KAPITEL
19
Jeremiel suchte sich seinen Weg durch den Irrgarten aus rubinroten Höhlen und zog dabei mehrfach die Karte zu Rate, die Rathanial ihm gegeben hatte. Er bog rechts ab und stieg kurz darauf eine Treppe hinab. Unten angekommen, wandte er sich an einer Gabelung wieder nach rechts. Wenn er falsche Abzweigungen nahm, stieß er oft auf blockierte Durchgänge oder Sackgassen. Mitunter traf er auch auf hastig errichtete, provisorische Holzsperren, die wie schadhafte Zähne aus Löchern im Boden hervorragten. Warum waren so viele Teile dieser unterirdischen Welt geschlossen worden?
Irgendwo hinter ihm erklangen leise Töne, und als er sich umwandte, erkannte er die tiefen, melodiösen Stimmen der Mönche, die ihre Abendgebete sangen. Ihre Lieder durchzogen die unterirdischen Gänge wie Rauchfetzen. Religiöse Gesänge hatte er schon immer als angenehm beruhigend empfunden.
Er hielt die Lampe ein wenig höher und warf abermals einen prüfenden Blick auf die Karte. »Ich muß schon fast dort sein«, murmelte er. Seine Augen strichen über die Reihe der vor ihm liegenden Öffnungen. »Na schön«, seufzte er, »also der zweite Raum links.«
Er machte ein paar Schritte vorwärts, betrat die erste Kammer, wobei er unbewußt die religiösen Symbole wahrnahm, die Dutzende von Generationen in die Wände geritzt hatten, und ging dann weiter in den zweiten Raum. Ein brauner Vorhang verschloß einen weiteren, vor ihm liegenden Eingang. Der goldene Lichtschein, der seitlich neben dem Stoff herausdrang, warf helle Streifen über die roten Steinwände.
»Rachel?«
Schnelle Schritte waren zu hören. »Einen Moment noch. Ich komme.«
Als sie den Vorhang zurückschlug, weiteten sich seine Augen. Er hatte sie in den zwei Tagen seit jenem Morgen nicht mehr gesehen, als sie schmutzig und verängstigt von Rathanial so kühl empfangen worden waren. Oh, er hatte durchaus bemerkt, daß unter dem verfilzten Haar und der zerfetzten Kleidung eine hübsche Frau steckte, doch was er jetzt sah, war weit mehr, als er erwartet hatte. Sie stand in einem elfenbeinfarbenen Gewand vor ihm, das jede Rundung ihres Körpers nachzeichnete. Ihr Haar fiel in schimmernden schwarzen Wellen bis zur Taille hinab. Und obwohl ihr herzförmiges Gesicht mit den vollen Lippen, den großen schwarzen Augen und der perfekten Nase ein wenig hager wirkte, war der Gesamteindruck überwältigend. Sein Blick wanderte unbewußt zu ihren schwellenden Brüsten.
»Sie… Sie sehen besser aus«, sagte er bewundernd.
Sie zog eine Braue hoch. »Möchten Sie hereinkommen oder wollen Sie lieber hier stehen bleiben und noch ein bißchen gaffen?«
»Ich kann auch drinnen weitergaffen«, meinte er und duckte sich unter dem Vorhang hindurch. Ihre Schlafhöhle war, verglichen mit seiner eigenen, recht groß. Sie maß etwa zwanzig mal vierzig Fuß, und bis zur Decke mochten es ebenfalls vierzig Fuß sein. Zwei aus geflochtenem Gras gefertigte Matten am gegenüberliegenden Ende des Raums dienten als Schlafstellen, und auf einer davon lag Sybil in einem Nest aus braunen und grünen Decken und schnarchte leise. Außerdem war der Raum mit einem kleinen Tisch und vier Stühlen ausgestattet, und mitten in einer der Wände war eine winzige Feuerstelle eingelassen, neben der Brennholz aufgestapelt lag. Jeremiel überlegte, wie die Wüstenväter es schaffen mochten, den Rauch ohne irgendwelche Rückstände aus den Höhlen abzusaugen. Offenbar gab es hier ein ausgeklügeltes Filtersystem.
»Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um hierher zu finden«, erklärte Jeremiel ein wenig ungehalten. »Glauben Sie, Rathanial versucht, uns voneinander getrennt zu halten?«
»Ich vermute, er versucht, Sybil und mich von seinen keuschen Mönchen fernzuhalten. Wir lösen ›unzüchtige Gedanken‹ aus, hat er gesagt.«
»Äh … ja.«
Ihre Augen verengten sich.
»Wie geht es Ihnen?«
Sie legte den Kopf schief, als käme ihr die Frage etwas merkwürdig vor, doch dann nickte sie plötzlich. »Ach ja, ich hatte vergessen, daß Sie für mich verantwortlich sind. Mir geht es gut. Und welchem Anlaß verdanke ich diesen Besuch?«
»Haben Sie sich erholt?«
»Einigermaßen. Weshalb…«
»Werden Sie auch gut mit Lebensmitteln versorgt?«
»Wenn ich jetzt nein sage, verhauen Sie dann den Chef?«
Ein amüsierter Unterton schlich sich in ihre Stimme. Jeremiel lächelte. Offensichtlich ging es ihr besser. »Wahrscheinlich.«
»Was führt Sie her?«
»Legen Sie immer so ein Tempo vor? Ich dachte, wir könnten uns vielleicht ein paar Minuten unterhalten.«
Sie stieß einen Seufzer aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin immer in Unruhe, wenn ich glaube, mein Leben und das meiner Tochter könnten in Gefahr sein. Schließen wir einen Kompromiß. Ich unterhalte mich mit Ihnen, wenn Sie den folgenden Satz beenden: Ein paar Minuten, bevor …?«
»Bevor wir uns mit Rathanial treffen, um seinen Plan zu besprechen, den Mashiah zu stürzen.«
Ihre Augen weiteten sich. »Er arbeitet aber sehr schnell.«
»Nun, um die Wahrheit zu sagen, er beschäftigt sich schon seit Monaten damit, Tartarus und seine Helfer zu beobachten.«
Sie nickte rasch und schluckte einen Kloß in ihrer Kehle herunter. Dann wandte sie sich ab und ging zur Feuerstelle, wobei ihre elfenbeinfarbene Robe den Sherryfarbton der Flammen reflektierte. Die glatte Olivenhaut ihrer Stirn furchte sich unter der Anstrengung des Denkens. Angesichts ihres gehetzten Blicks schloß Jeremiel, daß sie gerade ein paar taktische Entscheidungen traf.
»Ich habe Ihnen ja schon gesagt«, erklärte er säuerlich, »ich erwarte nicht, daß Sie mitmachen.«
»Ich hatte Sie nicht darum gebeten, das zu wiederholen.«
»Nein, aber ich dachte, Sie würden sich dann vielleicht besser fühlen.«
»Nein, tue ich nicht.«
Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Auch gut.«
»Es ist nur, daß ich … ich weiß nicht …«
Er wartete darauf, daß sie den Satz vollendete. Als sie nur eine Faust ballte und zur Tür schaute, bemerkte er: »Ich werfe es Ihnen nicht vor, wenn Sie sich fürchten.«
»Das ist es nicht«, protestierte sie. »Das ist es ganz und gar nicht.«
Er hob den Kopf und betrachtete sie genau. Sie log nicht. Ihre Ängste mußten eine andere Ursache haben. Er spürte eine Bitterkeit in ihr, ein Gefühl des Versagens und eine Wunde, die so tief ging, daß sich ihre Auswirkungen kaum verbergen ließen. Ging es um ihren Mann?
»Sehen Sie«, sagte er freundlich und breitete die Arme aus. »Ich weiß, wie es ist, jemanden im Krieg zu verlieren, den man liebt. Es braucht seine Zeit, um so etwas zu heilen. Ich verstehe das. Und ich bin sicher, auch Rathanial wird Verständnis dafür haben. Also machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Sie haben jemanden verloren?« Ihre Stimme klang so zerbrechlich wie ein Ast, der von einer schweren Schneelast gebeugt wird.
Die wunde Stelle in seinem Innern, jener Abgrund, den Syene hinterlassen hatte, begann zu schmerzen. »Eine Freundin. Wir waren drei Jahre zusammen.«
»Wie lange ist das her?«
»Zwei Monate. Eine Schlacht im Akiba System.«
Ihre Blicke trafen sich, der seine wachsam und verletzlich, ihrer hingegen plötzlich aller Härte beraubt. Sie schaute zu Sybil hinüber und dann, eher unbewußt, zum knisternden Feuer. Nach einem Moment der Unentschlossenheit ging sie auf ihn zu, während ihr Schatten sich riesig auf der vom Feuer beschienenen Wand abzeichnete.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Sie kamen mir so… vollständig … vor. Ich hätte das nie gedacht.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Fühlen Sie sich nicht so?«
»Nein«, erwiderte er ehrlich und überlegte gleichzeitig, warum er das zugegeben hatte. Doch als ihr Blick sanfter wurde, begriff er. Geteilte Verluste schufen ein zerbrechliches Band zwischen ihnen, eine Art Weg, den sie, wenn auch vorsichtig, beschreiten konnten.
»Haben Sie Angst? Ich meine, vor dem Mashiah?« Sie bohrte sich die Fingernägel in die Arme und blickte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit an. »Soweit ich weiß, kennen Sie weder ihn noch die furchtbaren Dinge, zu denen er fähig ist.«
»Jeder Kampf erschreckt mich zu Tode.«
»Ich hatte gedacht, ein Mann mit Ihrer Erfahrung hätte die Furcht überwunden.«
»Das kann man nie.« Er spreizte die Beine ein wenig und betrachtete sie aus den Augenwinkeln heraus. Sie besaß einen wundervoll weiblichen Körper, doch er schien ihm zu schlank, zu zart zu sein, um die Strapazen der Wüsten Horebs zu überstehen … oder die einer Revolution. Obwohl er natürlich wußte, daß sie zu den Führern der Widerstandsbewegung dieses Planeten gehört hatte. Rathanial hatte einen dicken Ordner aus der Schublade gezogen, die Akten auf seinem mächtigen Schreibtisch ausgebreitet und ihn über alles in Kenntnis gesetzt. Dadurch war es in seinem Innern zu einem sonderbaren Zwiespalt gekommen.
Auf der einen Seite spürte er das Bedürfnis, sie vor den Schrecknissen des Lebens zu beschützen, auf der anderen war ihm klar, daß sie seines Schutzes vermutlich nicht bedurfte – ebensowenig wie dessen anderer Menschen.
»Ich hatte nicht gedacht, daß Ihnen irgend etwas Angst machen könnte«, erklärte sie. »Insbesondere nicht nach dieser heimlichen Attacke im gesicherten System. Wie ich hörte, haben sich die Magistraten noch immer nicht davon erholt. Es hieß, sie hatten fast dreitausend Mann Verluste, Sie hingegen nur einhundertfünfzig.«
Jeremiel war überrascht angesichts ihrer Kenntnisse, empfand zugleich aber auch einen gewissen Stolz. »Und ich hatte immer gedacht, ich würde anonym operieren.«
»Oh, hier draußen am Rand der Galaxis erfahren wir nur sehr wenig. Gerade mal die größten Triumphe.« Sie wirkte plötzlich sehr ungeduldig und wrang nervös die Hände. »Nun… war das genug ›small talk‹? Ich möchte nicht unhöflich sein, aber…«
»Aber Sie möchten wissen, was Rathanial plant, um den Mann zu töten, den Sie hassen. Ja, das kann ich gut verstehen.« Er deutete mit einer ausholenden Armbewegung zum Eingang und meinte: »Nach Ihnen, meine Dame.«
Sie ging an ihm vorbei und hielt dann inne. »Oh, noch einen Moment. Ich muß Sybil eine Nachricht hinterlassen für den Fall, daß sie aufwacht, während wir noch fort sind.« Sie ging zu ihrem Gepäck hinüber, zog ein Blatt Papier hervor, kritzelte eine kurze Notiz darauf und legte den Zettel auf den Boden neben ihre Tochter.
»Sie kann lesen?«
»Natürlich«, flüsterte Rachel, als sie zu ihm zurückhuschte. »Wir haben hier auf Horeb sehr gute Schulen.«
»Der Mashiah gestattet, daß die Schulen weiterhin unterrichten? Ich bin überrascht. Normalerweise werden die Schulen von einem Tyrannen zuerst ausgeschaltet.«
»Er ist … anders.«
Jeremiel warf ihr einen raschen, fragenden Blick zu. Ihre Stimme klang jetzt verändert, leise und zitternd. »Das habe ich jedenfalls erfahren müssen.«
Sie verließen die Höhle und schritten langsam den Flur entlang. »Schreibt er einen bestimmten Lehrstoff vor? Oder können die Lehrer frei unterrichten?«
»Die einzigen Fächer, die zu lehren er vorschreibt, sind menschliche Geschichte, die intergalaktische Sprache, gamantische Religion … und die Religion Milcoms.«
Jeremiel nickte in zögernder Anerkennung. »Großzügig von ihm, daß er die alten Denksysteme weiterhin zuläßt.«
»Er benutzt die ›Irrtümer‹ des traditionellen Systems als Werkzeug, um die ›vernünftigere‹ Religion Milcoms zu etablieren.«
»Tatsächlich? Sie müssen mir mehr über seine Theologie erzählen.«
Sie blieben für einen Moment stehen, als sich der Korridor vor ihnen dreifach verzweigte. Nachdem sie seine Karte zu Rate gezogen hatten, wandten sie sich nach links und gingen eine Weile schweigend weiter, während ihre Schritte dumpf von den roten Wänden widerhallten. Schließlich erreichten sie die Tür mit dem gelben Vorhang, der auf der Karte vermerkt war. »Ich glaube, wir sind da«, erklärte Jeremiel unsicher und rief dann: »Rathanial?«
Eine Stimme antwortete aus dem Innern: »Komm herein, Jeremiel.«
Jeremiel hielt den Vorhang für Rachel beiseite und folgte ihr dann, wobei er tief Luft holte. Es roch süß, wie nach frisch gepflückten Gewürzen. Der runde Raum mußte einen Durchmesser von mindestens hundert Fuß haben, und der rote Steinboden war von vielfarbigen Läufern bedeckt. Stühle waren entlang der Wände aufgestellt und umgaben den großen Tisch in der Mitte des Raums, auf dem kristallene Becher und Karaffen im sanften Kerzenschein schimmerten.
Rathanial stand vor einem lodernden Feuer und strich sich den weißen Bart. In seiner dunklen, pflaumenfarbigen Samtrobe sah er majestätisch aus. Neben ihm stand ein großer dunkelhäutiger Mann, der in das für Novizen übliche Braun gekleidet war. Jeremiel betrachtete den Mönch forschend. Er besaß ein rundes, mahagonifarbenes Gesicht mit einer flachen Nase und scharfen schwarzen Augen. Sein dichtgelocktes Haar bildete einen fünfzehn Zentimeter dicken Halo um seinen Kopf.
»Danke, daß ihr beide gekommen seid«, sagte Rathanial und ging auf sie zu. Seine Augen blickten müde und ein wenig abwesend. Er verneigte sich leicht und bildete mit den Fingern das heilige Dreieck. »Bitte nehmt Platz und bedient euch selbst mit dem Wein.«
Jeremiel legte seine Hand leicht auf Rachels Rücken und führte sie zu dem langen, rechteckigen Tisch, der genug Platz für zwanzig Menschen bot. Das eine Ende war mit kleinen Tellern und Bechern gedeckt. Zwei Flaschen sebanischen Rotweins standen schräg in eisgefüllten Behältern, und eine mit Dessertäpfeln überladene Schale schmückte den Tisch.
Als Jeremiel den hochlehnigen Stuhl für Rachel zurechtrückte, flüsterte sie: »Wer ist der Novize?«
»Ich weiß nicht. Aber ich nehme an, das werden wir noch herausfinden.«
Rathanial und der Mönch gingen zur anderen Seite des Tisches und ließen sich dort nieder. Jeremiel zog eine der tropfenden Flaschen heraus, wickelte geschickt das am Eiskübel hängende Tuch darum und füllte die Gläser, wobei er dem Mönch argwöhnische Blicke zuwarf. Weshalb war der Neophyt hier? Er hätte es verstanden, wenn Rathanial einen seiner hochrangigen Kollegen zu den strategischen Gesprächen herangezogen hätte – doch ein Novize im Kommandostab? Das schien ein gefährlicher und unprofessioneller Schachzug zu sein.
»Lassen Sie mich zunächst Vater Avel Harper vorstellen«, begann der Höchst Ehrenwerte Vater. »Er ist…«
»Ein Novize«, ergänzte Rachel unverblümt.
Rathanial runzelte die Stirn. »Stört Sie das, meine Liebe? Mir war nicht bewußt, daß Sie Expertin in solchen Fragen sind.«
Sie wurde rot und betrachtete angelegentlich ihr Weinglas. »Das bin ich nicht, aber…«
»Ich habe Vater Harper aus einem besonderen Grund eingeladen. Möchten Sie diesen Grund lieber erraten, oder wollen Sie abwarten, bis ich es für richtig halte, seine Anwesenheit zu erklären?«
Rachel versteifte sich, als wappne sie sich für ein Gefecht. Als sie den Mund öffnete, um zu sprechen, packte Jeremiel ihren Arm mit festem Griff und fragte: »Worum geht es hier eigentlich, Rathanial?«
Der Wüstenvater antwortete mit einem finsteren Seitenblick auf Rachel: »Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen und wenig beneidenswerten Situation. Ohne das Mea können wir den Schleier nicht mehr erreichen. Ohne die Anleitung durch Gott werden wir nie wieder in der Lage sein, die Bösen eindeutig von den Guten zu trennen. Infolgedessen müssen wir über Alternativen sprechen.«
»Was ist das Mea?« erkundigte sich Rachel und schaute Jeremiel an.
»Ein Hilfsmittel. Ein Tor zu den sieben Himmeln, wo sich der Schleier befindet.«
»Das Shekinah? Der kosmische Vorhang, der den Thron Gottes abschirmt?«
Er nickte. »Wie Sie wissen, sind auf dem Schleier alle wichtigen Ereignisse der Schöpfung niedergeschrieben, darunter auch die Identität des Wahren Mashiah.« Er tauschte einen Blick mit Rathanial. »Unglücklicherweise haben wir das Mea auf Kayan verloren.«
»Aberglaube«, murmelte sie herablassend.
»Mag sein. Spielt jetzt aber auch keine Rolle mehr.«
Rathanial saß steif wie eine verhutzelte, zerknitterte Schneiderpuppe da und betrachtete Rachel. Schließlich beugte er sich vor und lächelte flüchtig. »Miss Eloel, meine Informationen ließen darauf schließen, daß Sie zu den Alten Gläubigen gehören?«
»Ihre Informationen sind falsch.«
»Tatsächlich? Hatten nicht Sie und Ihr Mann eine geheime Gemeinde gegründet, um die alten Riten zu erhalten? Und hatten Sie nicht eine religiöse Schule eingerichtet, um ein Gegengewicht zu den Lehren zu schaffen, die in den Schulen des Mashiah verbreitet werden?«
»Ich gehöre nicht mehr zu den Gläubigen.«
»Darf ich fragen, weshalb nicht?«
Ein Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit huschte über ihr schönes Gesicht. Sie griff ungeschickt nach ihrem Weinglas und zitterte dabei so, daß die Flüssigkeit auf den Tisch tropfte. »Weil nur ein verderbter Gott uns solche Leiden aufzwingen würde. Und einer bösartigen Gottheit kann ich nicht dienen.«
Rathanial verzog das Gesicht. Er lehnte sich langsam in seinem Sitz zurück. »Gottes Tun ist oftmals undurchschaubar. Das bedeutet nicht …«
»An Gottes Tun ist nichts undurchschaubar«, zischte sie. Ihre Haltung glich der einer Tigerin, die bereit ist, zuzuschlagen. »Wenn ich sehe, wie Tausende aus einer Laune Gottes heraus hingeschlachtet werden, halte ich das nicht für undurchschaubar. Ich glaube, die Haltung Gottes ist ganz einsichtig. Er haßt uns und versucht, uns zu vernichten. Gott sät Zwietracht!«
»Natürlich sät er Zwietracht. Wie sonst kann er prüfen, ob wir ihm treu sind?«
»Ich brauche keinen Gott, der so blind ist, daß er meine Familie töten muß, um meinen Glauben zu prüfen.« Tränen verschleierten ihre dunklen Augen, doch Jeremiel war nicht sicher, ob es Tränen des Schmerzes oder des Zorns waren. Der harte Ausdruck auf ihrem Gesicht sprach für letzteres.
»Meine liebe Rachel. Offensichtlich versucht Epagael Sie zu öffnen für …«
»Für was? Haß? Den bekommt er bereits von mir.«
»Nein. Sie haben sich so in Ihr eigenes Ich verschlossen, daß Sie den Weg nicht sehen können, den Gott für Sie bereit hält. Wenn Gott Sie für einen neuen Weg öffnen will, erscheint er oftmals grausam. Doch wenn Sie sich Ihm öffnen, werden Sie die Ultima Ratio, Gott, als das wohltätige Wesen erkennen, das er ist.«
»Ich erkenne nur, daß das Leben ein Alptraum aus Qual und Pein ist. Wenn Gott existiert, dann ist er nichts als Verzweiflung.«
Unbehagliche Stille senkte sich über den Raum. Nur das Prasseln des Feuerholzes und das leise Knistern der Kerzen waren zu vernehmen. Jeremiel beobachtete Rachel. Ihre glühenden Augen wichen nicht von Rathanial, als trügen die beiden ein geheimes Tauziehen aus. Verdammt unangenehme Situation. Aber ich bin viel zu neugierig auf den Ausgang, um mich da einzumischen.
»Sie sind sehr verwirrt«, erklärte Rathanial.
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Rachel selbstsicher, »mein Geist ist völlig klar. Wenn Gott existiert, ist er ein Monster.«
Rathanial holte tief Luft und atmete durch die Nase wieder aus. »Dann weigern Sie sich, sich. Gottes Weg zu öffnen?«
»Ich weigere mich, das Werkzeug eines Dämons zu sein.«
»Nun, das beantwortet meine Frage. Was ist mit Ihnen, Avel?«
Der schwarze Mönch, der sich während des Wortwechsels still verhalten hatte, warf Rachel einen freundlichen Blick zu. »Ich glaube, Sie bedürfen meiner Dienste nicht, Ehrwürdiger Vater.«
»Einen Moment bitte«, schaltete Jeremiel sich ein und ließ den Blick über die Gesichter der am Tisch Versammelten schweifen. Rachel sah schmerzerfüllt und trotzig aus, während Rathanial und Harper eher enttäuscht schienen. »Ich fürchte, irgend etwas ist mir entgangen. Würden Sie mir bitte auf die Sprünge helfen?«
Rathanial erhob sich und ging zum Kopfende des Tisches. Seine pflaumenfarbene Robe strich leicht über den Teppich. »Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hatte euch beide herbestellt, um einen Plan zu besprechen, der Rachels aktive Teilnahme vorsah.«
»Ohne das vorher mit mir abzusprechen«, flüsterte Jeremiel heiser und warf Rachel einen vorsichtigen Blick zu. »Ich dachte, wir wären übereingekommen…«
»Ja… ja, das waren wir auch. Doch nachdem ich alle Möglichkeiten abgewogen hatte, schien es mir am klügsten, ihre Fähigkeiten und ihre Kenntnis des Palasts zu nutzen. Ich entschuldige mich dafür, daß ich die Situation falsch eingeschätzt habe.«
Die Spannung im Raum schien geradezu greifbar zu sein. Jeremiels Herz klopfte heftig. Zum Teufel mit dir, Rathanial! Ich habe dir gesagt, daß Rachel emotional zu schwach für einen Einsatz im Feld ist. Oh, natürlich kann sie aus der Sicherheit der Höhlen heraus hervorragend strategische und taktische Maßnahmen ergreifen, doch ich bezweifle, daß sie dem furchtbaren Streß gewachsen ist, sich in der Nähe des Mashiah aufzuhalten. Und jede schmerzerfüllte Linie in ihrem Gesicht bestätigt, daß ich recht habe. Kannst du das nicht erkennen?
»Was hatten Sie geplant?« erkundigte sich Rachel.
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Sagen Sie es mir.«
»Wenn Sie nicht an unsere Sache glauben, gibt es keinen Grund, darüber zu diskutieren.«
»Wenn ich nicht…?« Sie setzte sich aufrecht hin, stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte und schüttelte den Kopf. Das lange Haar floß über ihre Schultern herab und bildete einen Mantel über dem elfenbeinfarbenen Kleid. »Ich glaube daran, unser gamantisches Volk zu retten, falls Sie das als ›unsere Sache‹ bezeichnen. Ich bin bereit, für meine Familie und meine Freunde bis zum Tod zu kämpfen. Doch für Gott würde ich keinen Finger rühren.«
»Sie wollen kämpfen? Selbst wenn das bedeutet …«
»Moment!« befahl Jeremiel und senkte dann die Stimme. »Rathanial, wir haben das bereits durchgesprochen. Rachel ist draußen!« Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Wir brauchen jemand im Innern, der zuverlässig ist. Und das ist Rachel nicht. So einfach liegen die Dinge. Sie hat in den letzten Wochen zu viel durchgemacht, um unter Druck stabil zu bleiben.«
Neben ihm ballte Rachel die Fäuste, als könnte sie dadurch die schrecklichen Erinnerungen an die letzten vierzehn Tage vertreiben.
»Sie wird bestens zurecht kommen«, fuhr er leise fort, »wenn wir ihre Kenntnisse über die Stadt und den Palast nutzen und sie ansonsten hier lassen, wo sie in Sicherheit ist.«
»Nein«, erklärte Rathanial.
Jeremiel blinzelte überrascht. »Was meinst du mit ›Nein‹?«
»Ich meine, entweder gehört sie ganz dazu oder gar nicht. Wir können es nicht riskieren, jemanden in die Einzelheiten unserer Planung einzuweihen, der vielleicht im letzten Moment zusammenbricht und davonläuft. Wenn sie für einen Einsatz an der Front nicht hart genug ist, dann ist sie auch für irgendeine andere Verwendung nicht hart genug. Wir sollten sie nach Seir zurückschicken oder …«
»Hast du den Verstand verloren? Der Mashiah würde sie töten!«
»Das glaube ich nicht.«
»Um Himmels willen, wieso nicht? Sie hat seinen Tempel in die Luft gejagt. Sie …«
»Ja, aber er hatte immer eine gewisse Schwäche für sie.«
Jeremiel schüttelte den Kopf, als hätte er nicht richtig verstanden. Als er zu Rachel hinüberschaute, sah er, daß sie müde die Tischplatte betrachtete. »Wovon redest du eigentlich?«
»Oh, Rachel weiß, was ich meine. Nicht wahr, meine Liebe?«
Jeremiel wandte sich Rachel zu und sah den angewiderten Zug um ihre Lippen und den harten Glanz in ihren Augen. »Was wissen Sie, Rachel?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte immer den Eindruck, daß eine gewisse Wärme von ihm ausging, aber ich dachte, jeder würde das empfinden. Er ist sehr charismatisch. Doch es stimmt, daß er… mir nie direkt etwas angetan hat«, sagte sie mit einem sonderbaren Unterton in der Stimme. »Er hat meine Kameraden getötet, doch mich selbst hat er immer sehr freundlich behandelt. Beinahe …«
»Zärtlich«, ergänzte Rathanial mit heftigem Nicken.
Aller Augen richteten sich auf Rachel. Das Feuer überzog ihre Olivenhaut mit rosa- und bernsteinfarbenen Reflexen und erhellte die schmalen Linien um ihren zusammengepreßten Mund.
»Erzählen Sie mir mehr davon?« fragte Jeremiel neugierig. »Der Mashiah hegt ›zärtliche‹ Gefühle für Sie?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nicht, was er für mich empfindet.«
»Wirkte er bei seinen Audienzen mitfühlender und sanfter als anderen gegenüber?«
»Ja.«
Er setzte sich wieder hin und dachte einen Moment darüber nach, während er sie weiterhin betrachtete. Der Schweiß auf ihren nackten Unterarmen glitzerte im schwachen Licht wie ein dünner Film, während sie nervös die Finger ineinander verhakte. Sie wußte, daß Rathanial recht gehabt hatte. Das konnte er daran erkennen, wie ihr Blick suchend durch den Raum irrte, als wolle sie etwas bestreiten, das sie doch nicht leugnen konnte.
»Rachel, glauben Sie, daß er in Sie vernarrt ist? Aus Liebe? Aus Lust? Oder gibt es noch eine andere Möglichkeit?«
»Ich kann seine Gefühle schlecht beurteilen.«
Er blickte zu Rathanial hinüber, der sich über den weißen Bart strich. »Höchst Ehrenwerter Vater?«
»Schwer zu sagen. Wenn man allerdings Adoms Naivität berücksichtigt, würde ich eine gewisse Verliebtheit vermuten.« Er machte eine Pause. »Das könnte sehr nützlich sein.«
»In der Tat.« In der Tat! Doch würde der Mashiah Rachel all die Sünden vergeben, die sie begangen hatte? Daß sie die Rebellion angeführt und den Tempel gesprengt hatte? Wenn seine Gefühle für Rachel stark genug waren – vielleicht. Und die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, waren atemberaubend. Ein Spion, den der Mashiah mit offenen Armen empfangen würde? Eine potentielle Geliebte, deren Worten er ohne große Prüfung Glauben schenken würde? Das wäre ein wahres Gottesgeschenk. Er stemmte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Doch das konnte sie nicht tun. Jetzt verstand er Rathanials und Harpers Enttäuschung, die aus Verzweiflung geboren war.
»Ich möchte wissen«, sagte Rachel leise, »wie der Plan aussah.«
Rathanial machte eine Handbewegung. »Oh, ich wollte Sie in den Palast zurückschicken, damit Sie sein Vertrauen gewinnen und ihn ablenken, während wir unsere Truppen auf den Kampf mit seinen Streitkräften vorbereiten. Und dann, in der letzten Minute, nachdem Sie Ihre Aufgabe erledigt haben, könnten Sie ihn töten, und wir hätten nur sehr geringe Verluste. Der Krieg wäre kurz und…«
»Natürlich, sofern der Anführer zuerst stirbt.« Jeremiel rieb sich heftig die Stirn. »Sobald seine Soldaten wissen, daß er tot ist, verlieren sie den Mut und flüchten wie Käfer vor einer Flamme. Wir könnten die Stadt mit einem Minimum an Blutvergießen einnehmen.«
»Ja, wenn das Zentrum des Glaubens verschwindet, stirbt die Religion.«
»Ein toter Mashiah ist ein falscher Mashiah.«
»Genau.«
»Soll das heißen«, fragte Rachel mit einem Zittern in der Stimme, »wenn ich zurückgehe…« Sie schluckte schwer, und ihre weiteren Worte kamen nur noch als Flüstern heraus. »Wenn ich zurückgehe und sein Vertrauen gewinne, was immer … was immer das bedeuten mag, sterben weniger von unseren Leuten im Kampf um die Stadt?«
»Das ist es, was ihm vorschwebt«, erwiderte Jeremiel, »aber vergessen Sie es. Ich will nicht, daß Sie das tun. Wir werden jemand anderen finden.«
»Es gibt niemand anderen.« Ihr Blick suchte den seinen. Der Kummer in ihren Augen traf ihn mitten ins Herz. Sie sah aus wie ein Opferlamm an einem hohen Feiertag.
»Rachel, das können wir nicht wagen.«
Mit der Stimme einer Mutter, die von ihrem Kind Abschied nimmt, murmelte sie: »Lassen Sie mich zurückgehen.«
»Nein! Sie sind nicht dazu in der Lage!«
»Ich kann es schaffen.«
Er schüttelte heftig den Kopf und richtete den Blick auf die flackernde Kerze, die vor ihm auf dem Tisch stand. Sie warf einen schwachen Schimmer über die rötlichen Dessertäpfel, die sich in den Facetten der Kristallgläser spiegelten.
»Es ist unsere beste Chance«, dränge Rathanial. »Doch zuerst müssen wir Sie vorbereiten.«
»Vorbereiten?« fragte Rachel.
»Ja, wir müssen Sie passend kleiden. Weiß der Himmel, wie wir hier die entsprechenden weiblichen Kleidungsstücke auftreiben sollen, aber wir werden das schon irgendwie schaffen. Und mit Ihrer Erlaubnis, meine Liebe, sollten wir… äh … die Buchstaben AKT in Ihre Stirn einprägen.«
»Seine Initialen?« fragte sie ungehalten. »Wozu? Als Zeichen seines Besitzanspruchs?«
»Nein, nein, nichts dergleichen. Wissen Sie, diese Buchstaben finden sich auch auf seiner eigenen Stirn, doch er glaubt nicht, daß sie etwas mit seinem Namen zu tun haben. Er betrachtet sie eher als Zeichen für Gottes Wertschätzung. Offenbar hat Milcom ihm das gesagt.« Rathanials Gesicht verdüsterte sich. »Und wenn wir diesen Plan tatsächlich verwirklichen, sollten Sie sich daran erinnern, daß Adom behauptet – und auch Zeugen dafür hat –, ein flammender Mann hätte sie ihm am Tag seiner Geburt in die Stirn gebrannt. Sie sind ein Symbol seiner Salbung.«
»Ich verstehe. Na schön, wenn es nötig ist.«
»Es ist nicht nötig«, erklärte Jeremiel ernst.
»Lassen Sie mich gehen, Jeremiel.« Sie berührte seinen Arm mit kühlen, zarten Fingern.
Er warf ihr einen vorsichtigen Blick zu und bemerkte die Veränderung. In ihre mitternachtsdunklen Augen war ein abwesender Ausdruck getreten, als würden die Schatten der Vergangenheit an ihr vorbeiziehen, und auf ihren Zügen zeichnete sich neugewonnener Mut ab.
»Rachel, das können Sie nicht.«
»Ich gehe«, sagte sie entschieden.
»Nein, das werden Sie nicht«, meinte er und hätte angesichts ihrer plötzlichen Entschlossenheit beinahe gelacht. »Ich arbeite nämlich nicht mit jemandem, dem ich nicht vertrauen kann.«
Sie stand auf und biß die Zähne zusammen, als sie Rathanial herausfordernd anschaute. »Sie brauchen Jeremiel nicht. Ich gehe zurück in den Palast, wenn Sie jemand anderen finden, der diese Mission leiten kann.«
Rathanials Augen weiteten sich, und er runzelte nachdenklich die Stirn. »Meine Liebe, er ist das Gehirn des Ganzen. Ich glaube kaum …«
»Verdammt, Rachel. Sie können das nicht allein schaffen. Sie brauchen Unterstützung innerhalb des Palasts, um die Berichte nach draußen zu leiten. Darüber hinaus ist hier ein ganzes Netz von Mitarbeitern erforderlich, die Ihre Nachrichten in Empfang nehmen, auswerten und entsprechend in der Planung umsetzen. Ohne mich könne Sie gar nicht auskommen, Süße!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Und?« fragte Rachel. »Kommen Sie mit?«
Gereizt warf er die Hände hoch und fragte sich, wie sie es so schnell geschafft hatte, die ganze Situation auf den Kopf zu stellen. »Rathanial, das ist dein Spiel. Du hast mich hergebeten, um meinen Rat zu hören.«
»Und wie lautet dieser Rat?«
»Nehmt nicht Rachel. Die Sache ist es wert, soviel Zeit wie nötig darauf zu verwenden, jemanden zu finden, auf den wir uns verlassen können. Den Mashiah umzubringen ist keine Aufgabe für jemanden, der zu empfindlich ist, um …«
»Zu empfindlich für was?« Sie stützte sich mit einer Hand auf die Rückenlehne seines Stuhls und blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Zorn auf ihn herab. Zudem sah er in ihren Augen den Hauch einer Bitte, als würde sie ihn insgeheim anflehen, eine Chance zu nutzen, von der er wußte, daß er es nicht durfte.
Er knirschte mit den Zähnen. »Tun Sie mir das nicht an, Rachel. Mein Leben hängt von meiner Fähigkeit ab, Menschen und deren Fähigkeiten einzuschätzen. Ich kenne die Menschen. Und wir alle werden es bereuen, wenn Sie der Angelpunkt dieses Unternehmens sind.«
Sie versteifte sich und blickte ihm weiterhin in die Augen, obwohl sie zu Rathanial sprach. »Ehrenwerter Vater, wer wird sich um meine Tochter kümmern?«
»Das, meine Liebe, ist der Grund, weshalb ich Vater Harper zu dieser Versammlung hinzugezogen habe. Er hat standhaft alle meine Angebote ausgeschlagen, um sich weiterhin der Erforschung der kindlichen Psyche widmen zu können. Zudem kann er beachtliche Erfolge als Lehrer vorweisen. Wenn Sie ihn also für akzeptabel halten …«
»Das tue ich.«
Rathanial stieß ein erleichtertes Seufzen aus und nickte. »Ausgezeichnet. Ich schicke ihn morgen vorbei, damit er sich mit Sybil anfreunden kann.«
»Wir werden ihn erwarten.« Als wäre die Diskussion vorüber, drehte Rachel sich auf dem Absatz um und ging zur Tür.
Jeremiel sprang von seinem Platz auf, packte ihren Arm und zog sie zu sich herum. »Sie werden jeden einzelnen Befehl befolgen, den ich Ihnen gebe, ist das klar? Keine heroischen Taten, keine Verbesserungen an meinen Plänen, kein…«
»Jeden Befehl – buchstabengetreu.«
Trotz seines Zorns und seiner Sorgen bemerkte Jeremiel, daß ihr Arm unter seinem festen Griff zitterte. Er blinzelte, als er sich der Schrecken bewußt wurde, die ihre Seele quälen mußten. Sie hatte sich soeben selbst dem Dämon ausgeliefert, der ihren Ehemann und hunderte ihrer Freunde getötet hatte. Langsam lockerte er seinen Griff, ließ sie schließlich los und schob die Hände tief in die Taschen.
Mit einer Stimme, die kaum hörbar schwankte, murmelte Rachel: »Was haben Sie vorhin gesagt? Sie würden derjenige sein, der mit mir in den Palast geht?«
Er nickte. »Mitten hinein in die Drachenhöhle. Sie und ich.«
»Ich bin schon dort gewesen, Jeremiel. Es ist da eher wie in den Gruben der Finsternis. Dort wird man uns beiden die Seele rauben.«
»Kurz vor dem Morgengrauen sehen die Dinge immer so aus.« Er nickte ihr aufmunternd zu und zwang sich zu einem Lächeln, das aber nicht von Herzen kam. »Doch es gibt immer einen Morgen.«
Hinter ihnen schnappte jemand scharf nach Luft, ein Stuhl rutschte kreischend über den Boden und kippte dann um. Die beiden wirbelten mit klopfendem Herzen herum. Jeremiel ging in die Hocke und zog instinktiv die Pistole, während seine Augen den Raum absuchten.
»Lieber Gott«, krächzte Rathanial und deutete mit zitternden Fingern auf das dunkle Ende der Höhle. »Wie lange ist das schon dort?«
Der große Schatten bewegte sich über Decke und Wände, wallte über den unregelmäßig behauenen Stein und verschwand ohne einen Laut in der ebenholzfarbenen Schwärze der entferntesten Ecke des Zimmers.
Jeremiel richtete sich mit immer noch heftig pochendem Herzen auf. Er wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und meinte: »Wahrscheinlich lange genug.«