KAPITEL
24
Ein Traum. Nichts als ein Traum. Doch noch immer begleitete ihn die blinde Panik, als er durch die sturmgepeitschten Straßen von Silmar lief. Die fremdartige Architektur und die merkwürdig verdrehten Bäume kamen ihm wie Splitter aus seinem Alptraum vor. Die akibanischen Eichen füllten die leeren Stellen zwischen den Kuppeln der Wohneinheiten und den Gewächshäusern, die schwer an ihrer Schneelast trugen. Jeder der eisigen Windstöße wirbelte Teile der weißen Masse auf die Straße hinunter. Vor ihm reckte sich das Apartmenthaus, in dem sich Syene zehn Stunden lang befunden hatte, wie ein Speer empor, der bereit war, seine Brust zu durchbohren. Er bewegte sich darauf zu.
»Jeremiel! Wir müssen hier verschwinden!« schrie Rudy Kopal und feuerte blindlings auf die heranstürmenden Soldaten, die plötzlich die Straßen zu verstopfen schienen. Sie kamen aus dunklen Hauseingängen, umklammerten im Lauf ihre Gewehre und vermischten sich mit den Zivilisten, die in Panik aus dem verwüsteten Teil der Stadt flüchteten.
»Verschwinde von hier, Rudy!« befahl er, warf sich zu Boden und rutschte auf Händen und Knien über den nächsten Hügel. Aus der Deckung einer ausladenden Eiche heraus überprüfte er das Gebäude mit seinem Zielfernrohr.
Eine Mutter mit fünf Kindern kletterte den Hügel vor ihm hinauf und zog dabei einen mit ihren Habseligkeiten beladenen Schlitten hinter sich her. Ein kleines Mädchen klammerte sich schluchzend an den abgetragenen grauen Rock der Mutter. Jeremiel konnte das Blut erkennen, das ihre Bluse durchtränkte und über ihre Hose herabströmte. Verwundet. Der Gedanke machte ihn krank. Wann waren die Dinge so aus dem Ruder gelaufen? Was hatte er versäumt? Irgend etwas, irgend etwas Wichtiges. Wenn Syene es geschafft hätte, den Major auch nur eine Stunde länger hinzuhalten, wäre dies alles nicht geschehen. Aber ganz offensichtlich hatte sie es nicht geschafft.
Kopal landete neben ihm auf dem Boden und richtete sein Gewehr auf das Gebäude. »Jeremiel, um Gottes willen, sie wußte, was sie tat! Sie hat uns Zeit erkauft. Wir können es alle lebend hier herausschaffen, wenn wir jetzt aufbrechen! Aber es muß jetzt sein. Hörst du mir überhaupt zu?«
Er drehte sich zur Seite und blickte in die vertrauten grauen Augen, die jetzt von Furcht erfüllt waren. Blut lief über Rudys olivfarbene Haut, klebte sein dunkles Haar an die Schläfen und befleckte den hellbraunen Kampfanzug.
»Ich habe Ihnen einen direkten Befehl erteilt, Kopal!« rief Jeremiel rauh. »Verschwinde von hier!« Er sprang auf, lief den Hügel hinab, flankte über den Zaun, der das Apartmenthaus umgab, und drängte sich zwischen den verängstigten Menschen hindurch, die aus dem Eingang strömten.
Hinter ihm brach plötzlich heftiges Feuer los, und er wirbelte herum. Rudy hechtete durch den Eingang und landete zwischen den Füßen der hektisch durcheinanderlaufenden Zivilisten. Er winkte drängend mit seinem Gewehr. »Geh schon, ich decke den Eingang. Aber sie kommen rasch näher, Jeremiel. Beeil dich!«
Er stürmte die Treppen zum dritten Stock empor und nahm immer drei Stufen auf einmal, während ihm das Herz heftig gegen die Rippen klopfte. Als er den obersten Absatz erreichte, trat er die Tür auf und rollte sich hindurch. Er fand sich in einem leeren Flur wieder. Wenn die Regierung ihre Leute bereits evakuiert hatte und alle anderen flüchteten … Ein eisernes Band schien sich um seine Brust zu legen.
Er kam auf die Füße, lief auf die letzte Tür rechts zu und rief: »Syene?«
Er trat die Tür auf und wich in Erwartung des Hinterhalts zurück. Doch niemand schoß, kein Geräusch war zu hören. Nur die Schreckensschreie der Menge, die durch die Straßen flüchtete, drang von draußen in die Stille des Raums.
Er stürmte mit schußbereitem Gewehr hinein und ließ den Blick rasch über umgekippte Möbel, zerbrochenes Glas und den blutbespritzten Teppich wandern. Ein erbitterter Kampf hatte hier stattgefunden. War sie … war sie entkommen? Wartete sie jetzt irgendwo außerhalb der Stadt auf ihn? Plötzliche Hoffnung erfüllte ihn, und er holte tief Luft, bevor er durch die Küche und dann einen langen Flur entlang stürmte.
Im letzten Zimmer … fand er sie.
Sie lag nackt und mit gespreizten Beinen auf dem Bett. Ihre Hände hatte sie zum geöffneten Fenster ausgestreckt. War sie so verzweifelt gewesen, daß sie aus dem dritten Stock springen wollte? An der hellen Flüssigkeit, die über die Innenseiten ihrer Schenkel herabgelaufen war, konnte er erkennen, was man mit ihr gemacht hatte.
Seine Beine gaben nach, als er entdeckte, welche Blutmenge das Bett getränkt hatte, und er mußte seine Füße zwingen, sich vorwärts zu bewegen. Er streckte die Hände aus, drehte sie sanft um und sah, daß sich ihr aufgerissener Brustkorb sanft hob und senkte. Sie lebte!
»Syene«, murmelte er leise. »Halte durch. Ich schaffe dich hier heraus.«
Als er die Arme unter sie schob, um sie hochzuheben, stöhnte sie. Ihre dunklen Augen öffneten sich flatternd, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie ihn erkannte. »Liebe dich«, flüsterte sie kaum hörbar. »Wußte … wußte, du würdest kommen.«
»Spar deine Kräfte, wir …«
»Nein«, sagte sie und schüttelte schwach den Kopf. Blutverklebte Locken ihres langen braunen Haars fielen über seinen Arm. »Hat keinen Sinn. Hör zu …« Sie zog mit kraftlosen Fingern an seinem schwarzen Ärmel. »Dannon …«
In dem Bewußtsein, daß draußen magistratische Soldaten lauerten, ignorierte er ihre Worte, hob sie wie ein Kind hoch und trug sie durch den Raum und in den langen Flur, der zur Tür führte.
»Jere … Jeremiel. Dannon … Tahn. Hat uns … betrogen. Er war … war hier. Vor einer halben Stunde.«
»Ich werde ihn töten, Syene. Das schwöre ich.«
Sie versteifte sich plötzlich; dann wurde ihr Körper von Krämpfen geschüttelt. Jeremiel war gezwungen, in die Knie zu gehen und sie auf den Boden zu legen.
Schmerz brannte in seinem Herzen und seine Augen füllten sich mit Tränen. Ein Traum. Es ist nur ein Traum. Sie ist schon seit Monaten tot.
»Jeremiel?« hörte er Rudys Stimme, und er bemerkte die aufkeimende Furcht darin. »Jeremiel, mach schon!« Schwere Schritte hallten durch den Flur; dann blieb sein Freund abrupt stehen, als er Syene mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen sah.
Jeremiel nahm sie in die Arme und zog sie fest an seine Brust. Er murmelte in ihr blutiges Haar: »Ich brauche dich, Syene. Verlaß mich nicht.« Doch sie war schon fort. Er spürte, wie ihr totes Gewicht auf seinen zitternden Armen lastete.
Rudy gewährte ihm zehn Sekunden, um zu klagen, dann packte er seinen Arm und zog …
»Mister Baruch?« drang eine schluchzende Mädchenstimme aus weiter Ferne in das schreckliche Geschehen.
… ihn auf die Füße. »Du wirst das tagelang nicht begreifen, mein Freund, aber ich rette dir das Leben.«
Zusammen liefen sie nach unten und in den Sturm hinaus. Hinter einem Baum tauchten magistratische Soldaten auf. Er hörte Rudys Gewehr aufheulen und sah eine ganze Gruppe in einem roten Aufspritzen vergehen. Der erste Soldat sprang Jeremiel von hinten an und rammte ihm den Kolben seiner Pistole gegen die Schläfe. Halb betäubt wirbelte er herum und trat dem Mann kräftig in den Bauch. Er stolperte schon dem nächsten entgegen, bevor der erste auch nur auf dem schneebedeckten Gras gelandet war.
»Jeremiel!« brüllte Rudy. »Hier entlang. Wir müssen …«
»Jeremiel!« jammerte eine schwache Kinderstimme. »Ich habe Angst.«
Er spürte, wie er langsam ins Bewußtsein zurückgezogen wurde. »Was ist?« fragte er verwirrt.
Er schüttelte sich und saß aufrecht im Bett, bevor er das schreckliche Traumbild abschütteln konnte. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper und er erschauerte in der Kühle der Höhle. In der gegenüberliegenden Ecke glühten noch ein paar Kohlen schwach im Kamin. Aus der Nähe der Tür erklangen tapsende Schritte, die immer wieder von unterdrücktem Schluchzen und Schniefen übertönt wurden. Er konnte einen schwach sichtbaren hellen Fleck ausmachen, bei dem es sich um ihr Nachthemd handeln mußte.
»Jeremiel?« schluchzte das Mädchen.
»Sybil?«
»Ja. Ich habe Angst. Ich brauche jemand, der mich streichelt.«
»Einen Moment, Kleine«, sagte er unsicher. »Ich zünde nur schnell eine Kerze an, dann können wir …«
»Nein! Ich … ich sehe genug, um dich zu finden. Sprich einfach weiter, ja?«
»In Ordnung«, antwortete er und holte tief Luft. »Ich bin hier drüben … genau hier. Wie geht es dir denn?«
Ihre Schritte patschten rasch über den Steinboden und wurden nur hier und dort durch die Läufer gedämpft. »Wo bist du?«
»Ich bin genau hier, Sybil. Folge einfach meiner Stimme. Ja, so ist es gut. Du bist schon fast da. Nur noch ein bißchen weiter.«
Er spürte, wie ihre Füße die Schlafmatte berührten, und griff nach ihr, hielt dann aber inne, als er daran dachte, welchen Schrecken es auslösen kann, wenn unbekannte Hände nach jemandem greifen, der ohnehin schon verängstigt ist. »Ich helfe dir jetzt hinauf, in Ordnung?«
»Ja.«
Er berührte vorsichtig ihren Arm, hob sie aufs Bett und hüllte sie in die Decke. Dann tastete er in der Dunkelheit herum, fand eine Kerze und entzündete sie. Sybils verweintes Gesicht war angeschwollen und gerötet.
»Du bist ja eiskalt. Wie lange läufst du schon hier herum?«
»Ich bin direkt hergekommen, aber es war weiter, als ich dachte.«
»Ja«, sagte er und zog sie an sich. »Besonders wenn man Angst hat, kommen einem zwanzig Minuten in der Dunkelheit wie eine Ewigkeit vor. Wie hast du denn den Weg bei all den Abzweigungen und Irrgängen gefunden?«
»Ich mußte eben.«
Er lächelte und fuhr sich durch das schweißnasse Haar. »Die Verzweiflung weckt ungeahnte Fähigkeiten. Das habe ich selbst schon ein- oder zweimal erfahren. Aber jetzt verrate mir mal, was los ist, Liebes.«
Sie schluchzte herzzerreißend und vergrub ihr Gesicht an seiner nackten Brust. »Ich hatte einen schlimmen Traum.«
»Nun, jetzt ist er ja vorbei«, sagte er tröstend und strich ihr das Haar glatt. »Wir sind schon ein Paar, du und ich. Ich hatte nämlich auch einen.«
Sybil wischte sich die laufende Nase. »Brauchst du jemand, der dich streichelt?« Ohne seine Antwort abzuwarten, streckte sie ihre kleinen Arme aus und streichelte ihn. »Was hast du geträumt?«
»Oh, es war ein Alptraum, den ich schon früher hatte. Über jemand, den ich sehr geliebt habe.«
Sybil schluckte ihre Tränen hinunter und schaute ihn aus großen, dunklen Augen mitfühlend an. »So war es bei mir auch. Ich habe von meiner Mommy und meinem Daddy geträumt.«
Er empfand Mitleid für sie. Auch wenn sie ein tapferes kleines Mädchen war, so war sie doch nichtsdestotrotz ein in einer fremden Welt ausgesetztes Kind, in der es praktisch niemanden kannte. »Mach dir keine Sorgen um deine Mutter«, beruhigte er sie, »ihr geht es gut.«
»Du meinst, weil sie viel zu boshaft ist, um zu sterben?«
Er lächelte und klopfte ihr auf den Rücken. »Das glaube ich doch nicht wirklich. Ich habe das nur gesagt, weil du Angst hattest und ich das nicht wollte.«
Sie stützte sich auf die Ellbogen und blinzelte ihn nachdenklich an. »Ehrlich?«
»Ja.«
»Ich dachte, du könntest mich nicht leiden.«
»Wie kommst du denn auf diese Idee?«
»Du hast nie mit mir gespielt.«
»Wolltest du das denn?«
»Na klar. So zeigt man doch kleinen Kindern, daß man sie mag. Wußtest du das nicht?« Sie runzelte fragend die Stirn.
Er kratzte sich nachdenklich den Bart. »Nein, daß wußte ich wohl nicht.«
»Bist du denn nie mit Kindern zusammengewesen?«
»Nicht sehr oft. Außer, als ich noch sehr klein war und zur Schule ging, aber das war auch nicht für lange. Die Magistraten haben die Schule geschlossen, als ich acht war, und dafür eine Rechtsschule in Tikkun gebaut. Mein Vater wollte mich nicht dorthin gehen lassen. Er hat mich daheim unterrichtet.«
»Haben deine Freunde dich denn nicht besucht?« Ein leichter Anflug von Angst glitzerte in ihren braunen Augen.
Er schüttelte den Kopf. »Die meisten Kinder in meinem Stadtteil gingen zur Rechtsschule, und es dauerte nicht lange, da wollten sie mich nicht mehr besuchen kommen. Und mein Vater erlaubte mir nicht, zu ihnen zu gehen.«
»Aber du weißt doch, warum, oder? In diesen Schulen reißen sie den Verstand der Kinder auseinander. Sie stechen ihnen mit Nadeln in die Köpfe und schreiben ihnen vor, was sie denken sollen. Und wenn sie die falschen Sachen denken, schicken die Nadeln ihnen brennenden Schmerz ins Gehirn.« Sie nickte ernsthaft.
Jeremiel unterdrückte ein Lächeln. »Ich habe noch nie eine bessere Beschreibung der Bewußtseinssonden gehört, aber ich wundere mich, daß du darüber Bescheid weißt.«
»Mommy und Daddy haben mir eine Menge Sachen beigebracht, von denen die meisten Kinder nichts wissen.«
»Ja, das merke ich«, erwiderte er und stellte fest, daß ihre Augen nicht mehr vor Furcht aufgerissen und die Tränen auf ihren Wangen getrocknet waren.
»Jeremiel, vermißt du deine Freunde?«
»Ja, sehr«, antwortete er wahrheitsgemäß. Das Bild von Rudys Gesicht an jenem letzten Tag auf Silmar stand noch frisch in seinem Gedächtnis. Die wahren Freunde, die er in seinem Leben gehabt hatte, konnte er an einer Hand aufzählen – den eingeschlossen, der sich schließlich ganz und gar nicht als Freund erwiesen hatte. »Vermißt du deine Freunde?«
Sie krächzte: »Ich vermisse David und Stella.«
»Waren sie gute Freunde?«
»Sie sind jeden Abend nach der Schule zu mir gekommen, um zu spielen. Wir haben hinten im Garten immer Sachen gebaut.«
»Mach dir keine Sorgen. Du wirst sie wiedersehen. Sobald deine Mutter, Rathanial und ich die Dinge hier geklärt haben, wirst du …«
»Wenn sie noch leben.«
Er ließ ihre Worte im Raum stehen, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte. Dieses kleine Mädchen kannte sich mit der harten Seite des Lebens schon viel zu gut aus, als daß man ihr irgendwelche Lügen wie »es wird schon wieder« auftischen konnte.
Er zog sie enger an sich und küßte ihre dunklen Locken. »Erzählst du mir deinen Alptraum?«
Sie seufzte und kuschelte sich an seine Brust. »Ich habe geträumt, daß Mommy und Daddy beide im Palast waren, aber sie konnten sich nicht finden. Daddy war an einem dunklen Ort, und Mommy oben im Licht. Sie suchte und suchte, aber sie konnte den dunklen Ort nicht finden … und sie weinte.« Ihr hübsches Gesicht verzog sich wieder und ihre Schultern zuckten. Heiße Tränen tropften auf Jeremiels Brust.
Er strich ihr über den Rücken, während er den flackernden Lichtschein betrachtete, den die Kerze an die Decke warf. »Träume sind seltsame Dinge, nicht wahr?«
»Manchmal machen sie Angst.«
Viel zu oft. »Ich weiß, was du meinst.«
»Mommy sagt, Träume sind der Weg des Verstandes, einem Sachen zu zeigen, die man eigentlich gar nicht sehen möchte.«
»Hm … manchmal stimmt das. Es gibt einen dunklen Ort in deinem Kopf, den man das Unbewußte nennt, und dort lauern diese Dinge. Weißt du, was ich glaube, was dein Traum dir sagen wollte?«
»Was?«
»Daß du deine Mom und deinen Dad so sehr vermißt, daß du es kaum ertragen kannst und alles geben würdest, damit sie wieder mit dir zusammen sind. Und sich das zu wünschen, ist eine gute Sache …« Er machte eine Pause, überlegte, ob er sagen sollte, was er dachte, und entschied dann, daß sie es ertragen könnte. »Auch wenn es nie wieder so sein kann.«
Er spürte, wie ihre Wimpern das blonde Haar auf seiner Brust streiften.
»Verstehst du, was ich meine?«
Sie nickte.
»Möchtest du für den Rest der Nacht hier schlafen? Ich muß zwar früh aufstehen, aber du kannst in den warmen Decken liegenbleiben, während ich meine Sachen packe.«
»Du willst morgen meine Mommy treffen, nicht wahr?«
Er runzelte die Stirn und warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Ja. Woher weißt du das?«
»Avel hat es mir erzählt.«
Jeremiel spürte, wie seine Muskeln sich spannten. »So, hat er das?«
Sie nickte, streckte einen Arm quer über seine Brust und tätschelte ihn sanft. »Jeremiel, kümmerst du dich um meine Mom? Manchmal hat sie nachts auch schlechte Träume. Sie weint dann sehr viel.«
»Und sie muß dann auch gestreichelt werden?«
»Ja.«
»Ich werde mich um sie kümmern.«
Sie stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. »Danke.«
Er küßte noch einmal ihr Haar und zog sie an sich. Es schien nur Sekunden zu dauern, bis ihr Atem in den gleichmäßigen Rhythmus des Schlafs überging, ihr kleiner Arm erschlaffte und nach und nach zurückrutschte, bis er wieder auf ihrem eigenen Körper ruhte.
Jeremiel lauschte stundenlang den Bruchstücken der Unterhaltung, die Sybil im Schlaf mit ihrem Vater führte, und starrte dabei müde die rotglühenden Kohlen im Kamin an.
Und er fragte sich, wieso Rathanial einem einfachen Novizen seines Ordens gegenüber geheime Informationen enthüllt hatte, selbst wenn dieser Novize für Rachels Tochter verantwortlich war. Das konnte doch nicht für Harpers Aufgabe von Bedeutung sein? Oder etwa doch? Er und Rathanial waren übereingekommen, daß es am besten für alle Beteiligten war, seinen vorzeitigen Aufbruch nicht zu erwähnen, bis er tatsächlich unterwegs war. Sie waren beide der Ansicht gewesen, daß die beunruhigenden neuen Entwicklungen eine Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen erforderlich machten. Je weniger Menschen brisante Details kannten, desto besser.
Er blickte stirnrunzelnd auf Sybil herab. Ohne ihren Alptraum hätte er nie von diesem Bruch der Geheimhaltung erfahren. Und er wäre vielleicht, ohne es zu ahnen, in … in … in was gelaufen?
Sein Mund preßte sich zu einer harten Linie zusammen. Alles Einbildung, sagte er sich. Zweifellos hatte Rathanial Harper von seiner verfrühten Abreise berichtet, weil er dachte, Sybil würde gern die Gelegenheit nutzen, ihm noch ein paar Botschaften für ihre Mutter mitzugeben oder ihn einfach zu bitten, auf sie aufzupassen – was das Mädchen ja auch vorhin getan hatte.
Verdammt, hör auf damit! Dort draußen gibt es keinen Hinterhalt. Rathanial ist vertrauenswürdig!
Genau wie Dannon.
Sein Atem stockte. Vielleicht hatte Rathanial Harper auch gar nichts erzählt? Das war schließlich nur eine reine Vermutung seinerseits. Möglicherweise hatte der Mann es ja auf andere Weise herausgefunden. Abhörgeräte ließen sich bekanntlich praktisch überall anbringen. War er ein Spion?
Und für wen? Für den Mashiah? Das schien die naheliegendste Möglichkeit zu sein, doch auch die Magistraten konnte man nicht von vornherein ausklammern. O Herr, was ist, wenn der Mann für Tahn arbeitet? Doch warum sollte ein Spion ausgerechnet einem kleinen Mädchen geheime Informationen mitteilen? Weil er nicht erwartet hatte, daß sie Jeremiel noch einmal begegnen würde? Lächerlich.
Oder … konnte Harper vermutet haben, daß Sybil ihn noch einmal besuchen würde? Hatte er die Bemerkung absichtlich fallen gelassen? Als Warnung? Als Hinweis, daß es ein Leck gab und er verdammt vorsichtig sein sollte?
Diese letzte Möglichkeit war jene, die ihn am meisten erschreckte. Hatten die »Lauscher« Harper und damit in letzter Konsequenz auch den Mashiah informiert? Er hatte einen Monat gewartet, bis er Rachel losschickte, und in dieser Zeit Seir unausgesetzt überwacht. Tartarus hatte nichts unternommen. Rein gar nichts! Deshalb hatte er auch Rathanials inständigen Bitten nachgegeben und Rachel gehen lassen.
Vielleicht habe ich damit ihr Todesurteil unterzeichnet.
Wäre sie nicht bereits im Palast des Mashiah, würde er die ganze Aktion jetzt einfach abblasen. Natürlich könnte er eine Nachricht an seine Truppen schicken, den Palast zu stürmen und sie herauszuholen. Sicher, in vielleicht sechs Monaten – und wie sollten sie Rachel den Wüstenvätern lebend entreißen?
Er rieb sich müde die Stirn. Das Netz, in dem er sich gefangen hatte, war zu eng gewoben. Hatte jemand bemerkt, daß seine Gefühle für Rachel von Tag zu Tag wuchsen? Daß ihre Wärme, ihre Intelligenz und ihre Unabhängigkeit ihn an Syene erinnerten? Und daß er sie in der Höhle des Löwen nicht allein lassen wollte und konnte?
Die in fünfzehn Kriegsjahren erworbenen Instinkte wühlten derart heftig in seinen Eingeweiden, daß er schließlich aufstehen mußte. Er befreite sich aus Sybils schläfriger Umarmung, schlüpfte aus dem Bett und steckte die Decken um sie herum fest. Sie schlief geräuschvoll mit offenem Mund, und ihre dunklen Locken breiteten sich auf seinem Kopfkissen aus. Er lächelte und streichelte ihr sanft den Arm. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Ich hole uns schon hier heraus.«
Er zog sich rasch an, ließ aber die Pistole auf dem Tisch neben dem Kamin liegen. Es wäre wenig sinnvoll gewesen, seine Lieblingswaffe beschlagnahmen zu lassen. Er runzelte plötzlich die Stirn, nahm die Waffe auf und spürte, wie sie beinahe mit seiner Hand verschmolz.
»Vielleicht sehe ich dich ja so oder so nicht mehr wieder«, murmelte er. Zögernd legte er die Waffe zurück und stopfte ein paar Kleidungsstücke in seinen Rucksack.
Dann schrieb er Sybil rasch eine Nachricht, ermahnte sie, sich keine Sorgen zu machen, und lehnte den Zettel so gegen das Bein des Nachttischs, daß sie ihn sehen mußte, sobald sie erwachte.
Schließlich verließ er leise den Raum und schlüpfte hinaus in die Dunkelheit des Tunnels. Er hielt seine kleine Lampe in Hüfthöhe vor sich hin und erleuchtete so seinen Weg durch die gewundenen Korridore, die zur Stadt führten.