20

»Das war ja wieder eine epische Besprechung. Hampelmann findet immer kein Ende. Ich brauche jetzt dringend einen Kaffee.« Tom Fränkel verdrehte die Augen, warf seinen Notizblock auf den Schreibtisch und marschierte in die kleine Redaktionsküche. Isabell folgte ihm wie an einer unsichtbaren Leine. Lara blickte ihnen nach. Der Kollege hätte es in Gegenwart des Redaktionsleiters nie gewagt, ihn mit seinem Spitznamen zu bezeichnen. War Gernot Hampenmann anwesend, tat Tom immer besonders devot und schleimte, wo er nur konnte.

»Ich geh runter, eine rauchen.« Auch Friedrich trug einen mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau. Es war noch nicht einmal Mittag, und schon hatten alle die Nase voll von der Arbeit. Montags schien die Stimmung in der Redaktion immer besonders gereizt zu sein. Lara wusste nicht, ob das an der Aussicht auf die bevorstehende Arbeitswoche, der allmontäglichen Redaktionskonferenz oder an Hampelmanns endlosen Tiraden lag. Vielleicht war es auch alles zusammen. Sie blendete Isis überdrehtes Kichern, das aus der Küche herüberwehte, aus und sortierte ihre Utensilien.

Es waren zwar noch gut zwei Stunden Zeit, aber sie würde sich trotzdem gleich auf den Weg zum Gericht machen. Es gab keine reservierten Plätze für Journalisten. Und die für heute angesetzte Urteilsverkündung im Fall Doktor Schwärzlich würde eine Menge Neugieriger anziehen, das war sicher. Außerdem hatte sie vor, für ihren Artikel ein paar Stimmen von Prozessbeobachtern und, wenn sie Glück hatte, auch von den Beteiligten einzufangen. Lara wechselte die Akkus ihres Diktiergerätes und sprach probehalber ein paar Worte, um zu testen, ob es funktionierte. Dann trug sie sich in die Abwesenheitsliste ein und ging. Ein Blick in die Küche zeigte, dass Tom dort noch immer mit Isabell Kaffee trank. Sie standen auffällig nah beieinander. Aber auch ohne diese Beobachtung wusste inzwischen jeder in der Redaktion, dass die zwei ein Verhältnis hatten. Außer Gernot Hampenmann natürlich.

 

Auf dem Weg zum Gericht dachte Lara über das zurückliegende Wochenende nach. Am Sonnabend war sie zu ihren Eltern gefahren und hatte dort übernachtet. Der Dorfklatsch hatte sie wunderbar von ihren Sorgen abgelenkt. Nur das ständige Insistieren ihrer Mutter, die sich anscheinend täglich fragte, wann ihre Tochter wieder einen Partner fände und ob sie selbst jemals Großmutter werden würde, hatte ein wenig genervt. Laras Vater hatte wie immer nur zustimmend gebrummelt. Die beiden wollten einfach nicht verstehen, dass eine Frau heutzutage auch sehr gut allein durchs Leben kam. Aber sie meinten es ja nicht böse.

Was Peter wohl machte? Lara hatte seit der Trennung nichts mehr von ihm gehört. War er noch in der Stadt? Im Gegensatz zu ihr war er fast hyperaktiv gewesen. Die Unternehmungen mit ihm  – Ausstellungsbesuche, Wanderungen, Konzerte, Lesungen, sogar die regelmäßigen Kinobesuche  – fehlten ihr. Allein konnte sie sich nie dazu aufraffen, blieb lieber zu Hause und las ein Buch.

Lara wechselte die Straßenseite, um im Schatten gehen zu können. Die Sonne hatte ihre schwarze Bluse an Schultern und Rücken aufgeheizt. Der Eisverkäufer in dem mobilen Wagen neben dem Springbrunnen grinste. Lara lächelte zurück und ging vorbei. Heute nicht, mein Freund. Sie konnte es sich nicht erlauben, jeden Tag ein Eis zu essen.

Ihre Freundin Doreen hatte sie auch schon ewig nicht mehr gesehen. Doreen hatte sich wieder mit ihrem Ex eingelassen, und nun fehlte ihr die Zeit, sich ab und zu auf ein Schwätzchen mit Lara zu treffen. Sie riefen sich zwar mindestens einmal die Woche an, aber es blieb immer nur bei Beteuerungen, sich wieder einmal zu treffen.

Gestern Abend hatte sie über eine Stunde mit Mark telefoniert. Er hatte ihr nach dem Gespräch vergangenen Dienstag versprochen, sich mit seinen Fachkollegen in Bezug auf Vorahnungen und Gesichte zu besprechen und deren Hypothesen und Behandlungsmöglichkeiten zu vergleichen. Als Ergebnis war herausgekommen, dass es doppelt so viele Meinungen wie Fachleute gab. Für die einen war es schlicht Humbug, für andere existierte so etwas wie Telepathie tatsächlich. Zwischen beiden Extremen gab es zahlreiche Zwischenmeinungen. Mark selbst tendierte dazu, an solche Phänomene zu glauben, da er diese schon öfter bei seinen Patienten beobachtet hatte. Es gab auch Erklärungen für solche Erscheinungen, die allerdings den Erkenntnissen der Schulmediziner widersprachen.

Lara betrat die Stufen zum Eingang des Landgerichtes. Die mächtige zweiflügelige Tür war dreimal so hoch wie sie selbst, und auch die Klinke befand sich in ungewöhnlicher Höhe. Öffentliche Gebäude früherer Zeiten hatten die Aufgabe, allein durch ihre immense Größe das Volk schon im Vorfeld einzuschüchtern. Die Übertreibung hatte aber auch etwas für sich. Im Landgericht war die Luft kühl und frisch. Lara hielt ihren Presseausweis so, dass der Beamte am Eingang hinter der Glasscheibe ihn sehen konnte, wartete sein Nicken ab und stieg die Haupttreppe hinauf.

Marks Zuspruch hatte sie irgendwie beruhigt und ihr die Angst, verrückt zu werden, genommen. Was ihre Gesichte allerdings mit gerade stattfindenden Straftaten zu tun hatten, konnte auch Mark Grünthal nicht sagen. Bei dem Fall des Serienmörders Martin Mühlmann im vergangenen Jahr hatten sie im Nachhinein feststellen müssen, dass Lara tatsächlich Details seiner Untaten »gesehen« hatte. Von Zeit zu Zeit schien es eine unerklärbare Verbindung zwischen ihrem Unterbewusstsein und in der Nähe stattfindenden Verbrechen zu geben.

Da die gegenwärtigen Visionen aber auch jetzt wieder unscharf waren und keine Einzelheiten über Ort und Zeit erkennen ließen, konnten weder Mark noch Lara sagen, was das erneute Auftauchen ihrer »Gabe« dieses Mal bedeutete. Sie hoffte jedoch gegen ihre Überzeugung, dass es einfach ein Zeitvertreib ihrer überbordenden Fantasie war.

»Hallo, Lara! Auch schon da?« Frank Schweizer kam aus dem Seitengang, in dem sich die Toiletten befanden, und ließ sich neben ihr auf die Holzbank plumpsen. »Es geht erst in anderthalb Stunden los.« Er flüsterte unwillkürlich, obwohl die anderen Besucher weitab standen.

»Die ersten Gaffer haben sich aber schon eingefunden.« Lara deutete auf die Menschentraube vor dem Gerichtssaal. »Das Interesse an dem Fall ist groß.«

»Das, was dieser pädophile Arzt unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Untersuchungen angestellt hat, passiert ja zum Glück auch nicht alle Tage. Wann erscheint dein Artikel?«

»Wenn alles nach Plan verläuft und sie hier rechtzeitig fertig werden, morgen. Ich habe schon damit angefangen.«

»Das schaffst du. Es dauert heute sicher nicht ewig. Im Prinzip ist doch alles gesagt. Was, glaubst du, wird er kriegen?« Frank begann, in seiner Tasche zu kramen.

»Das ist schwer zu sagen. Für solche schweren Missbrauchsfälle sieht das Gesetz Gefängnisstrafen von zwei bis fünfzehn Jahren vor. Ich hoffe, er bekommt die Höchststrafe.« Lara zückte ihr Diktiergerät und stand auf. »Ich gehe ein paar Zuhörer befragen. Brauche noch ein bisschen O-Ton. Soll ich dir einen Platz freihalten?«

»Gern.« Frank Schweizer klang abwesend. Sein Blick war auf die hübsche Blonde vom Jugendamt gefallen, die gerade die Stufen heraufeilte. Lara sah aus den Augenwinkeln, wie er sich erhob und der Frau ein Zeichen machte, dann wandte sie sich ab und ging zu den wartenden Leuten.

 

»Bitte erheben Sie sich.« Eine Seitentür öffnete sich, und die Richter kamen herein. Danach wurde der Arzt von zwei Polizeibeamten in den Sitzungssaal geführt. Er war mit Handschellen gefesselt. Lara fragte sich, ob er diese auch zum Essen tragen musste, und was sie damit machten, wenn er zur Toilette ging, verscheuchte den Gedanken aber sofort. Der Angeklagte wurde zu seiner Bank an der linken Seite des Saales geführt. Sein Verteidiger marschierte hinterher und zerrte dabei an seinem Schlipsknoten, als sei dieser zu eng gebunden.

Das Scharren und Raunen erstarb. Aus den Augenwinkeln sah Lara, wie Frank Schweizer einen Stift zückte und sein Notizbuch vorsichtig auf der Lehne des Vordersitzes abstützte. Neben ihm saß die blonde Frau vom Jugendamt. Auch Lara griff nach ihrem Schreibblock. Sie hatte mehrmals versucht, Verhandlungen mit dem Diktiergerät aufzunehmen, aber der Hall in den riesigen Räumen und die Nebengeräusche der Anwesenden ergaben ein stetes Rauschen, das es unmöglich machte, die Aufzeichnung zu verstehen. So war sie wieder zur altmodischen Methode des Mitschreibens zurückgekehrt. Das hatte auch den Vorteil, dass sie beim Protokollieren gleich über den Artikel nachdenken und sich ein paar Gedanken dazu notieren konnte.

Während der vorsitzende Richter Präliminarien abspulte, betrachtete Lara den angeklagten Arzt. Die Tagespresse würde kein Foto von ihm abdrucken, aber es machte den Text lebendiger, wenn sie den Täter ein wenig charakterisierte. Das helle Neonlicht in dem dunkel getäfelten Saal betonte die zahlreichen Hautunregelmäßigkeiten des Mannes. Sein Haar war schütter, der graue Bart sauber gestutzt. Im Profil wirkte seine Nase kantiger als von vorn. Er trug eine Brille mit schmalem Metallgestell, die ihn wohl seriös aussehen lassen sollte. Sein leidender Gesichtsausdruck machte diesen Eindruck jedoch zunichte. Doktor Schwärzlich hatte die Hände auf der Holzplatte vor sich übereinandergelegt, möglicherweise, um ihr Zittern zu unterdrücken. Er trug einen Ehering, und Lara fragte sich, welche Frau mit so einem Mann verheiratet sein wollte. Aber vielleicht war er längst geschieden und trug den Ring demonstrativ, um allen zu zeigen, dass er im Grunde ein ehrbarer Mann war. Die beiden obersten Knöpfe seines schwarz-rot gestreiften Oberhemdes waren offen, sodass man die faltige Haut des Halses sehen konnte. Lara wandte angewidert den Blick ab. Ihre Augen begegneten denen der blonden Frau vom Jugendamt, und sie überlegte eine Sekunde, bis ihr der Name einfiel. Frau Sandmann zog kurz die Mundwinkel nach oben. Ihre Augen lächelten nicht. Die Finger hatte sie im Schoß verknotet, die Schultern hochgezogen.

Der Richter beendete seine Einleitung, und wie auf Kommando strafften sich die Körper und das Hintergrundgetuschel verstummte. Die Journalisten hielten ihre Stifte bereit und neigten die Köpfe über ihre Notizblöcke.

 

»… Nach Überzeugung des Gerichtes handelt es sich bei den Fällen ausnahmslos um unsittliche Berührungen …«

Lara schluckte. Das war nicht gut. Die Staatsanwaltschaft war in der Anklage von mindestens zwei schweren Missbrauchsfällen ausgegangen. »Unsittliche Berührung« war längst nicht so schwerwiegend wie »Missbrauch«. Das Strafmaß für den Arzt würde sich wahrscheinlich im unteren Bereich bewegen. Der Verteidiger hatte sogar nur eine Strafe auf Bewährung gefordert. Rechts von ihr schüttelte Frau Sandmann heftig den Kopf, und bevor sie wieder nach vorn sah, bemerkte Lara, wie Frank Schweizer der Frau beschwichtigend die Hand auf den Arm legte.

»… wird somit wegen Kindesmissbrauchs in dreizehn Fällen, außerdem wegen Erwerbs und Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt.« Der vorsitzende Richter machte eine kurze Pause. Lara blickte auf und sah den Angeklagten zusammenzucken, während sein Verteidiger mit versteinerter Miene geradeaus starrte.

»… Das Gericht legt außerdem ein Berufsverbot fest. Der Angeklagte darf nach seiner Haftentlassung für drei Jahre nicht als Mediziner arbeiten. Jegliche Tätigkeit, die eine ärztliche Behandlung von Patienten einschließt, ist ihm untersagt.«

Das war ja interessant. Berufsverbot, wenn auch nur für drei Jahre. Das hatten sie selten. Lara kritzelte die letzten Sätze im Telegrammstil auf ihren Block. Der Richter näherte sich unterdessen den üblichen Schlussfloskeln. Der Geräuschpegel im Gerichtssaal nahm zu. Vor Lara neigten zwei Frauen die Köpfe zueinander und begannen zu tuscheln. Das abschließende Geschehen war immer das gleiche und schnell beendet.

In einer Wellenbewegung erhoben sich die Zuhörer, um zu sehen, wie der Angeklagte hinausgeführt wurde. Sein Verteidiger begleitete ihn nicht, sondern ordnete stattdessen langsam, fast phlegmatisch, seine Unterlagen. Wahrscheinlich wollte er sich damit noch einen Moment sammeln, bevor er ins Getümmel vor dem Gerichtssaal treten musste. Da er eine Bewährungsstrafe gefordert hatte, konnte es gut sein, dass er nach Rücksprache mit seinem Mandanten in Berufung gehen würde. Lara erhob sich. Frank war ebenfalls aufgestanden. »Trinken wir gemeinsam noch irgendwo einen Espresso zum Abschluss, oder musst du gleich in die Redaktion?«

»Nicht sofort.« Lara sah zur Uhr und nickte. »Eine halbe Stunde ist noch drin.« Sie würde danach noch genug Zeit haben, ihren vorbereiteten Artikel rechtzeitig für die morgige Ausgabe fertig zu schreiben. Und die Aussicht, den Fall abschließend mit einem Kollegen zu diskutieren, gefiel ihr.

»Kommen Sie auch mit?« Frank wandte sich zu seiner Nachbarin, die unschlüssig in der Bankreihe stand. Ihre Arme hingen kraftlos herunter, die Finger hatte sie noch immer fest ineinanderverschlungen. »Ich weiß nicht recht.« An ihrer Körpersprache konnte man sehen, dass sie gern mitgekommen wäre, sich jedoch nicht traute.

»Wir trinken etwas und reden ein bisschen.« Frank berührte Frau Sandmann am Arm, und diese erwachte aus ihrer Starre. »Na gut. Wenn es nicht so lange dauert.« Dabei sah sie Lara an. In ihren Augen flackerte es kurz, dann verschleierten sie sich wieder.

 

»Es ist ja nicht so, dass er nicht wusste, was er tat. Der Mann hat zudem seine berufliche Stellung ausgenutzt.« Frank kniff die Augen zusammen. »Ein Klinikarzt, der bis zu sechshundert Kinder jährlich betreut hat! Ich möchte nicht wissen, wie viele Missbrauchsfälle es tatsächlich waren. Diese Typen geben doch nur zu, was man ihnen exakt nachweisen kann!«

»Das könnte sein.« Lara betrachtete die beiden vertikalen Falten über Franks Nasenwurzel. Im Hintergrund blubberte die Espressomaschine. »Es bringt aber nichts, im Nachhinein Verdächtigungen auszusprechen. Er hat gestanden, dreizehn Mädchen unsittlich berührt und gestreichelt zu haben. Und zwar von April 2005 bis Sommer 2009. Und dafür wurde er heute verurteilt.«

»Davor war also nichts?« Frank presste die Lippen aufeinander. »Und  – wäre er nicht 2009 in Untersuchungshaft gekommen, was glaubst du, wie es weitergegangen wäre?«

»Hätte und wenn, das sind doch müßige Diskussionen, Frank. Ich denke auch, dass dieser Arzt nicht einfach aufgehört hätte, aber wollen wir es nicht dabei bewenden lassen, dass er nun rechtskräftig verurteilt ist? Was meinen Sie dazu?«

Frau Sandmann, die eben noch abwesend Krümel von der Tischdecke gewischt hatte, sah hoch. In ihren hellen Augen lag Schmerz. »Sie haben beide recht. Letztendlich ist es auch egal. Die Strafe kann das Geschehene nicht wiedergutmachen.«

»Aber ist es nicht für die Familien der Opfer eine Genugtuung, dass der Mann eine Haftstrafe und nicht nur Bewährung bekommen hat?«

»Für die Eltern vielleicht. Obwohl sie sich ein höheres Strafmaß erhofft hatten. Für die Mädchen jedoch ist es völlig gleichgültig, wie lange Doktor Schwärzlich im Gefängnis sitzt. Einen Missbrauch kann man nicht ungeschehen machen. So etwas begleitet einen ein Leben lang. Manche der Mädchen waren gerade erst zehn.« Frau Sandmann griff nach der Wasserflasche und schenkte sich nach. Ihre Hände zitterten. »Außerdem habe ich das Gefühl, dass der Verteidiger in Revision gehen will. Dann wird das alles wieder und wieder aufgewühlt.«

»Das stimmt auch wieder.« Frank kratzte sich hinter dem Ohr. »Werden die Familien und vor allem die Opfer psychologisch betreut?«

»Ja. Allerdings nicht alle. Die Entscheidung darüber liegt bei den Eltern. Wir können nur Angebote machen. Manche von ihnen denken, dass es das Beste ist, wenn ihre Kinder das Ganze schnell vergessen. Man kann ihnen keine Therapie aufzwingen.«

»Ein Freund von mir arbeitet auch als Psychologe.« Lara schaute kurz auf die Uhr und gab sich noch zehn Minuten. »Er sagt, die Opfer ›vergessen‹ nichts. Sie verdrängen es lediglich in ihr Unterbewusstsein. Der seelische und körperliche Missbrauch ist deswegen aber längst nicht verschwunden, sondern latent immer da. Manche dieser Erinnerungen sind dem Bewusstsein überhaupt nicht zugänglich, weil sie zu belastend für die Psyche sind. Und trotzdem richten sie zeitlebens unmerklich Schaden an, wenn sie nicht verarbeitet werden. Das müssen nicht immer psychische Störungen sein, auch Krankheiten treten auf oder selbstverletzendes Verhalten.«

»Ihr Freund hat vollkommen recht.« Frau Sandmann hatte sich gestrafft. Zum ersten Mal, seit sie in dem Café angekommen waren, schaute sie Lara in die Augen.

»Aber sie können die Eltern trotzdem nicht zwingen, ihr Kind behandeln zu lassen.« Frank war aufgestanden. »Ich verschwinde mal ganz kurz…« Er deutete in Richtung Toilette.

»Und ich muss dann auch in die Redaktion, sonst wird es zu spät.« Lara blickte sich nach der Bedienung um.

»Hören Sie.« Frau Sandmann zupfte an Laras Ärmel. Sie flüsterte, obwohl niemand in ihrer Nähe saß. »Ist Ihr Freund ein guter Psychologe?«

»Ich denke schon. Ich glaube, er ist sehr einfühlsam. Natürlich reden wir nicht über Details. Die ärztliche Schweigepflicht, Sie verstehen?«

»Ja, natürlich.« Eine kurze Pause. Lara sah, wie die Frau mehrmals schluckte und dann tief Luft holte. »Könnte ich mal mit Ihrem Bekannten reden?«

»Wegen des Schwärzlich-Falls?«

»Nein, nein. Ich …« Die Kellnerin näherte sich. Gleichzeitig öffnete sich im rückwärtigen Bereich die Tür zum Gang und Frank Schweizer kam heraus. Frau Sandmann zog den Kopf zwischen die Schultern. »Es … geht um etwas anderes.«

»Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen gern die Telefonnummer auf. Er arbeitet allerdings nicht hier, sondern in Berlin.«

»Das macht nichts.«

Gleichzeitig mit der Bedienung war Frank angekommen und nahm Platz. Lara bezahlte ihren Espresso, blätterte dann in ihrem Filofax und schrieb Marks Namen und die Telefonnummer seiner Praxis auf eine Haftnotiz. »Sagen Sie ihm einen schönen Gruß von Lara, wenn Sie ihn anrufen.« Sie lächelte.

Schweineschwanz! Laras Lächeln erlosch wie eine ausgebrannte Glühbirne, während sie sich umdrehte. Kein Mensch saß in ihrer Nähe. Niemand hatte das Wort »Schweineschwanz« laut ausgesprochen. Es war nur in ihrem Kopf aufgetaucht.

»Vielen Dank.« Frau Sandmann klebte den Zettel in ihr Portemonnaie. Sie schien erleichtert. Ihre Schultern sackten nach unten, und ihr Gesicht wurde weicher. »Ich heiße Maria. Aber Sie können mich Mia nennen.«