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Matthias Hase schloss die Internetseite von Sebastian Wallau. Das Betrachten der Bilder des Kinderheims hatte die Ereignisse wieder hervorgelockt. In seinem Kopf hämmerte der Vorschlaghammer. So wie jeden verfluchten Tag, seit er letzten Donnerstag dort gewesen war.

Er war mit rasenden Kopfschmerzen wieder zu sich gekommen. Hinter seinen geschlossenen Lidern hatten Lichtblitze gezuckt, die Gedanken waren einer Achterbahn gleich im Kreis gerast, eine Jahrmarktssirene gellte beharrlich. Ohne die Augen zu öffnen, hatte Matthias den Rest seines Körpers überprüft. Er saß den Rücken an eine weiche, glatte Oberfläche gelehnt, die Beine angewinkelt. Der Hinterkopf stützte sich an eine feste Unterlage. Als er die Augen langsam öffnete, war sein Blick zuerst auf die Trübungen an der Innenfläche der Windschutzscheibe gefallen und hatte sich danach vorsichtig nach außen vorgetastet. Die Sonne stand tief. Ihr roter Schein übergoss alles mit Flammenfarbe. Die alten Alleebäume wiegten ihre Blätter im Abendhauch. Neben ihm die mannshohe Mauer. Dahinter wartete das ehemalige Kinderheim schweigend auf weitere Eindringlinge. Er hatte es von seinem Sitz aus nicht sehen können, auch wenn er sich weit auf den Beifahrersitz hinüberbeugte, aber er wusste, dass es da war. Wie eine dunkle Bedrohung thronte das Haus inmitten des Parks und hatte noch immer Macht über ihn. Die Spuren der Fingernägel in seinen Handflächen spürte Matthias heute noch  – vier Tage nach seinem Besuch.

Wie ein Zombie hatte er die Heimfahrt angetreten, und erst am nächsten Tag war ihm eingefallen, dass er über den Vorkommnissen in dem leerstehenden Gebäude völlig die Aktensuche vergessen hatte. Da war es schon Freitagmittag gewesen, und es hätte keinen Sinn mehr gehabt, den Weg nach Chemnitz auf sich zu nehmen, weil in den Behörden niemand mehr zu sprechen sein würde. So hatte er die Suche auf diese Woche verschoben.

Matthias massierte seine Schläfen. Das Triptan wirkte schon lange nicht mehr. Am vergangenen Wochenende hatte er versucht, sich zu betrinken, aber auch der Alkohol hatte keinerlei Wirkung gezeigt. Er hätte stattdessen auch Wasser zu sich nehmen können. Und nun war bereits Montagabend, und er hatte sich noch immer nicht aufraffen können, etwas zu tun. Allmählich lief ihm die Zeit davon. Er hatte das Gefühl, etwas sei ihm auf den Fersen, etwas verfolge ihn, etwas durchschaue seine Pläne, sodass er schnell handeln musste, um seine Ziele zu erreichen, und doch saß er seit Tagen herum wie gelähmt. Migräne hin oder her, das musste ein Ende haben.

Die Erinnerungen an die Ereignisse in dem Pförtnerhaus waren so plastisch gewesen, dass er das Gefühl nicht loswurde, er sei dabei gewesen. Hatten die Erzieher  – unten ihnen Rainer Grünkern  – tatsächlich den Tod eines Kindes verschuldet? Und was war danach geschehen? Was hatten sie mit der Leiche gemacht? Würde man bei einer Suche auf dem Grundstück des ehemaligen Kinderheimes Knochenfragmente finden, so wie in den Kellern von Haut de la Garenne?

Und wer war diese Frau mit der Schweinenase gewesen, die Grünkern Gesellschaft geleistet hatte? Die Sagorski hatte auch ein Mopsgesicht gehabt, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie nicht die Frau in dem Keller gewesen war. Es musste eine Person sein, die ihr ähnelte.

Matthias stürzte eine eiskalte Cola hinunter und rief seine Liste auf. Mithilfe von Sebastian Wallau und zwei anderen Ehemaligen hatte er eine stattliche Anzahl von Namen zusammenbekommen. Bei einigen fehlten noch diverse Details, bei anderen häuften sich die Anmerkungen. Er ließ seinen Blick über die Namen huschen. Bei einem von ihnen blieb er hängen, und Matthias dachte einen Augenblick nach, dann glitten seine Finger schnell über die Tasten.

Er musste nicht lange in den gespeicherten E-Mails von Sebastian Wallau suchen, bis er die Stelle gefunden hatte. Die Sätze sprangen ihn regelrecht an, und als er sie noch einmal gelesen hatte, fragte er sich, warum ihm das nicht schon viel eher eingefallen war.

Sebastian hatte in einer seiner ersten Mails von einer Frau geschrieben, die »Miss Piggy« genannt wurde, weil »ihre Nase wie die eines Schweines aussah«. Das musste die Gesuchte sein. Ihr Nachname war Gurich.

Matthias nahm die Finger von der Tastatur. Wenn er selbst als Kind diese Gurich im Pförtnerhaus gesehen hatte  – wieso konnte er sich dann nicht an sie erinnern? Noch einmal schloss er die Augen und rieb sich die Stirn, aber es wollten keine Bilder zum Vorschein kommen. Vielleicht war das aber auch gar nicht nötig. Er wusste jetzt, wer die Frau war, und konnte nach ihr suchen. Wenn er sie gefunden hatte, würde sie schon mit der Sprache herausrücken, was sie im Keller des Kinderheims und im Pförtnerhaus zu tun gehabt hatte und was mit dem verschwundenen Jungen geschehen war.

Mit einem Aufatmen lehnte Matthias sich zurück. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Er hatte wieder eine Aufgabe: Miss Piggy finden und bestrafen.

Das Schild hing ein bisschen schief. Die blauen Buchstaben leuchteten auf dem weißen Untergrund. Neben der Bezeichnung Metallteile HandelsGmbH  – Fließpressteile prangte eine riesige silberne Schraubenmutter. Lara checkte die Zeit. Die »Schraubenbude«, in der Rainer Grünkern vor seiner Rente gearbeitet hatte, war seit einer Viertelstunde geöffnet.

Sie hatte diese Woche Mittagsschicht, musste also erst später in der Redaktion erscheinen und konnte vormittags ihren eigenen Recherchen nachgehen. In der gestrigen Redaktionssitzung hatte Hampenmann sie keines Blickes gewürdigt. Und Tom war auffallend fröhlich gewesen. Nur Isabell schlich herum, als sei sie krank, und verfolgte Tom mit waidwunden Blicken. Lara hatte kurz daran gedacht, dass sie der Praktikantin versprochen hatte, ihr bei der Vorbereitung des Ausstandes zu helfen, es aber sofort wieder vergessen.

Sie öffnete die Tür. Eine Klingel spielte eine kleine Melodie, die einen Mann im grauen Kittel aus einem der hinteren Räume hervorlockte. Er lächelte skeptisch, als er Lara sah, und quetschte ein »Was kann ich für Sie tun?« heraus. Sie hielt ihm ihren Presseausweis vor die Nase und murmelte etwas von Recherchen. Das weckte seine Aufmerksamkeit. Er bat Lara um den Verkaufstresen herum in ein benachbartes Zimmer und bot ihr einen Stuhl an.

»Es geht um einen Ihrer ehemaligen Kollegen, Rainer Grünkern.« Lara bemerkte, dass sie den Mann gar nicht gefragt hatte, welche Funktion er in diesem Betrieb innehatte, aber das konnte sie ja später nachholen. An seinem Gesichtsausdruck sah sie, dass der Angestellte, auf dessen rechter Brustseite M. Petermann aufgestickt war, den Genannten kannte.

»Rainer arbeitet nicht mehr hier. Er ist seit drei Jahren in Rente.«

»Das weiß ich, Herr …«, Lara zögerte kurz und entschied sich dann, dass es unwahrscheinlich war, dass in dem Kittel von »M. Petermann« nicht auch M. Petermann steckte, »… Herr Petermann. Kannten Sie Rainer Grünkern?«

»Klar! Hab mindestens zehn Jahre mit ihm zusammengearbeitet!«

»Sehr gut.« Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass der Mann auch private Details über seinen ehemaligen Arbeitskollegen kannte. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu ihm stellen?«

»Warum denn das?« Rechts hinter Herrn Petermann öffnete sich eine Tür, und ein zweiter Mitarbeiter erschien. Auch er trug einen grauen Kittel. Bei ihm war »F. Häuser« eingestickt. Mit fragendem Blick sah er zuerst zu Lara und dann auf seinen Kollegen, der sich beeilte zu erklären, dass die junge hübsche Frau von der Tagespresse käme. Im vorderen Raum ertönte die Türklingel, und der zweite Arbeiter verschwand mit einem Nicken in Richtung Laden. Lara sah ihm einen Moment lang nach und entschied sich für die Wahrheit. Oder zumindest für einen Teil der Wahrheit. »Erinnern Sie sich an den Leichenfund von letztem Montag in Grünau?«

»Da hab ich was drüber gelesen.«

»Der Tote war Rainer Grünkern, Ihr ehemaliger Kollege. Ich recherchiere für einen Artikel.«

»Rainer war das? In den Nachrichten im Radio haben sie nie einen Namen erwähnt. Da konnte ich doch nicht ahnen, dass …« Er brach ab. »Ich glaub’s nicht. Komm mal her, Frieder! Das musst du dir anhören!«

Aus dem Verkaufsraum kam ein gemurmeltes »Wart mal«, dann dudelte erneut die Türklingel, und der Gerufene erschien. Nachdem »M. Petermann« seinem Kollegen die brisante Neuigkeit im Telegrammstil erzählt hatte, zog dieser sich einen Stuhl heran und setzte sich dazu. Es dauerte keine zehn Minuten, bis die beiden Lara mit ausgiebigen Informationen versorgt hatten. Sie kam kaum mit dem Mitschreiben nach, so schnell schossen sie Hinweise heraus. Dummerweise hatte sie ihr Diktiergerät daheim liegenlassen.

Rainer Grünkern war geschieden  – laut seinen ehemaligen Kollegen »lange vor der Wende«  – und hatte keine Kinder. Jedenfalls keine, von denen die beiden Kenntnis hatten. In seiner Freizeit hatte er viel Sport getrieben und war ab und zu mit den Kollegen einen trinken gegangen. Nach seinem Ausscheiden hatten sie den Kontakt zu ihm verloren. Rainer Grünkern war ihrer Ansicht nach kein besonders geselliger Mensch. Es gab keinerlei Anhaltspunkte für Abnormitäten. Von einer Vorliebe für Pornografie oder gar einer Neigung zu Kindern war keine Rede, und Lara traute sich auch nicht, gezielt danach zu fragen.

»Wissen Sie denn, was Ihr Kollege vor der Wende gemacht hat? Soviel ich gehört habe, war er als Lehrer tätig?«

»Nee, Lehrer war der nicht.« M. Petermann grinste. »Aber so was Ähnliches. Ich glaube, Erzieher.«

»Erzieher, ich verstehe. Das ist ja nicht viel anders.« Lara schrieb das Wort in ihr Notizbuch. »Wissen Sie auch, wo er tätig war?«

»Viel hat er nicht aus der Zeit erzählt. War wohl nicht so ganz einfach damals.« F. Häuser kratzte sich hinter dem Ohr. »Wenn ich mich richtig entsinne, war es ein Kinderheim. Irgendwo in der Nähe von Zwickau.«

Lara fügte ihren Aufzeichnungen »Kinderheim« und »nahe Zwickau« hinzu und starrte einen Augenblick auf die Buchstaben. »Haben Sie eine Ahnung, wo das genau war?« Beide Männer zuckten die Schultern. »Na gut, vielen Dank. Das hat mir schon geholfen.« Lara packte Buch und Stift weg und erhob sich.

»Was ist denn mit ihm passiert? War doch sicher kein Herzinfarkt oder Ähnliches, wenn sich die Zeitung dafür interessiert?« Kollege Petermann war auch aufgestanden. Sein Blick war durchdringend.

»Das haben Sie ganz richtig erkannt.« Lara überlegte, wie viel sie erzählen konnte, ohne Interna zu verraten. »Er wurde ermordet. Mehr darf ich aus Ermittlungsgründen nicht sagen.« Jetzt verwendete sie selbst schon die Floskeln der Kripo.

»Ermordet! Welchen Grund sollte es geben, jemanden wie Rainer zu ermorden?«

»Wenn wir das wüssten, wären wir einen entscheidenden Schritt weiter.« Lara zuckte mit den Schultern und rückte ihre Tasche zurecht. »Vielen Dank nochmals.« Als sie hinausging, standen die beiden Graubekittelten wie eineiige Zwillinge neben dem Verkaufstresen und schauten ihr nach.

 

Das Faxgerät piepte und spuckte dann Papier aus. Isabell eilte hinüber, nahm die Seiten aus der Ablage und stierte darauf. Lara tippte mechanisch. Ihre Gedanken kreisten um das Gespräch von heute Morgen. Die letzte Frage hatte genau ins Herz der Ereignisse gezielt: Welchen Grund gab es, jemanden wie Rainer Grünkern zu ermorden? Sie musste Mark anrufen. Und dann würde sie nach Kinderheimen in der Nähe von Zwickau recherchieren und herausfinden, wo Rainer Grünkern als Erzieher gearbeitet hatte und was damals passiert war. Sie speicherte den Artikel, an dem sie gerade geschrieben hatte, ab und seufzte. Panorama war langweilig. Aber man konnte Zeit einsparen, wenn man schnell die passenden Themen fand.

Sie warf einen Blick zum gegenüberliegenden Schreibtisch. Auf Toms Platz saß Elsa Breitmann, eine von den Freien, und schrieb, ohne hochzusehen. In der Abwesenheitsliste stand unter Fränkel »Landgericht« und in der Zeitschiene »bis 18:00 Uhr«. Das bedeutete, dass er heute wahrscheinlich gar nicht mehr in die Redaktion zurückkehren würde. Lara beschloss, dass sie gar nicht wissen wollte, welchen Prozess Tom begleitete. Wenigstens konnte er so nicht hinter ihr her schnüffeln. Sie schaute in ihr Notizbuch und begann dann, im Internet nach Kinderheimen zu suchen. Kinderheim Meerane, Kinderheim Glauchau, Kinderheim Hartmannsdorf …

Google war eine tolle Erfindung, aber manchmal überfrachtete einen die Suchmaschine mit Treffern. Lara wusste inzwischen, dass es in der DDR in den letzten Jahren vor der Wende 474 Kinderheime, darunter zahlreiche sogenannte Spezialheime für angeblich schwer erziehbare Kinder und 32 Jugendwerkhöfe, in denen Heranwachsende zu regimetreuen sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen werden sollten, gegeben hatte. Das machte pro Bezirk um die dreißig. Wie viele Kinder insgesamt dort untergebracht gewesen waren, stand nirgends. Sie hatte eine Zahlenangabe zu 1981 gefunden, demnach hatte es über 25 000 Heimkinder gegeben, von denen 3200 in den Spezialkinderheimen und 2900 in den Jugendwerkhöfen gelebt hatten.

Erst jetzt  – zwanzig Jahre später  – begann man, das in den DDR-Kinderheimen begangene Unrecht wahrzunehmen. 2009 hatte es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben, und nun konnten ehemalige Insassen auch in Sachsen auf eine Rehabilitierung und in manchen Fällen sogar auf eine SED-Opferrente hoffen. Allein in den ersten drei Monaten nach der Bekanntgabe dieses Urteils waren nur in Leipzig weit über hundert Anträge eingegangen. Es war das erste Mal, dass Lara mit dem Thema konfrontiert wurde. In den letzten Jahren hatte es eine Aufdeckungswelle über Missbrauch und unmenschliche Züchtigungen in den Heimen der ehemaligen Bundesrepublik gegeben, Bücher waren erschienen, Artikel verfasst worden. Dass auch in den DDR-Kinderheimen nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, kam erst jetzt ans Licht. Vielleicht konnte man eine Artikelserie daraus machen. Lara speicherte ihre Ergebnisse auf dem USB-Stick. Auf dem Dienstcomputer waren sie nicht sicher. Jeder kannte ihr Passwort und konnte auf die Dateien zugreifen. Und wie sich letztes Jahr gezeigt hatte, geschah das auch ab und an. Elsa Breitmann stieß einen Seufzer aus und erhob sich. »Ich verschwinde dann wieder. Wenn etwas ist«, sie kam um den Tisch herum und hob grüßend die Hand, »könnt ihr mich auf dem Handy erreichen.«

Lara nickte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Suchseiten zu. Es gab eine Menge Foren zu Heimkindern. Ehemalige tauschten sich aus, suchten nach Kindern, die zur gleichen Zeit dort gewesen waren, oder gaben sich gegenseitig Tipps und unterstützten sich bei Recherchen. Vielleicht fanden sich hier erste Hinweise darauf, wo Rainer Grünkern gearbeitet hatte. Man konnte auch mit den angemeldeten Nutzern Kontakt aufnehmen und nachfragen, ob jemand den Namen schon einmal gehört hatte.

Erst als Isabell »Kaffee?« aus der Küche trompetete, tauchte Lara aus ihrer Versunkenheit wieder auf, reckte die Arme über den Kopf und streckte sich mit einem Ächzen. »Brauchst ihn nicht rauszubringen, Isi, ich komme in die Küche.« Die Praktikantin nickte ihr zu und verschwand wieder.

»Ich nehm auch einen!« Jo kam aus dem Nachbarraum und ging auf Lara zu. Ein halbes Lächeln hing in seinem Mundwinkel. »Hallo! Du warst vorhin so vertieft, da wollte ich dich nicht stören.« Er folgte ihr in die Küche. »Hast wohl spannende Themen?«

»Eher nicht. Ich mache ja seit neuestem die Panoramaseiten. Das ist eher unspektakulär.«

»Ach, ja. Tom hat ja jetzt das Gerichtsressort.« Jo strich Lara über den Arm. »Ärgere dich nicht darüber. Es wird auch wieder andere Zeiten geben.« Dann wandte sich der Fotograf Isabell zu, die gerade ausschenkte. »Und du, flotte Biene? Freust du dich schon auf neue Herausforderungen?«

»Na ja.« Isabell stellte die Glaskanne zurück auf die Heizplatte und zog einen Flunsch. » Klar ist es spannend, wenn etwas Neues beginnt, aber ich war auch gern hier.« Dabei warf sie einen schnellen Blick nach draußen in Richtung Toms Arbeitsplatz.

»Das verstehe ich. Gibst du einen Ausstand?«

»Am Freitag.« Es klang wie eine Frage. Isabell pustete über ihren Kaffee, obwohl das Gebräu höchstens lauwarm war, nippte und schielte dann zu Lara. »Du wolltest mir doch dabei helfen.«

»Aber klar doch!« Lara riss die Augen auf. Dieses Versprechen hatte sie völlig verdrängt. »Hast du schon einen Plan gemacht?«

»Nicht wirklich.«

»Dann reden wir lieber gleich darüber, sonst vergesse ich es womöglich noch. Was hattest du dir denn vorgestellt?«

»Hubert hat mir erzählt, die vorhergehende Praktikantin hätte so eine Art kaltes Buffet aufgebaut.«

»Das war aber ziemlich übertrieben.« Jo grinste die beiden Frauen an. »Mach nicht so einen Riesenaufwand, Isi. Das dankt dir doch keiner. Ein paar Schnittchen, ein Gläschen Sekt. Das reicht.«

»Jo hat recht.« Lara stellte die Wasserflasche auf die Arbeitsplatte. »Therese hat damals viel zu viel aufgefahren.« Ganz kurz kam die Erinnerung an die zierliche junge Frau mit den hellblond gefärbten Haaren zurück. Sie betrachtete Isabell, während sie weiterredete. »Wir könnten einen Fleischer damit beauftragen, ein paar Platten anzurichten. Das kostet nicht die Welt.« Auch die kleine Therese hatte perfekt in Toms Beuteschema gepasst. Er stand auf junge blonde Hüpfer, wie er selbst einmal behauptet hatte. Lara war sich nicht ganz sicher, aber wahrscheinlich hatte Tom auch mit Isabells Vorgängerin etwas gehabt. Therese war noch nicht einmal drei Wochen weg gewesen, da hatte er schon mit Isabell geflirtet. Er stellte sich jedoch immer so geschickt dabei an, dass es niemandem auffiel. Sexuelle Verhältnisse mit Praktikantinnen wären sicherlich auch nicht so gut beim Chef angekommen. Hampenmann hasste es, wenn die Kollegen zu privat miteinander waren.

»Gute Idee.« Isabells Wangen waren gerötet. »Wie viele bräuchten wir denn?«

»Rechne zwanzig Personen.« Jo goss sich noch eine halbe Tasse Kaffee nach. »Das kalkuliert der Fleischer. Die haben Erfahrung damit. Was übrig bleibt, kannst du mitnehmen.«

»Könnt ihr mir einen empfehlen?« Während Lara ihr antwortete, griff die Praktikantin nach einem Notizblock, der immer auf dem Regal neben der Spüle lag, und begann zu schreiben.

»Wir sollten das am Freitag in der Mittagspause anliefern lassen. Den Ausstand gibst du aber erst kurz bevor alle gehen, sonst meckert Hampenmann womöglich wegen des Alkohols in der Arbeitszeit. Und du solltest den Kollegen das Ganze mit einem kleinen Aushang ankündigen.«

»Das ist eine gute Idee.« Isabell schrieb die Hinweise auf. »Danke, Lara.« Sie wurde rot und drehte sich zur Seite. »Und danke, Jo. Das war nett von euch.«

»Keine Ursache.« Lara lächelte. Die Kleine tat ihr ein bisschen leid. Tom hatte sie in den letzten Tagen abblitzen lassen, und sie hatte keine Ahnung, warum. »Jetzt habe ich noch ein paar Dinge zu erledigen. Du rufst beim Fleischer an?« Lara wartete, bis Isabell nickte, und stellte ihre Tasse in den Geschirrspüler. »Fein. Den Sekt kaufe ich. Drei Flaschen reichen. So viele sind am Freitag nicht hier.«

Sie lächelte Isabell zu und verließ die Küche. Sie wollte noch ein bisschen in den Kinderheim-Foren stöbern und ein paar Fragen an Ehemalige posten. Vielleicht hatte sie Glück, und es antwortete ihr jemand, der Rainer Grünkern gekannt hatte.

Der Kilometerzähler addierte Zahlen. Leise summte der Golf vor sich hin. Bäume huschten vorbei und hinterließen ein feines Flackern auf Matthias’ Netzhaut. Es war nicht mehr weit. Nachdem er mithilfe seiner E-Mail-Freunde auch den Vornamen der Erzieherin  – Karin  – herausgefunden hatte, war die Recherche im Netz nicht mehr sehr schwierig gewesen. Miss Piggy war in der Nähe ihres ehemaligen Wirkungsortes geblieben. Sie wohnte in Chemnitz. Chemnitz war sehr gut, denn dort lagerten vermutlich auch die gesuchten Akten. So konnte Matthias zwei Dinge auf einmal erledigen. Zuerst wollte er ins Staatsarchiv. Danach war ein kleiner Besuch bei Madam Schweinenase geplant. Das blaue Hinweisschild kündigte an, dass es noch zwei Kilometer bis zur Autobahnabfahrt waren. Matthias war lange nicht hier gewesen. Die Planer hatten ein monströses System von Schleifen, Brücken und Betonpisten gebaut, das für eine Stadt wie Chemnitz völlig überdimensioniert schien.

Er blinkte und bog in Richtung Zentrum ab. Auch in Glauchau hatte es zu DDR-Zeiten ein Landesarchiv gegeben, das nach 1990 ins sächsische Staatsarchiv Chemnitz eingegliedert worden war. Das schien ein gutes Vorzeichen für seine Suche zu sein.

 

Matthias schirmte die Augen mit der Handfläche ab und sah an dem dreistöckigen Fabrikgebäude nach oben. Die Ziegelsteine leuchteten im Licht der Vormittagssonne. Man durfte hier als Besucher nicht parken, aber das war ihm egal. Seine Beinmuskeln fühlten sich wie Gelee an, als er aus dem Auto stieg. Im Eingangsbereich hing eine Schautafel, auf der die Lage der Zimmer eingezeichnet war. Nach der Anmeldung konnte man in einem der beiden »Benutzerräume« in sogenannten Findemittel-Dateien und im Bibliothekskatalog recherchieren. Während sich Matthias noch fragte, was eine Findemittel-Datei war und welcher Bürokrat sich diesen unverständlichen Begriff ausgedacht haben mochte, kam eine Schar schwatzender, kichernder Mädchen die Treppe herunter und stöckelte an ihm vorbei. Studentinnen wahrscheinlich. Eine von ihnen drehte sich nach ihm um und grinste, aber Matthias vermochte es nicht, ihr Lächeln zu erwidern. Das Gezwitscher verstummte, und er setzte sich langsam in Bewegung, im Geiste ständig die Formulierungen aus den Gesetzestexten wiederholend. Die Behörde hat den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist.

Das war sehr schwammig formuliert. Wen wollte man damit schützen? Schlimmer noch klang der nächste Absatz. Die Behörde ist zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit die Vorgänge wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen geheim gehalten werden müssen.

Matthias war vor der Tür zur Anmeldung angekommen. Sein Herz sprang wie ein verrückt gewordener Pingpongball in der Brust herum.

 

Der schwarze Golf heulte auf. Reifen quietschten über bucklige Pflastersteine. Dann schoss das Auto über den Hof hinaus auf die Straße. Vor der nächsten Ampel kam Matthias gerade so zum Stehen. In seinem Kopf pfiff ein startender Düsenjet. Vor den Augen flirrten rote Schlieren. Die ältliche Beamtin mit den Omalöckchen hatte ihn eiskalt abgebügelt. Selbstverständlich gestatte die Behörde den Bürgern Akteneinsicht. Aber erstens ging es in seinem Fall, soweit sie erkennen konnte, nicht um rechtliche Interessen, zweitens lagerten die gesuchten Akten gar nicht hier. Nachdem sie diese Auskunft zwischen den rosabemalten Lippen herausgequetscht hatte, war er nicht mehr existent gewesen. Sie hatte sich wieder ihren Unterlagen zugewandt.

Soweit sie erkennen konnte? Matthias hatte sich das Namensschild der Frau angesehen und beschlossen, sich bei ihren Vorgesetzten über die unfreundliche Art der Beamtin zu beschweren. Schließlich wurde sie von seinen Steuergeldern bezahlt. Dieser Vorsatz hatte nur leider nicht dazu geführt, dass sich der Sturm in seinem Inneren gelegt hätte.

Erst nach einer Minute hatte die Frau bemerkt, dass er noch immer vor ihrem Tresen stand, und mit herabgezogenen Mundwinkeln zu dem ungebetenen Gast aufgesehen.

Den Blick starr auf die Straße gerichtet, die linke Hand am Lenkrad, klappte Matthias das Handschuhfach auf und tastete nach den Triptan. Sie halfen nicht, aber er musste etwas einnehmen, nur um das Gefühl zu haben, Medizin herunterzuschlucken. Erst nachdem sie einen zweiten, längeren Blick auf ihn geworfen hatte, schien der Frau aufzugehen, dass Matthias Hase nicht so schnell aufgeben würde. Sie war damit herausgerückt, dass Akten ehemaliger Kinderheime in das Ressort »Soziales, Gesundheit und Familie« fielen und, wenn überhaupt, dann in Dresden zu finden waren. Oft seien sie jedoch auch vernichtet worden. Für eine weitere Suche empfahl sie ihm das Standesamt seines Geburtsortes. Dort könne man eine beglaubigte Abstammungsurkunde mit allen Daten erhalten.

Sein Geburtsort! Matthias lachte verächtlich. Er kannte weder den Ort, in dem er geboren worden war, noch die Namen seiner Eltern. Und ob es Sinn hatte, nach Dresden zu fahren, würde er sich noch überlegen.

Hinter seinen Schläfen pulsierte der Zorn. Er brauchte diese Akten nicht. Zumindest nicht für das, was jetzt kam. Jetzt würde er sich die Gurich vornehmen. Nur das konnte den Aufruhr in seinem Innern wieder etwas beruhigen.