbeiten! Jammerschade, dass ich mich nicht um alles selbst kümmern kann. Ich habe leider vorher noch andere Aufgaben zu erledigen. Ich muss unsere anderen Peiniger suchen. Unangenehmerweise kann ich mich im Moment partout nicht an weitere Namen erinnern. Mein Gehirn ist wie leergefegt, das gesamte Bild unscharf. Nur eine unklare Ahnung, dass da noch viel Schlimmeres im Verborgenen lauert, quält mich von Tag zu Tag mehr. Immer, wenn ich mich zu erinnern versuche, was genau geschehen ist, entgleitet mir die Erinnerung wie ein schmieriger Aal. Aber auch das wird sich lösen lassen. Das Einzige, was ich im Moment sehen kann, ist ein Ringelschwanz von einem Schwein. Seltsam, nicht wahr?
Vielleicht brauche ich ein bisschen mehr Zeit, aber ich habe schließlich alle Zeit der Welt, oder? Niemand verdächtigt mich. Vielleicht muss ich mich auch auf die Suche nach anderen Zöglingen machen, um mit ihnen zu sprechen und sie zu befragen. Lass Dich einfach überraschen, mein blonder Engel. Bist Du überhaupt noch blond? Frauen wechseln ja heutzutage öfters die Haarfarbe, nicht?
Noch werde ich die Briefe nicht abschicken. Aber Du kannst Dir bestimmt vorstellen, dass ich das unheimlich gern tun würde. Ich möchte, dass Du davon erfährst. Du stehst mir am nächsten. Und bei Dir brauche ich auch keine Angst zu haben, dass Du mich verrätst. Deshalb denke ich jeden Tag darüber nach, ob ich Dir die Briefe – oder wenigstens den ersten, in dem ich Dir von Fischgesicht berichte – schicke. Vielleicht tue ich das bald. Ich bin so aufgewühlt!
Bevor ich mich nun für heute von Dir verabschiede, meine Mandy, noch ein Letztes: Vielleicht kann ich Dich eines Tages sogar besuchen, und wir nehmen uns in die Arme wie früher. Noch ist es aber nicht so weit, meine Kleine, noch bin auch ich nicht so weit, weil ich noch nicht alles gefunden habe, was in meinen Erinnerungen schläft. Ich muss es nach und nach erwecken, und erst wenn ich mich wirklich an alles erinnere, werde ich bereit sein. Eines ist aber heute schon gewiss, dass ich mich über alle Maßen auf diesen Augenblick freue.
Ich schließe wie im letzten Brief: In Gedanken bin ich bei Dir, meine Kleine. Tag und Nacht.
In Liebe,
Dein Matthias