KAPITEL
45
Sybil blickte verängstigt auf das tief unter ihr liegende, brennende Seir hinab. Fünfzig oder mehr Mönche standen um sie herum und murmelten furchtsam miteinander. Sybil beobachtete sie aufmerksam. Wenn sie soviel Angst hatten, liefen die Dinge vielleicht nicht so gut, wie Petran erzählt hatte. Der kleine, kahlköpfige Mönch tätschelte sie beruhigend. Ihr war klar, daß er kleine Mädchen eigentlich nicht mochte. Er hatte sie nie in den Arm genommen oder mit ihr gespielt.
»Petran, wann kann ich zu meiner Mom?«
Er beugte sich zu ihr herab. »Schon bald.«
Sie betrachtete prüfend sein Gesicht und erkannte an seinem Zögern und den zusammengepreßten Lippen, daß er log. Er hatte keine Ahnung, wann sie zu ihrer Mutter könnte … oder … ob überhaupt …
Sie nickte und schaute wieder zur Stadt hinab. Tief in ihrer Brust wuchs die Leere.
»Captain«, meldete Macey, »ich habe den Ratsherrn in der Leitung.«
»Auf den Schirm, Lieutenant.«
Ornias’ zufrieden lächelndes Gesicht erschien. Offenbar befand er sich in einer Höhle aus rotem Gestein. »Meine Grüße, Captain. Wenn ich recht verstehe, haben die Magistraten mein Angebot in Erwägung gezogen?«
Tahn rieb sich das Kinn. Halloway gab ein Geräusch von sich, das wie ein unterdrückter Fluch klang. Der Rest der Mannschaft betrachtete gespannt den Bildschirm. Einige hatten die Fäuste geballt.
»Wir wollen die Sache rasch hinter uns bringen, Ratsherr. Die Magistraten lehnen Ihre Forderung bezüglich Grinlow ab. Allerdings sind sie bereit, die Belohnung für Baruch auf fünf Milliarden zu erhöhen. Akzeptieren Sie oder lehnen Sie ab?«
Die Züge des Ratsherrn spannten sich; der Blick seiner limonengrünen Augen wurde hart. »Fünf Milliarden sind kaum genug für …«
»Ja oder nein.«
»Sie werden doch nichts dagegen haben, wenn ich erst einmal darüber nachdenke, Captain?«
»Ich gebe Ihnen fünf Minuten. In der Zwischenzeit schaffen Sie Baruch her. Ich will ihn sehen.«
Ornias neigte zustimmend den Kopf und gab jemandem einen Wink. Tahns Magenmuskeln spannten sich, als ein muskulöser blonder Mann auf dem Schirm auftauchte. Obwohl ihm die Hände auf den Rücken gebunden waren, hielten zwei Männer in grauer Uniform seine Arme umklammert. Der Mann reckte trotzig das bärtige Kinn empor.
»Baruch.«
»Tahn.«
Die beiden Männer betrachteten sich abschätzend. Ein sonderbares Gefühl quälte Tahn. Er hatte sich oft vorgestellt, mit diesem Mann bei ein paar Gläsern Rye über strategische Probleme zu diskutieren – oder einen Faustkampf mit ihm auszutragen. »Sie werden gut behandelt, Baruch. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
»Bis Sie mich beim nächsten neurophysiologischen Zentrum abliefern.«
»Trotzdem …«
»Haben Sie Ihr Wort auch den unschuldigen Menschen auf Kayan gegeben? Oder Pitbon?«
Die Worte brannten wie Salz in seinen Wunden. »Ich war nicht auf Pitbon.«
»Nein? Wie steht es denn mit Jumes oder Wexler? Ich weiß, daß Sie dort waren.«
Tahn hob langsam den Blick, während sein Adrenalinspiegel stieg. Baruch hatte an beiden Orten brillante Manöver durchgeführt und war ihm entschlüpft, bevor er überhaupt wußte, was geschah.
»Ratsherr?« rief er und beendete damit das Gespräch mit Baruch.
Die beiden Wachen versuchten, Baruch aus dem Aufnahmebereich fortzuzerren, doch Baruch wehrte sich und rief: »Tahn! Tahn, verdammt! Welche Befehle haben Sie für Horeb? Sie haben Ihrem Shuttle-Piloten befohlen, den Orbit zu verlassen. Wenn diese Leute mich ausliefern, was werden Sie dann tun?«
Die Wachen schafften es schließlich, ihn wegzuziehen. Ornias trat mit einem unsicheren Lächeln vor den Schirm. Er öffnete schon den Mund, als Tahn grollte: »Verschwinden Sie vom Schirm, Ratsherr. Ich bin mit Baruch noch nicht fertig.«
»Wie können Sie es wagen …«
Tahn sprang auf und brüllte wütend: »Verschwinden Sie!«
Ornias biß die Zähne zusammen, verbeugte sich jedoch steif und überließ Baruch wieder den Platz am Monitor.
»Baruch … ich habe den Befehl zu einem Hauptangriffs-Manöver.«
»Stufe Zwei? Oder Eins?«
»Eins.«
Baruch holte tief Luft. »Dieser Planet besteht aus rotem Sandstein. Ist Ihnen klar, daß Sie damit etwas auslösen, das wie ein Meer aus Blut aussieht?«
»Irrelevant.«
»… Zeit bis zur Auslösung?«
»Carey?«
Sie durchbohrte ihn mit ihren kalten grünen Augen, während sie auf eine Taste an ihrem Kontrollpult drückte. »Fünfzig Minuten.«
»Mitgekriegt, Baruch?«
»Tahn …« Jeremiels Augen blickten flehend, doch seine Stimme blieb ruhig und gefaßt. »Es gibt hier ein paar Schiffe, die vielleicht durchhalten können, bis Hilfe eintrifft. Wenn sie …«
»Ich greife keine Flüchtlinge an. Meine Befehle beziehen sich ausschließlich auf den Planeten.«
»Danke für die Krumen vom Tisch der Magistraten. Ich werde die Menschen hier entsprechend informieren.«
Tahn trommelte nervös mit den Fingern auf der Armlehne seines Sessels. »Ratsherr? Welche Entscheidung haben Sie getroffen?«
Der geschniegelte Politiker erschien wieder auf dem Schirm. Er warf einen unbehaglichen Blick auf Baruch und wandte sich dann an Tahn. »Was ist ein Hauptangriffs-Manöver, Captain?«
»Ja oder nein, Ratsherr. Beeilen Sie sich.«
»Nun, angesichts der sonderbaren Umstände akzeptiere ich. Allerdings erhebe ich Einspruch gegen die Art und Weise, in der hier …«
»Ich werde es die Magistraten wissen lassen. Bereiten Sie Baruch zum Transport vor. Eines unserer Shuttles wird ihn in genau dreißig Minuten auf Ihrem Raumhafen in Empfang nehmen.« Er seufzte. »Verbindung trennen, Macey.«
Der Schirm erlosch. Halloway wirbelte auf ihrem Stuhl herum und blickte Tahn herausfordernd an.
»Was ist jetzt wieder?« fragte er unwirsch.
»Bitte um Erlaubnis, eine Breitband-Nachricht über den Status der Überlebenden auf Horeb auszusenden, Sir.«
»Eine Breitband-Sendung? Haben Sie den Verstand verloren?«
»Nein, Sir. Ich will jedes Handelsschiff in Reichweite alarmieren, das gegebenenfalls seinen Kurs ändern kann. Das könnte für viele die Rettung …«
»Sie entwickeln selbstmörderische Tendenzen, Lieutenant.«
»Aye, Sir.« Ihre Finger trommelten einen unregelmäßigen Rhythmus auf der weißen Konsole. »Die Botschaft?«
Gottverdammt. Eine Breitband-Nachricht mochte Jeremiels eigene Streitmacht zur Hoyer führen. Das wußte sie so gut wie er selbst. Andererseits konnte dadurch das Leben Tausender Gamanten gerettet werden.
»Macey«, befahl er, »senden Sie eine Breitband-Nachricht über den Status von Horeb. Dann weisen Sie die Sicherheitsabteilung an, ein volles Kontingent zum Transporterraum zu schicken. Ich will, daß Marc Simons das Shuttle steuert, das Baruch abholt. Sagen Sie ihm, er soll sich auf alles gefaßt machen.«
Carey senkte den Blick und wandte sich wieder ihrem Schaltpult zu.
Macey warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und fragte dann: »Soll ich auch die Magistraten über die Entscheidung des Ratsherrn Ornias informieren, Sir?«
»Ja. Und sagen Sie ihnen auch …« Tahn holte tief Luft. »Sagen Sie ihnen, ich verlange zwei Wochen Urlaub auf Lopsen.«
»Ja, Sir.« Ein Lächeln erschien auf den Lippen des Kommunikationsoffiziers.
Tahn erhob sich. »Halloway, begleiten Sie mich bitte zum Transporterraum, um Baruch in Empfang zu nehmen.«
»Schon unterwegs.«
Sie stand rasch auf und folgte ihm in die Aufzugskabine. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, meinte sie: »Vielen Dank für die Sendeerlaubnis. Und ich weiß es auch zu schätzen, daß Sie uns nicht auf Flüchtlinge feuern lassen.«
»Glauben Sie, ich hätte das für Sie getan?«
Ihre Augen verengten sich. »Nein. Ich glaube, Sie haben das als Buße für die Schuld getan, die Sie auf sich geladen haben.«
Er schob die Hände tief in die Hosentaschen und lehnte sich gegen die Wand. »Der Teufel soll Sie holen, Carey.«
Jeremiel zerrte an den Fesseln um seine Handgelenke. Seine Hände zitterten vor Panik. Er hatte ernsthaft angenommen, die Magistraten würden ihren Angriffsbefehl widerrufen, wenn es so aussah, als würde Horeb kooperieren, indem man ihn auslieferte. Narr. Verdammter Narr. Sie wollen deine ganze Kultur auslöschen. Und sie werden jede Gelegenheit nutzen, um Gamanten zu töten.
Wieviel Zeit blieb ihm noch? Fünfzehn Minuten? Wo zum Teufel steckte Harper?
»Ratsherr, Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit. Ein Hauptangriffs-Manöver der Stufe Eins bedeutet die Verwüstung der Planetenoberfläche bis zu einer Tiefe von hundert Fuß. Wenn Sie erwarten …«
»Sie meinen einen Feuersturm?« flüsterte er und beäugte seine Wachen furchtsam.
»Ja. Tahn wird dafür sorgen, daß es keine Überlebenden gibt.«
Die sechs Wächter, die in regelmäßigen Abständen an der roten Sandsteinwand standen, bewegten sich unruhig. Ohne Harper konnte Jeremiel nichts machen. Würden sie ihn töten, wenn er versuchte, zur Tür zu gelangen? In einer Ecke des Raumes feierten Rathanial und Shassy ein tränenreiches Wiedersehen. Sie würden genau in der Schußlinie stehen, falls die Wachen ihn verfehlten. Er dachte kurz darüber nach und kam dann zu dem Schluß, daß ihr Leben wohl kaum die Zahl der Menschen in seiner Flotte aufwiegen würde, die sterben müßten, wenn die Magistraten seinen Verstand durchwühlten. Er bewegte sich in Richtung Tür.
»Denken Sie nicht einmal daran, Baruch«, sagte Ornias scharf. »Meine Wachen haben zwar Anweisung, Sie unter keinen Umständen zu töten, aber sie dürfen Sie ohne weiteres verstümmeln. Die Magistraten werden dann immer noch Ihr Gehirn bekommen, um damit zu spielen.«
Jeremiel starrte ihn an. »In einer halben Stunde wird dieser Planet nur noch aus Schlacke bestehen. Schalten Sie Ihren Sender ein, und geben Sie den Menschen Bescheid!«
»Wollen Sie mir Befehle erteilen, Baruch?«
»Sieht so aus, als müßte irgend jemand das tun.«
»Werden Sie nicht anmaßend.«
»Ah, ich verstehe. Sie haben Angst, die Menschen könnten die Samaels stürmen und Sie dabei einfach beiseite schieben. Habt ihr das gehört, Männer?« Jeremiel lächelte die Wachen an. »Was glaubt ihr, wie viele von euch er mitnehmen will? Und was ist mit euren Familien?«
Die Wachen warfen sich unsichere Blicke zu und bewegten sich nervös.
Ornias’ Blick wurde hart. »Ich nehme jedes loyale Mitglied meines Stabes samt Familie mit. Dieser Männer wissen das.«
»Sie halten Sie für vertrauenswürdig?« Jeremiel lachte verächtlich. »Dann haben Sie ihnen vermutlich nicht erzählt, daß Sie Zadok Calas getötet haben? Oder daß dank meiner Auslieferung an die Magistraten die Untergrundbewegung ihrer Führung beraubt wird und vermutlich Tausende von Gamanten sterben werden, bis meine Nachfolge geregelt ist?«
»Ihre Lügen werden Ihnen nicht weiterhelfen, Baruch. Meine Männer sind loyal. Ich habe sie immer belohnt …«
Draußen auf dem Flur wurden schwere Schritte laut. Die Tür flog auf und violette Strahlen durchzuckten den Raum. Jeremiel ließ sich zu Boden fallen. Schreie erklangen, während er Deckung suchte.
»Die Waffen runter!« rief jemand.
Jeremiel blickte auf und entdeckte Harper und seine Männer, die sich über die gefallenen Wächter beugten und nachschauten, ob jemand überlebt hatte. Ornias lehnte zitternd an der Wand und hatte die Hände hoch über den Kopf erhoben. Hinter Harper spähte Funk in den Raum hinein. Sein graues Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab.
»Harper!« rief Jeremiel und richtete sich auf. »Schnell, nehmen Sie mir die Fesseln ab.«
Der große Mönch eilte zu ihm und durchtrennte den Stahl mit zwei Schüssen aus seiner Pistole. »Schön zu sehen, daß Sie noch in einem Stück sind. Wir fürchteten schon …«
»Später. Tahn erwartet, daß ich in zehn Minuten zu seinem Schiff gebracht werde. Sobald ich dort bin, wird er Horeb vernichten.«
Harpers braunes Gesicht wurde vor Schreck grau. »Dann passiert es also. Ich nehme an, damit ist Operation Abba in Kraft getreten.«
»Ich fürchte ja.« Jeremiel stand auf und rieb sich die Handgelenke. »Als erstes müssen wir einen Samuel zu den Höhlen schaffen. Nehmen Sie Calas und Funk mit, und holen Sie Sybil und jeden anderen, den Sie dort finden …«
»Janowitz«, rief Harper scharf. Der blonde Mönch schaute auf. »Benutze die die Kom-Einheit des Ratsherrn und stell fest, wie viele Schiffe unsere Leute inzwischen erobert haben. Schick zwei davon zu den Höhlen.«
»Nehmen Sie auch Kontakt zu den Samaels am Pol auf«, fügte Jeremiel hinzu. »Widerrufen Sie alle früheren Befehle. Sagen Sie ihnen, wenn sie Rachel Eloel finden, sollen sie die Frau unversehrt an Bord nehmen. Falls nicht, sollen sie in dreißig Minuten in den Orbit gehen.«
»Alles klar.« Janowitz eilte zum Kom-Gerät.
Harper wandte sich Jeremiel zu. »Was kommt als nächstes?«
»Lassen Sie Janowitz über das Kom-Netz zu den Bewohnern von Seir sprechen. Sie sollen sich zum Raumhafen begeben. Wir werden nicht jeden retten können, aber …«
»Jeremiel, Horeb … ist verloren, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt.« Er lächelte den Mönch an. »Ich wollte Operation Abba schon immer mal ausprobieren. Rudy, mein Stellvertreter, ist von der Wirksamkeit absolut überzeugt.«
»Hat das überhaupt schon jemals einer ausprobiert?«
»Nein. Im Moment ist alles noch reine Theorie. Passen Sie jetzt genau auf. Tahn wird damit rechnen, daß ich von Wachen begleitet werde. Nehmen Sie zwei Ihrer besten Männer und machen Sie sich bereit.«
Er lief durch den Raum und nahm die Waffe eines der toten Wächter an sich.
Rachel erwachte in bitterer Kälte und konnte ihre Beine nicht bewegen. Eis bedeckte ihren Schutzanzug. Sie versuchte, die Finger zu krümmen, mußte jedoch feststellen, daß sie zu steif waren. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und schaute zur Decke empor. Der Glanz des Meas war erloschen – ein verschlossenes Tor.
»Ich … ich sterbe.« Der hohle Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Sie wollte nur noch schlafen.
Ihre Augen schlossen sich.
Eine ruhige Stimme durchbrach ihre Betäubung. »Ah, hier bist du.«
Sie blinzelte schwach. Ein dunkler Schatten huschte über die Wand. Dann erleuchtete ein blendender Blitz die Höhle und ein Mann von kristallener Schönheit tauchte vor ihr auf. Panik erfüllte sie, als sie den zum Leben erwachten Gott des Freskos erkannte. Er betrachtete sie mitleidig und kniete neben ihr nieder.
»Wer … wer bist du?«
Er neigte den Kopf. »Adom kannte mich als Milcom. Doch du weißt, daß mein wahrer Name Aktariel lautet.«
Sie zwang sich zu einem Nicken. Die Wärme in seinem Blick gab ihr das Gefühl, ihn schon ihr Leben lang zu kennen. Es war, als teilten sie einen Schmerz, der zu groß war, um in Worte gefaßt zu werden.
»Ep … Epagael …«
»Ja. Tut mir leid, daß du das durchmachen mußtest. Verzeih mir. Ich hatte keine andere Wahl. Nur indem du Epagael selbst gegenüberstandest, konntest du meine Verzweiflung verstehen.«
Rachel wandte ihren Blick ab.
»Rachel, bitte. Ich weiß, daß du mich fürchtest, aber …«
»Du hast Adom getötet.«
Tränen glitzerten in seinen Augen. »Nicht ich. Epagael.«
»Er …« Ein Schluchzen erschütterte sie. »Gott … sorgt sich nicht … um uns.«
»Nein. Aber ich schon.«
Er zog sie an sich. Wärme erfüllte sie, und sie spürte schmerzhaft, wie ihre Finger und Zehen wieder durchblutet wurden. Erneut überkam sie das unstillbare Schlafbedürfnis. Ohne sich selbst darüber klar zu sein, preßte sie sich noch enger an ihn.
»Schlaf, Rachel«, sagte er leise und strich ihr sanft über das Haar. »Wenn du aufwachst, hat sich das Universum verändert. Schlafe jetzt, solange du kannst.«
Seine Stimme schien in der Kälte widerzuhallen. »Und mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, daß dir jemand etwas tut. Nicht einmal Gott.«
Staub umwirbelte Sybil, als der Samael wie ein großer schwarzer Käfer landete. Mönche liefen darauf zu und drängten sich gegenseitig aus dem Weg.
»Beeil dich, Sybil!« rief Petran und schob sie in Richtung des Schiffs.
»Suchen wir jetzt meine Mommy?«
»Verdammt, Kind! Dieser Planet wird in ein paar Minuten zu Schlacke verbrannt. Beweg dich!«
Er versuchte sie zu packen, doch sie wich seiner Hand aus. »Wenn die Magistraten uns verbrennen wollen, muß jemand meine Mommy suchen! Wo ist sie? Sie sollte zum Mashiah gehen …«
»Wir haben jetzt keine Zeit zu streiten, Sybil!«
Er zog sie hoch und schleppte sie unter dem Arm zum Schiff. Sybil schlug ihre Zähne in seinen Daumen. Er schrie auf und ließ sie fallen. Sie rannte über das Felsplateau davon.
»Schnappt sie euch!« rief Petran.
Von allen Seiten näherten sich Mönche und kreisten sie ein.
Sie ballte die Fäuste und schrie mit aller Kraft: »Wo ist meine Mommy?«
Zwei der Mönche ergriffen sie und schleppten sie in den wartenden Samael.
Harper stand neben Jeremiel am Raumhafen und blickte zum zerstörten Seir zurück. Der dritte Mond war hinter den zerklüfteten Hügeln aufgegangen und beleuchtete die in Trümmern liegende Stadt. Menschen drängten sich in den Straßen. Viele waren mit Knüppeln oder Gewehren bewaffnet. Manche hatten notdürftig verbundene Wunden, doch alle drängten in Richtung der Schiffe, die dicht hinter dem Zaun standen.
Eine Panik hatte ganz Horeb ergriffen. Janowitz und Uriah standen mit gezogenen Pistolen in der Nähe des Eingangs.
Jeremiel hockte sich hin und zeichnete irgend etwas in den Staub. Seine Augen wirkten außergewöhnlich lebhaft, als würden die vor ihm liegenden Gefahren seinen Überlebenswillen stärken.
Harper seufzte. Gamanten. Jahrtausendelang hatten sie Ungerechtigkeiten ertragen, sich jedoch niemals unterworfen. Das Schicksal mochte ihre Knochen zerbrechen, jedoch niemals ihren Geist. Ihm war, als würden sich geisterhafte Vorfahren im Mondlicht um ihn scharen, Männer und Frauen, die das schlimmste Schicksal erlitten und dennoch weitergekämpft hatten.
Er betrachtete Jeremiel nachdenklich. Der Führer der Untergrundbewegung wirkte plötzlich außergewöhnlich ruhig.
»Kommen Sie her, Avel. Ich will sichergehen, daß Sie alles begriffen haben.«
»Sie meinen den Aufbau des Schiffs?«
»Ja. Also, noch einmal. Das hier ist der Transporterraum von Tahns Schiff. Hier ist der nächstgelegene Fahrstuhlschacht. Sie erinnern sich?«
Harper nickte.
»Wir übernehmen zuerst das Shuttle. Der schwierige Teil kommt, wenn wir die Landebucht erreicht haben. Ich werde mich selbst um Tahn kümmern. Sie …«
»Was bringt Sie zu der Annahme, er würde dort sein?«
Jeremiels Augen glitzerten. »Oh, er wird dort sein – genau wie ich im umgekehrten Fall.«
»Aha.« Er blinzelte nervös. »Wissen Sie, auch wenn wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben – das Ganze ist der reine Wahnsinn.«
»Natürlich.« Jeremiel grinste. »Sie wollen aber doch nicht aufgeben, nur weil wir zu viert gegen dreitausend Mann stehen, oder?«
»Wenn wir eine Wahl hätten …«
»Haben wir aber nicht. Jedenfalls nicht, wenn wir Horeb retten wollen. Davon abgesehen ist das hier nicht annähernd so verrückt wie die Geschichte, die ich im Scholem-System abgezogen habe. Damals stand es tausend gegen einen. Tahn hatte uns in die Ecke getrieben und …«
»Sie haben schon in schlimmeren Situationen gesteckt?«
»O ja, viel schlimmer.«
Über ihnen erklang ein Summen. Das Shuttle der Hoyer schoß wie eine tödliche Lanze aus dem dunklen Himmel herab.
Baruch stand auf und klopfte den rötlichen Staub von seinem Sprunganzug. Er warf Harper einen aufmunternden Blick zu und fragte lächelnd: »Fertig?«
Avel rieb sich die Stirn. »Also los.«
Ornias legte die Füße auf das weiße Kontrollpult des Schiffes und blickte durch das Fenster auf die tief unter ihm liegenden Hügel Horebs. Eine Flasche kayanischen Sherrys stand neben ihm. Er kicherte und öffnete die Flasche.
»Wie lange brauchen wir bis Palaia Station, Korporal?« fragte er den braunhaarigen Jungen an den Kontrollen.
»Etwa drei Tage, Sir.«
Er lächelte, füllte das Glas und hob es in Richtung des Kreuzers, der in einiger Entfernung über dem Planeten schwebte. »Auf Ihre Schlagkraft, Tahn. Ich hoffe, er entwischt Ihnen nicht.«