KAPITEL
18
Sarah saß auf dem langen weißen Flur des provisorischen Regierungsgebäudes in Capitol und fühlte sich unwohl. Das Bauwerk war zur Aufnahme der Truppen eingerichtet worden, die man nach Kayan geschickt hatte, um die dort aufflammenden Unruhen niederzuschlagen, und so wimmelte es hier von Soldaten in purpurnen Uniformen, die durch die Korridore marschierten und Sarah im Vorbeigehen böse Blicke zuwarfen. Glaubten diese Männer, sie wäre für ihre Versetzung in die »kulturelle Einöde« Kayans verantwortlich? Sarah hörte, wie mehrere Soldaten sich in dieser Richtung äußerten. Sie strich ihre schwarze Robe glatt, zupfte nervös an der einzelnen Litze und blickte hin und wieder besorgt den Flur hinunter.
Zu ihrer Rechten öffnete sich eine Tür und ein großer, grauhaariger Mann in einer purpurnen Uniform trat heraus. Er hatte eine stumpfe Nase und buschige schwarze Augenbrauen, die eine durchgehende Linie unter seiner tiefgefurchten Stirn bildeten. Die goldenen Litzen auf seinen Schultern kennzeichneten ihn als hochrangigen Administrator.
»Miss Calas?«
»Ja«, antwortete Sarah und erhob sich.
Ungeschickt formte er mit seinen Händen das heilige gamantische Dreieck und verneigte sich dabei leicht. Sarah zögerte überrascht einen Moment, bevor sie die Geste erwiderte. Dachte er, der Gruß würde die Spannung zwischen ihnen vermindern? Die Magistraten von der Verantwortung für die Invasion eines unabhängigen Planeten freisprechen?
»Ich bin First Colonel Silbersay, derzeitiger Militärgouverneur auf Kayan. Ich danke Ihnen, daß Sie meiner Bitte so schnell gefolgt sind.« Er deutete auf die Tür und Sarah eilte ins Zimmer, höchst begierig darauf, diese Angelegenheit möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Das Zimmer erwies sich als kleiner, fensterloser Raum, der lediglich mit einem schlichten stählernen Schreibtisch und zwei Stühlen ausgestattet war. Plastikblätter waren überall im Zimmer verstreut, die meisten lehnten zu gefährlich hohen Stapeln aufgeschichtet an einer der Wände. Sarah nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, verschränkte die Hände nervös auf dem Schoß und wartete, daß der Colonel den ersten Zug machte.
Silbersay schloß die Tür, ließ sich auf den anderen Stuhl fallen, und fragte: »Darf ich Ihnen eine Tasse Taza oder vielleicht etwas …«
»Nein. Danke.«
»Nun, dann vielleicht orillianischen Tee oder …«
»Colonel, ich bin sicher, Sie haben mich nicht kommen lassen, um Höflichkeiten auszutauschen. Was möchten Sie mit mir besprechen?«
Silbersay preßte die Lippen zusammen und blickte auf seinen vollgepackten Schreibtisch, wobei seine Aufmerksamkeit einem besonderen Blatt galt. Sarah erkannte die schildförmigen Insignien der Galaktischen Magistraten darauf, die im Licht der Deckenlampe purpurn aufleuchteten.
»Was verlangen die Magistraten?« erkundigte sie sich.
»Sie haben mich dazu ermächtigt, neue Verhandlungen mit ihnen zu führen.«
»Wir sind nicht an neuen Verhandlungen interessiert. Wir wollen nur, daß Sie umgehend unseren Planeten verlassen.«
Der Colonel verschränkte die Finger ineinander und sagte ernst: »Ich bedaure, daß Sie kein Interesse daran haben und auch keinen Wert darauf legen, mich kennenzulernen. Ich könnte Ihnen eine große Hilfe sein, denn ich bin nicht Ihr Feind.«
»Jeder militärische Befehlshaber der Magistraten ist unser Feind.«
»Ich verstehe. Nun, ich nehme an, dann sollte ich fortfahren. Miss Calas, wenn wir das richtig verstehen, sind Sie seit dem Tod Ihres Vaters für die gamantische Zivilisation verantwortlich. Ist das korrekt?«
»Ja.«
»Darf ich dann fragen, ob Sie beabsichtigen, auch weiterhin der Regierung gegenüber die gleiche Halsstarrigkeit wie bisher an den Tag zu legen?«
Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, doch sie ließ sich nichts anmerken. Wie würde er reagieren, wenn sie mit »Ja« antwortete? Was die Magistraten als »Halsstarrigkeit« bezeichneten, betrachteten Gamanten als Technik des Überlebens. »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken? Worauf beziehen Sie sich?«
Silbersay holte tief Luft und lehnte sich zurück. »Ich beziehe mich auf die Weigerung Kayans – und anderer gamantischer Planeten –, jede Art von Hilfe seitens der Regierung anzunehmen.«
»Wir brauchen Ihre Hilfe nicht.«
»Vielleicht sind Sie nicht über unsere erheblichen technologischen Möglichkeiten informiert.«
»Ich weiß, daß Sie uns Wohlstand jenseits aller Vorstellungskraft bescheren könnten, aber wir sind nicht daran interessiert.«
»Lassen wir den Wohlstand einmal beiseite. Ist Ihnen klar, daß wir ihre Gemeinschaft, sofern Sie es wünschen, aus dem Dunklen Zeitalter in die Gegenwart befördern können? Dank unseres technologischen Fortschritts könnten wir die gamantische Gesellschaft von Krankheiten wie Arthritis und Krebs befreien. Sehschwächen oder Geburtsfehler, die in der übrigen Galaxis fast schon unbekannt sind, könnten praktisch auf der Stelle geheilt werden. Sie müßten sich nie wieder Sorgen um die Lebensmittelversorgung machen und …«
»Sie würden dann medizinische Spezialisten und Tonnen von Nahrung einfliegen, sehe ich das richtig?«
»Genau. Die Magistraten sind außerordentlich effizient, was die Verteilung von Waren und Personal angeht.«
Sarah blickte auf ihre Hände hinab. Unbewußt rollte sie den Stoff ihres schwarzen Gewandes zu kleinen Hügeln auf, die sie dann wieder glättete.
»Miss Calas, verzeihen Sie mir, wenn ich so offen spreche, aber Ihr Volk hat jahrhundertelang unter der Starrsinnigkeit Ihres Vaters gelitten. Wir haben sehr viel anzubieten. Lassen Sie uns Ihnen helfen.«
Ein grimmiges Lächeln kräuselte ihre Lippen. Jedesmal, wenn die Magistraten in der Vergangenheit Hilfe leisteten, hatten sie ihnen im Gegenzug die Kinder genommen. Sie hatten behauptet, die Erziehung sei ihr wichtigstes Anliegen und die Gamanten wären zu rückständig, um den eigenen Nachwuchs vernünftig zu unterrichten. Sie »trainierten« die Kinder entsprechend ihren Vorstellungen, und die gamantische Zivilisation hatte auf diese Weise eine ganze Generation scharfsinniger Geister verloren. Sarah hob den Kopf und funkelte ihn an. »Und die Kosten?«
»Bitte?«
»Die Kosten.« Sie beugte sich vor und stützte sich mit einer Faust auf den Tisch. »Zu welchem Preis?«
»Nun…« Er machte eine abwertende Handbewegung. »Üblicherweise verlangen wir ein paar kleinere Veränderungen in der sozialen Struktur. Beispielsweise würden wir gern eine Rechtsschule auf Kayan einrichten und …«
»Und alle Kinder wären gezwungen, sie zu besuchen, da ihre Eltern andernfalls Gefängnisstrafen zu erwarten hätten? Wird das nicht andernorts auf genau diese Weise gehandhabt?«
»Das ist unterschiedlich. Die Vorgehensweise wird normalerweise auf die jeweilige Gesellschaft zugeschnitten. Aber wir erwarten natürlich eine gewisse Kooperation im Ausgleich für die Waren und Dienste, die wir anbieten.«
»Kooperation?« Sie spie das Wort förmlich aus. Ohne daß es ihr bewußt war, glomm in ihren Augen ein violettes Leuchten auf, als wollte sie jeden Moment über den Tisch springen und ihn angreifen. »Ich nenne das Erpressung.«
Silbersay strich unbeeindruckt die goldenen Litzen an seiner Uniform glatt und schwieg. Was dachte er über sie? Hielt er sie für dumm? Oder für schwach?
»Colonel, wir können Ihren Forderungen unmöglich zustimmen. Magistratische Unterrichtsprogramme sind zu dem Zweck entworfen, kulturelle Eigenheiten zu vernichten, insbesondere religiöser Natur, und das können wir nicht zulassen!«
»Religion«, erwiderte er nachdenklich, »unterdrückt die technologische und intellektuelle Entwicklung. Die Regierung versucht lediglich, Ihre abergläubischen Vorstellungen zu umgehen, und nicht etwa, sie zu vernichten. Auf diese Weise soll der auf den hochentwickelten Welten bereits erreichte gesundheitliche und soziale Wohlstand auch auf die Außenbezirke der Galaxis ausgedehnt werden.«
Sarah sprang auf und schob dabei ihren Stuhl so heftig zurück, daß er quietschend über die Fliesen rutschte. »Vielen Dank für das Gespräch, Colonel. Doch ich kann Ihnen versichern, daß wir weder jetzt noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt Ihre Unterstützung brauchen.« Sie wandte sich zur Tür, doch seine befehlsgewohnte Stimme hielt sie auf.
»Miss Calas…« Er wartete, bis sie sich umdrehte und seinem harten Blick begegnete. Seine Augenbrauen waren zornig herabgezogen. »Die wenigen, weit verstreuten regierungseigenen Einrichtungen auf diesem Planeten haben seit dem Tod Ihres Vaters beträchtliche Angriffe hinnehmen müssen. Ich hoffe, Ihnen ist bewußt, daß wir gezwungen sind, Ihren Planeten im Rahmen einer defensiven Maßnahme zu unterwerfen, sofern diese Gewalttätigkeiten nicht aufhören.«
»Defensive Maßnahme?«
»Wir schlagen zurück.«
»Sie werden nicht …«
»Ich habe bis jetzt insofern von derartigen Maßnahmen abgesehen, als ich die Unruhen als vorübergehenden Ausdruck des Kummers über den Verlust Ihres Vaters betrachtet habe. Doch sobald ich den Eindruck gewinne, daß gezielte terroristische Aktionen dahinter stehen, bleibt mir keine andere Wahl.«
Sarah stand wie erstarrt da und versuchte sich die Zerstörung vorzustellen, die das Feuer der Strahlenkanonen in den kleinen, überall auf der üppig bewachsenen Oberfläche Kayans verstreuten gamantischen Dörfern anrichten würde. »Colonel Silbersay … hat die Regierung meinen Vater ermorden lassen?«
Er blickte sie überrascht an. »Ich weiß, daß die Aufrührer davon überzeugt sind. Aber ich versichere Ihnen, daß wir nichts damit zu tun hatten. Ihr Vater war ein wohlbekannter Unruhestifter, doch wenn wir ihn hätten aus dem Weg schaffen wollen, hätten wir das schon vor vielen Jahren insgeheim erledigt. Morde in der Öffentlichkeit sind kaum von Vorteil.«
Sarah schaute ihn forschend an. War das die Wahrheit? Oder eine clevere Lüge? Sein Gesicht mit den dichten schwarzen Augenbrauen zeigte keinerlei Regung.
»Miss Calas«, fuhr er fort, »wir haben die charakteristischen gamantischen Persönlichkeitsstrukturen sehr gründlich studiert. Ihre Leute sind, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen, ›Barbaren‹. Wir wissen, daß Sie auf Unrecht mit Gewalt reagieren, was ein eher irrationales Verhalten darstellt. Zudem liegt uns sehr daran, eine neuerliche gamantische Revolte zu vermeiden. Mit Sicherheit könnte aber die Ermordung Ihres Patriarchen genau diese Reaktion hervorrufen.«
»Trotzdem zwingen Sie weiterhin gamantische Planeten, die magistratische Politik zu akzeptieren, indem Sie Handelspartner bestechen, widerspenstige Gemeinschaften mit Embargos belegen und…«
»Das«, erwiderte Silbersay und nickte höflich, »ist eine Frage der politischen Strategie und fällt nicht in meinen Entscheidungsbereich.«
»Ja, uns ist auch schon aufgefallen, daß es zunehmend schwieriger wird, jemanden zu finden, in dessen Entscheidungsbereich es fällt.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu, als sie mit der Faust auf den Knopf des Türöffners schlug. Als die Tür zurückglitt, ging sie hinaus und marschierte mit strammen Schritten den langen weißen Korridor entlang, obwohl ihr das Herz schwer war.
Die Gewaltakte würden andauern, und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Oh, natürlich würde sie die Drohung der Magistraten weitergeben, doch das würde die Guerilleros erst recht davon überzeugen, daß die Regierung ihren Vater umgebracht hatte. Diese verdammten Leuteschinder verstanden nichts von der gamantischen Kultur. Der ›Führer‹ war lediglich ein Bewahrer der Kultur, ein Vermittler zwischen unterschiedlichen Gruppen und ein Berater in Fragen sozialer Anpassung, doch keineswegs eine Art König oder Präsident. Sie übte ihr Amt, genau wie zuvor ihr Vater, nur Kraft des Respekts aus, den das Volk ihr entgegenbrachte, und nicht durch irgendeine absolutistische Macht, die mit ihrem Tiel verbunden war.
Und sie als neue Führerin hatte sich noch nicht jenen Respekt erworben, der nötig gewesen wäre, um die Ausschreitungen zu beenden. Oh, sicher, ein wenig vom Einfluß ihres Vaters war an ihr hängen geblieben, und deshalb würden ihr immerhin ein paar Dörfler zuhören – doch für wie lange? Und wie weit würde sie gehen können?
»Papa«, murmelte sie düster, »wie hast du deine ersten Jahre überstanden?«
Doch tief in ihrem Herzen wußte sie es. Ihr Vater hatte gegen jeden Vorstoß der Regierung opponiert, hatte immer dann, wenn die Magistraten versuchten, die sozialen Strukturen eines Planeten gegen den Willen der Bevölkerung zu verändern, den Widerstand organisiert und angeführt. Und er hatte seine Arbeit gut getan, so gut, daß die Menschen ihn fast wie einen Gott verehrten.
Ein leises Lächeln huschte über ihr angespanntes Gesicht, als sie sich an Zadok Calas erinnerte, den schmächtigen kleinen Mann mit der großen Nase und den zwinkernden Augen. Ein Gott. Ihr Vater. Und ihr Herz schmerzte so sehr, daß sie es kaum ertragen konnte. Das letzte Stück ihres Weges durch den Korridor rannte sie.