KAPITEL
31

 

 

Ein heftiger Windstoß heulte schrill durch den Marmorgang des Palasts, den Adom entlangschritt. Er zog den Kragen seines lavendelfarbenen Gewandes höher und drückte das kleine Geschenk, das er in der Hand trug, an die Brust. Auf seinem Weg zu Rachels Zimmer hatte er kaum einen Blick für die Statuen und die prächtigen Teppiche, an denen er vorüberkam. Er hatte ihr erzählt, er wollte mit ihr über Milcom sprechen, doch das war nur ein Vorwand gewesen. Seit einer Woche kreisten seine Gedanken fast ausschließlich um sie, und selbst in seinen Träumen tauchte ihr süßes Antlitz immer wieder auf. Er wünschte sich nichts anderes, als möglichst oft in ihrer Nähe zu sein.

Sie fürchtete sich vor ihm. Jedesmal, wenn sie einander beim Abendessen gegenübersaßen, spürte er es deutlich, und er wußte nicht, was er dagegen tun konnte. In seinem ganzen Leben war es noch nie vorgekommen, daß jemand ihn fürchtete. Vor einigen Jahren, als er noch auf der Straße gelebt und gepredigt hatte, hatten viele Menschen ihn verachtet. Und jetzt gab es viele, die ihn bewunderten. Doch Furcht? Ihr Gesicht verhärtete sich bei seinem Anblick, und dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zu streicheln und die Schmerzen zu lindern, die seine Herrschaft ihr zugefügt hatte.

Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Ornias! Als er vor einigen Tagen abermals verlangt hatte, den Ratsherrn zu sprechen, hatte Ornias mit der Nachricht geantwortet, er sei leider zu beschäftigt, um gestört zu werden. Falls Adom aber unbedingt mit ihm sprechen müsse, könne er am Samstag nach dem Abendessen ein paar Minuten für ihn erübrigen.

»Brosamen von deinem Tisch, Ratsherr?«

Er versuchte, diese Behandlung gleichmütig hinzunehmen, doch sein Ärger darüber wurde kaum von der ständig wachsenden Anziehung überdeckt, die Rachel auf ihn ausübte. Rachel, Rachel, Rachel. Sie hatte ihm die Umstände geschildert, die zum Tod ihres Mannes geführt hatten, und obwohl Adom dagegen ankämpfte, steigerte der Gedanke, daß sie jetzt frei war, seine Hoffnungen. Noch nie zuvor hatte er für einen anderen Menschen so empfunden. Jeder Moment, den er’ fern von ihr verbrachte, erschien ihm als vergeudete Zeit, selbst wenn er sich dann mit wichtigen Problemen Horebs oder der gamantischen Zivilisation befaßte. Für ein Lächeln Rachels hätte er mit Freuden alles andere aufgegeben.

»Nicht alles«, verbesserte er sich schleunigst selbst. »Nicht Milcom oder seinen Weg der Güte und Gerechtigkeit.« Aber praktisch alles andere.

Er bog um eine Ecke und holte unwillkürlich tief Luft, bevor er an ihre Tür klopfte. »Rachel? Hier ist Adom.«

Von drinnen erklang das Geräusch von raschelndem Stoff; dann wurde die Tür geöffnet. Er lächelte angesichts ihrer Schönheit. Sie trug ein safranfarbenes Gewand, das ihre schlanke Taille und die sanfte Rundung ihrer Hüften betonte. Das Mea Shearim ruhte strahlend zwischen ihren Brüsten.

»Es tut mir leid, daß ich zu spät komme. Ein Diener hat mich …«

»Du bist nicht zu spät«, unterbrach sie ihn und öffnete die Tür weiter. »Bitte, komm herein.«

»Ich habe dir das hier mitgebracht«, meinte er nervös und überreichte ihr das Geschenk. »Hoffentlich gefällt es dir.«

»Adom, du darfst mir nicht so viele Geschenke machen. Ich komme mir dann vor wie …«

»Aber es macht mich glücklich, wenn ich sehe, wie deine Augen aufleuchten. Bitte, mach es auf.«

Rachel seufzte resigniert und klappte den Deckel der Schachtel auf. Ihr Mund öffnete sich ein wenig, als sie den juwelenbesetzten Kamm herausnahm. »Der ist ja wunderschön, Adom. Sind das lytalionische Saphire?«

Er nickte. Die Rotkehlcheneierfarbe war einzigartig. »Ich hatte gehofft, sie würden zum Mea passen. Aber wie ich sehe, sind sie ein wenig dunkler.«

»Es harmoniert aber durchaus mit dem Mea. Siehst du?« Sie schob sich den Kamm ins Haar, wo er die dunkle Fülle bändigte.

Adom lächelte zustimmend und schaute sich dann in ihrem Zimmer um. Seine Diener hatten offenbar gute Arbeit geleistet, als sie den Raum herrichteten. Die Bezüge auf dem großen Messingbett paßten ausgezeichnet zu den Teppichen. Auf dem Tisch vor dem steinernen Kamin stand neben einer Vase mit frischen Blumen eine Kristallkaraffe mit Weinbrand. Die Blumen stammten aus den feuchten Höhlen unter dem Palast, wo sie bei künstlicher Beleuchtung herangezogen wurden.

»Wie … wie geht es dir?« stammelte er unsicher. »Entspricht alles deinen Wünschen? Kümmern sich die Diener …«

»Es ist alles perfekt, Adom. Ich komme mir schon wie eine Prinzessin vor.«

»Ich möchte auch, daß du dich so fühlst.«

Sie senkte den Blick und ging zum Tisch hinüber, als wolle sie seiner Nähe entkommen. Ihr Verhalten berührte ihn schmerzlich.

»Darf ich dir ein Glas Weinbrand anbieten?«

»Ja, gern«, sagte er leise.

Er ging zu ihr hinüber, ließ sich in einen der Sessel gleiten und schaute zu, wie sie die Kristallgläser füllte. Als sie ihm sein Glas reichte, berührten sich ihre Finger, und ihre Blicke begegneten sich. Wärme durchströmte ihn. Er senkte die Augen, weil er fürchtete, sie könnte einen Blick auf die Gefühle erhaschen, die in seinem Innern tobten.

»Hast du genug Schlaf bekommen? Ich habe die Küchenmädchen angewiesen, dich nicht zum Frühstück zu wecken, sondern zu warten, bis du läutest. Ich hoffe, sie haben sich daran gehalten?«

»Ich habe die ganze Woche über nie vor zehn Uhr gefrühstückt. Es kommt mir so vor, als würde ich jetzt den Schlaf der letzten Monate nachholen.« Sie runzelte die Stirn. »Obwohl nur Gott allein weiß, wieso ich hier überhaupt schlafen kann.«

Er bemerkte ihre Anspannung, als sie sich setzte. Alles in ihm drängte danach, sie zu berühren. Statt dessen verschränkte er die Arme vor der Brust und fragte: »Willst du dich hier nicht sicher fühlen?«

»Das ist keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Gewohnheit. In den letzten drei Jahren habe ich mich nie sicher gefühlt. Und jetzt schreit jedesmal etwas in mir auf, wenn ich mich entspannen will.«

»Das tut mir leid. Ich hatte gehofft …«

»Wann will Ornias sich mit dir treffen?«

»Morgen. Sofern nichts Wichtigeres dazwischenkommt.«

»Was könnte wichtiger sein als der brutale Mord an Bürgern von Horeb?«

Die Feindseligkeit in ihrer Stimme machte ihm zu schaffen. »Nichts. Ich bin ganz deiner Meinung. Ich weiß nur nicht, wie ich Ornias zu einem Treffen zwingen soll.«

»Du bist der Herrscher von Horeb. Ornias hat kein Recht, dich so zu behandeln. Du darfst ihm das nicht durchgehen lassen.«

»Ich beherrsche es nicht besonders gut, Menschen herumzukommandieren.« Es schmerzte ihn, das zugeben zu müssen. Von Führern erwartete man, daß sie Befehle gaben, doch er wollte lieber sanft und nett mit den Menschen umgehen.

»Weil du ein freundlicher Mann bist«, flüsterte Rachel und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Doch genau darum ist Ornias dir gegenüber im Vorteil. Du mußt dich gegen ihn wehren.«

»Was hast du eben über Gewohnheiten gesagt? Es ist sehr schwierig, eingefahrene Verhaltensmuster zu ändern. Er hat sich immer um die technische Seite der Bewegung gekümmert. Und solange ich mich dort nicht eingemischt habe, schienen die Dinge auch gut zu laufen. Doch wenn ich es versuche, geht immer etwas schief.« Er nippte ungeschickt an seinem Weinbrand, und ein Tropfen rann ihm über das Kinn. Er wischte ihn mit dem Ärmel ab und war sich dabei bewußt, daß sie es bemerkt hatte. Würde er denn niemals irgend etwas richtig machen?

»Adom«, sagte Rachel mit gepreßter Stimme, »Ornias benutzt dich als Strohmann für seine Brutalitäten. Erst deine Stellung als Mashiah verleiht ihm seine Macht.«

»Ich weiß.«

»Du mußt schnell handeln, bevor er noch mehr Menschen umbringen läßt.«

»Das werde ich, Rachel. Wenn er am Samstag kommt …«

»Darf ich dabei sein?«

Adom atmete scharf ein und setzte sich aufrecht. Ornias würde Rachels Anwesenheit nicht wünschen, das stand außer Frage. In den vergangenen drei Jahren hatte der Ratsherr stets zu verhindern gewußt, daß irgend jemand an ihren Besprechungen teilnahm.

»Ich kann dir helfen, Adom. Laß mich mitkommen.«

»Aber das wird ihn verärgern, Rachel, und das wäre mir nicht recht.«

»Du hast die Absicht, seine sorgfältig geplante Terrorkampagne zu stören. Also wird er so oder so wütend sein.« Sie beugte sich vor und nahm seine Hand. Die Berührung besänftigte ihn ein wenig, doch er fürchtete immer noch, sie könnte ihn ebenso tadeln, wie Ornias es in der Vergangenheit oft genug getan hatte. »Ich verspreche dir, kein Wort zu sagen, es sei denn, du brauchst meine Unterstützung. Ich vertraue dir, daß du es schaffst, Ornias davon abzuhalten, weiterhin Menschen umzubringen.«

»Wirklich? Oder sagst du das einfach nur?«

»Ich vertraue dir, Adom. Auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt.«

»Ich … ich vertraue dir auch, Rachel.«

»Dann darf ich auch zu dem Treffen kommen?«

»Ja, du kannst kommen. Ich will es ihm nur nicht vorher erzählen. Es reicht, wenn er es merkt, sobald er das Ratszimmer betritt.«

Sie nickte und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Eine Weile saßen sie schweigend da; dann griff Adom ein Thema auf, das ihm eher lag. »Hast du inzwischen die Bücher über Milcom gelesen, die ich dir gebracht haben?«

Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. »Ja, ich fand sie recht interessant.«

»Das hatte ich gehofft. Gott will, daß du seine Lehren verstehst. Wir wollen nicht … ich … ich zwinge niemanden, zu konvertieren. Niemals. Milcom heißt nur jene willkommen, die sich freiwillig für ihn entscheiden.«

Rachel blickte ihn über den Rand ihres Glases hinweg an. »Ich interessiere mich vor allem für Milcoms Lehren über das Problem des Bösen. Die Ansicht, Epagael sei ein verderbter Gott, ist faszinierend.«

»Ja, nachdem du selbst schwer leiden mußtest, erscheint die Wahrheit offensichtlich, nicht wahr?«

»Oh, ich habe nicht offensichtlich gesagt, nur interessant.«

»Du wirst es erkennen, sobald du alles besser verstehst«, meinte er geduldig. »Es ist natürlich anfangs schwer zu akzeptieren, insbesondere, wenn man sein Leben lang gelehrt worden ist, daß Epagael liebevoll über einen wacht.«

»Es ist wirklich schwer zu akzeptieren. Insbesondere das Konzept der Schöpfung ex nihilo, aus dem Nichts, und wie das Böse dort seinen Anfang nahm. Kannst du mir mehr darüber erzählen?«

Adom spürte, wie die Freude in ihm wuchs. Sie suchte das Wissen! »Milcom sagt, daß zu Anfang nur Epagael existierte. Um das Universum zu schaffen, mußte er sich selbst zurückziehen und einen Teil seines Selbst leeren.«

»Epagael hat sich also zurückgezogen? In Ordnung. Und Milcom?«

»Milcom wurde geschaffen, um als Epagaels Stimme in einem Universum zu dienen, daß er selbst nicht betreten konnte.« Adom machte eine heftige Handbewegung. »Epagael konnte das Nichts nicht betreten. Denn hätte er das getan, würde es zu existieren aufhören und wieder mit der Einzigartigkeit Milcoms verschmelzen.«

»Die Dichotomie zwischen Gott und Nicht-Gott wäre verschwunden. Ich verstehe. Die Schöpfung existiert also außerhalb Epagaels. Aber wenn das so ist, woraus wurden dann wir und alles um uns herum erschaffen?«

Adom lächelte erfreut. Er hatte noch nie jemanden gehabt, mit dem er ernsthaft über Gottes Lehren hätte sprechen können. Ornias weigerte sich stets, und ansonsten traf Adom nur recht wenige Menschen. Rachels Interesse begeisterte ihn. »Eine gute Frage. Milcom beantwortet sie auf diese Weise: Wir wissen, daß das Bewußtsein eine epiphenomenale Basis besitzt. Das bedeutet, es entsteht aufgrund der physiochemischen Prozesse des Gehirns, richtig?«

»Du glaubst nicht an eine Seele?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Das Konzept der Seele ist nur eine wunderliche Fiktion. Alles in unserem Universum besitzt eine physiochemische Basis.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich existiert die Energie noch, auf der alles beruht. Wenn du die als Seele bezeichnen möchtest, spricht nichts dagegen, denke ich.«

»Nein, und ich glaube auch nicht, daß viele der anderen Alten Gläubigen das tun würden.« Sie lehnte sich zurück und zog die Augenbrauen hoch. »Mich wundert, daß man dich nicht schon vor Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat.«

»Oh, Milcom beschützt mich.«

»Ich verstehe. Und was hat Epiphenomenalismus mit Schöpfung zu tun?«

»Milcom benutzt das folgende Beispiel: Wenn man ein paar Zellen aus deinem Gehirn entfernt, wäre der Rest davon nicht betroffen. Dein Bewußtsein bliebe so intakt wie zuvor. Doch wenn man die entnommenen Zellen zur Mitose anregt, wäre es dann nicht möglich, daß ihre Menge eines Tages groß genug ist, um ein eigenes Bewußtsein zu entwickeln?«

»Milcom lehrt, daß Epagael einen Teil seines Gehirns herausgeschnitten und ins Nichts geschleudert hat, um damit die Grundlage des Universums zu schaffen?«

»Das ist die Analogie, die er benutzt hat. Doch in Wahrheit handelte es sich bei den Zellen um Hüllen, die mit Licht angefüllt waren. Als sie zerbrachen, strömte das Licht aus.«

»Und entwickelte ein eigenes Bewußtsein?«

»Ja. Epagael hatte nicht die leiseste Ahnung, daß so etwas geschehen würde. Es faszinierte ihn, und …«

»Das kann ich verstehen. In gewisser Weise ist es so ähnlich, als wenn man ein Kind bekommt. Man weiß, es ist ein Teil von einem selbst, doch es entwickelt sich völlig anders.«

Adom lächelte überrascht. »Das ist mir neu. Ist das Chaos der Schlüsselfaktor der kindlichen Entwicklung?«

»Ohne Frage.«

»Nun, dann ist es tatsächlich eine Analogie. Denn Gott liebt die chaotischen Muster, die das universelle Bewußtsein hervorbringt.«

Rachel stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich etwas vor. Ihre Brüste stemmten sich gegen den Stoff des Kleides, und Adom bemühte sich, den Anblick zu ignorieren.

»Es ist also das Chaos, das Gott fasziniert?«

»O ja. Je mehr, desto besser, wenn es nach ihm geht. Er hat die ersten beiden Universen zerstört, weil es ihnen daran mangelte.«

Sie lachte leise. »So, wie die alten Mythen es berichten? Nur das Dritte fand Gnade vor seinen Augen?«

»Das sind keine Mythen. Das Dritte hat nur überlebt, weil die anderen Engel nicht klug genug waren, um sich Milcoms Meinung anzuschließen, es sollte ebenfalls zerstört werden.«

»Dann existieren wir also nur, weil Milcom es nicht geschafft hat, Gott davon zu überzeugen, daß mehr Chaos schlecht ist?«

»Genau.«

Sie räusperte sich ungläubig. »Das Chaos bedingt das Böse, nehme ich an?«

»Ja, erkennst du das denn nicht? Die wahre Natur des Universums besteht im chaotischen Kampf gegen sich selbst. Wir erfahren diesen Kampf als Leid.«

Rachel spielte nachdenklich mit ihrem Glas. »Da gibt es aber einen logischen Bruch, Adom.«

Er runzelte die Stirn. Tatsächlich? Milcom hatte davon nie etwas erwähnt. »Welchen?«

»Welcher Katalysator hat die Zellen aus Epagaels Gehirn zur ersten Teilung angeregt? Weshalb sind die Hüllen des Lichts zerbrochen?«

Adom zupfte nachdenklich an einer Locke seines blonden Haars. »Ich erinnere mich, daß Milcom einmal sarkastisch etwas erwähnt hat, das er als Reshimu bezeichnete und das der Schöpfung den ersten Tritt verpaßt haben soll. Aber ich habe nie nachgefragt, was er damit meinte.«

»Hm. Nun, mich stört noch etwas anderes. Wenn Epagael das Universum nicht betreten kann, woher soll er dann wissen, daß wir leiden? Und wenn er es nicht weiß, wie kann er dann böse sein?«

»Oh, er weiß es. Milcom hat es ihm wieder und wieder berichtet.«

»Epagael weiß Bescheid und läßt das Leid zu? Hat er nicht die Macht, es zu beenden?«

»Er ist keineswegs machtlos. Er müßte lediglich das Bewußtsein in diesem Universum töten, welches das Chaos verbreitet.«

Sie erschauerte sichtlich. »Wie könnte er das tun?«

»Ich weiß es nicht. Milcom hat nie mit mir darüber gesprochen.«

»Nun, nehmen wir einmal an, Epagael könnte das Chaos ›töten‹ und so unser Leiden beenden. Warum tut er es dann nicht?«

Adom nippte an seinem Weinbrand. »Milcom sagt, es unterhält ihn.«

»Das ist grausam.«

»Genau deshalb haßt Milcom ihn.«

»Können wir denn das Leiden jemals beenden? Aus eigener Kraft, meine ich?«

»Milcom lehrt, daß der Zweck unserer Existenz darin besteht, das Universum zu Epagael zurückzuführen. Nur dann wird das Leiden ein Ende haben.«

»Adom, das hört sich so an, als meinte Milcom damit, wir müßten das Universum zerstören.«

»Richtig.«

Sie lachte leise. »Das ist doch sicher ein Scherz. Im Universum gibt es doch auch Schönheit und Freude. Wie könnte er wollen …«

»Schönheit existiert nur, weil es auch Häßliches gibt. Das Gute nur, weil es auch das Böse gibt. Dichotomie ist der Ursprung von allem. Gott und Nicht-Gott. Jetzt sag mir, was in unserem Leben vorherrscht – das Glück oder das Leid?«

Ihre Hand verkrampfte sich um das Glas. »Das Leid.«

Schmerz durchfuhr Adoms Brust. Er ahnte, in welcher Richtung sich ihre Gedanken bewegten. »Ja. Die ganze Sache ist schon vor langer, langer Zeit auf die schiefe Bahn geraten. Seit Milliarden von Jahren hat es kein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse gegeben. Und mit jedem Moment, den die Schöpfung weiterhin besteht, wächst das Böse. Das Chaos breitet sich im Universum aus wie ein Krebsgeschwür.«

Sie lächelte schwach. »Entropie?«

»Du kannst es so nennen.«

»Aber würde nicht die natürliche Kulminierung der Entropie das Leiden beenden?«

»Nein«, seufzte er. Es schmerzte ihn stets, an diesen Teil von Milcoms Lehre zu denken. »Die letzte, ultimate Dichotomie bleibt weiterhin bestehen: Epagael und das Nichts. Er wird weiterhin in der Lage sein, die Leere zu benutzen, um neues Leid zu schaffen, wann immer es ihm gefällt. Wir müssen dafür sorgen, daß er das Elend des Universums selber spürt.«

»Und das tun wir, indem wir es zu ihm zurückführen?«

»Ja.«

Sie leerte ihr Glas. »Und wie sollen wir Epagael unser Universum um die Ohren schlagen?«

Adom hob die Schultern. »Milcom hat mir das nie genau erklärt. Er meinte nur, es hinge mit der nackten Singularität zusammen, aber ich wäre noch nicht weit genug, um das zu begreifen.«

Sie erhob sich nachdenklich und ging zum Fenster. Adom stand ebenfalls auf und stellte sich neben sie. Er bemerkte, daß Rachel eine Reihe von Kindern beobachtete, die sich müde durch die windgepeitschten Straßen schleppten.

»Sie sind zu den Kartoffelfeldern unterwegs«, flüsterte er.

»Ich weiß. Sie arbeiten dort jeden Tag bis um Mitternacht.«

»Ich kann es nicht ändern, Rachel. Wir haben eine Hungersnot. Jeder muß arbeiten.«

»Für drei Lirot im Monat? Während die Erwachsenen zehn bekommen?«

»Die Kinder besitzen weder die Kraft noch die Ausdauer der älteren. Sie produzieren weniger.«

Ihr Blick wurde hart. »Dann wäre es wohl besser für uns alle, wenn du die Hälfte der Wachen und des Küchenpersonals entläßt und sie anstelle der Kinder auf die Felder schickst. Sie könnten deren Arbeit dreimal erledigen. Auf diese Weise würde die Ernte sehr viel größer sein.«

Adom dachte über diesen Vorschlag nach, während er eine Frau beobachtete, die einen Esel durch die Straßen führte. Die Frau hatte ihre abgetragenen Röcke hochgebunden und enthüllte sonnengebräunte Beine. Die Ladefläche des altersschwachen Karrens, den der Esel zog, war leer. Hatte sie heute nichts auf dem Markt bekommen? Doch Ornias hatte gesagt, sie hätten die Lebensmittelausgabestellen geschlossen, weil die Wirtschaft sich wieder gefangen hätte und auf den Feldern genug produziert würde. Zweifel überkamen ihn. »Ich werde meinen Stab sofort umorganisieren.«

»Und wenn Ornias das nicht erlaubt?«

Er schnitt eine Grimasse, ballte die Fäuste und wandte sich vom Fenster ab. Merkwürdig, vor ihrer Ankunft war er sich nie wie ein Gefangener vorgekommen. Doch jetzt hatte er den Eindruck, die Marmorwände würden ihn ersticken. »Ich werde es trotzdem tun.«

»Sei vorsichtig, Adom. Ornias hat weniger Skrupel als ein Giclasianer. Ich glaube, er würde nicht einmal davor zurückschrecken, dich zu töten, wenn du ihm zu selbständig wirst. Und den Leuten gegenüber würde er dann behaupten, du befändest dich in einer lang andauernden Zwiesprache mit Milcom.«

»Oh, ich glaube nicht, daß er …«

Beide zuckten zusammen, als jemand drängend an der Tür klopfte. Rachel warf Adom einen fragenden Blick zu. »Erwartest du jemanden?«

»Nein, obwohl es mitunter vorkommt, daß die Diener mich suchen, wenn etwas Wichtiges vorliegt.« Adom ging zur Tür und öffnete sie. Ari und Yosef standen draußen. »Was gibt’s denn?«

»Oh, nichts von Bedeutung, Mashiah«, erwiderte Yosef. Der runde Bauch des kleinen Mannes wirkte unter der weißen Robe, als wäre er schwanger. »Ari und ich wollten nur in die Abteilung für seltene Bücher der Bibliothek, um mehr über Milcoms Lehren nachzulesen, doch der Raum war verschlossen und bewacht. Wir …«

»Ja, es hat mal einen Diebstahl gegeben«, erklärte Adom zögernd. Seiner Ansicht nach sollten alle Bücher der gesamten Bevölkerung Horebs zugänglich sein, doch Ornias hatte ihn dieser Haltung wegen getadelt und gefragt: »Mein Gott, Adom, willst du denn keins der Bücher für dich selbst behalten?«

»Es tut uns leid, dich zu stören, Mashiah, aber könntest du diese Genehmigung unterzeichnen?« Yosef reichte ihm das Plastikblatt und einen Laserstift.

Als Adom die Sachen entgegennahm, fiel sein Blick auf Aris Gesicht, und er bemerkte, daß der alte Mann neugierig zu Rachel hinüberschaute. In diesem Moment erinnerte sich Adom an Milcoms Empfehlung, dafür zu sorgen, daß die beiden einander mochten. Er unterschrieb das Blatt, ohne einen Blick auf den Text zu werfen, gab es Yosef zurück, streckte dann den Arm aus und zog Funk ins Zimmer.

»Rachel?« rief Adom. »Ich möchte dich mit Ari Funk bekannt machen. Er ist einer meiner persönlichen Assistenten. Yosef Calas ist der andere. Wenn du jemals irgend etwas brauchst, wende dich an einen von ihnen, und sie werden sich darum kümmern.«

Rachel bildete mit den Händen das heilige Dreieck. »Mister Funk, Mister Calas, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

Ari wischte sich die Hände an seiner Robe ab und schenkte ihr ein breites Lächeln. »Sie sind genau mein Typ«, krächzte er. »Wollen Sie nicht mit mir durchbrennen?«

»Wie bitte?«

»Ich bin genau der richtige Mann für Sie. Besser können Sie es gar nicht treffen.«

Rachel runzelte die Stirn. »Aha. Sehr interessant.«

»Oh, ich … ich bin sicher, Ari macht nur … Spaß«, warf Adom ein, der spürte, wie die Spannung wuchs.

Rachel betrachtete den alten Mann von oben bis unten. »Ehrlich gesagt sind Sie mir zu dünn, und außerdem bevorzuge ich Blonde.« Sie blinzelte Adom zu, der gleichermaßen überrascht wie erfreut war. Meinte sie das ernst, oder gehörte das nur zu dem Geplänkel mit Ari?

»Ach, der ist doch viel zu schüchtern«, meinte Ari. »Sie brauchen eher einen Draufgänger. Einen wie mich.«

»Trotzdem – nein danke.«

»Sie werden es noch bedauern. Ich bin hier sehr gefragt.«

»Das liegt vermutlich an Ihrem subtilen Charme.«

Adom lachte und schaute zu Yosef hinüber, um zu sehen, ob ihm das Schauspiel auch gefiel. Doch der alte Mann wirkte eher verärgert und blickte Funk mißbilligend an.

»Ari!« zischte Yosef. »Hör auf, diese Leute zu belästigen. Wir müssen uns um die Bücher kümmern.«

Funk runzelte verwirrt die Stirn. Dann ging ein Leuchten über sein Gesicht und er rief: »O ja, das hatte ich ganz vergessen.«

»Vergessen«, knurrte Yosef. »Du bist ein Idiot. Nun komm schon!«

Als Ari an Adom vorbeikam, klopfte der ihm auf die Schulter und meinte: »Laßt es mich wissen, falls es weitere Probleme mit den Wachen gibt.«

»Machen wir, Mashiah«, versicherte Yosef mit einer angedeuteten Verbeugung, packte seinen Freund am Ärmel und zog ihn auf den Flur.

Adom hörte durch die geschlossene Tür, wie die beiden heftig miteinander stritten, während sie den Flur entlanggingen.

»Sonderbare Vögel, nicht wahr?« meinte er zu Rachel.

»Dieser Funk ist ein alter Lustmolch. Wo hast du ihn aufgetrieben? Ich habe ihn noch nie auf Horeb gesehen.«

»Sie stammen beide von Tikkun und sind hergekommen, um Milcom zu dienen. Mochtest … du Ari nicht?«

»Vielleicht ist er ja ganz erträglich, wenn man ihn in kleinen Dosen genießt.«

»Er ist wirklich ein wunderbarer Mensch. Du solltest ihn besser kennenlernen. Ruf ihn zu dir, wann immer du möchtest.«

»Adom …« Ein wachsamer Blick trat plötzlich in ihre Augen. »Yosefs Nachname lautet Calas?«

»Ja, er ist Zadoks Bruder, falls du darüber nachgedacht hast.«

Ihr Gesicht wurde blaß, und sie warf einen Blick auf die Tür, durch die der kleine Mann soeben verschwunden war. »Soll das heißen, ich habe gerade den Führer der gamantischen Zivilisation getroffen?«

Adom blinzelte. Er hatte nie darüber nachgedacht, doch ihre Vermutung traf natürlich zu, sofern Yosef das Amt angenommen hatte. Was er aber offensichtlich nicht getan hatte, denn andernfalls hätte er sich kaum aus freien Stücken Milcom angeschlossen. »Von Rechts wegen vermutlich schon. Allerdings ist er konvertiert und hat sich zu mir bekannt.«

Rachel betrachtete ihn prüfend. »Soll das heißen, er hat sich dir unterworfen? Und du bist jetzt der neue Führer?«

Er zuckte die Schultern und war sich nicht sicher, wie er diese Frage beantworten sollte. Er wollte nicht der Führer sein, war es möglicherweise aber doch. Falls ja, konnte er das Amt einfach an jemand anderen abtreten. Doch nein, das konnte er nicht. Milcom hatte erwähnt, daß er in der gamantischen Hierarchie aufsteigen mußte, um dem Universum die Erlösung zu bringen.

Er spürte, wie er blaß wurde, und stammelte: »Ich … ich glaube schon.«