KAPITEL
26
Talo hockte in einem dunklen Türeingang, kaute an einem orionischen Pfirsich und schaute auf den Platz hinaus. Die Straßen rings um den Versammlungsort waren von Müll und Trümmern übersät. Zerborstene Balken und zerschmetterte Steine, die von der wilden Schießerei an jenem schrecklichen Morgen vor einem Monat zeugten, waren noch immer überall verstreut. Sehnsüchtig blickte Talo zu der zerstörten Bäckerei hinüber, vor der er früher immer gesessen und die Tauben gefüttert hatte. Jetzt lagen dort aufgedunsene Leichen – die Leichen jener, die versucht hatten, dem Holocaust zu entkommen.
Talo biß ein weiteres Stück von dem Pfirsich ab. Das blaue Fruchtfleisch troff vor Saft, und bei jedem Bissen liefen klebrige Rinnsale durch seinen Bart und tropften auf die Hose. Sein Gesicht trug Spuren von Ruß, Schmutz und Blut. Rings um ihn bewegten sich Arbeiter im Licht der Morgendämmerung und luden Trümmerstücke auf Karren. Sie waren von den Truppen des Mashiah zusammengetrieben und in Arbeitsgruppen eingeteilt worden … wie lange war das jetzt her? Zwei Wochen? Drei? Er hatte vieles von jenem Tag vergessen, an dem die Marines sein Stadtviertel gestürmt hatten, doch einige Bilder hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Soldaten hatten die Menschen mit Schlägen zum Gehorsam getrieben und jedes Haus zerstört, in dem sie auch nur ansatzweise auf Widerstand gestoßen waren. Irgend etwas war an jenem Tag geschehen, wodurch sich sein Verstand verwirrt hatte, so als hätte man seinen Schädel mit Wolle ausgestopft. Er erinnerte sich an die Schläge. Nicht sehr gut allerdings, aber das spielte auch keine Rolle. Arbeiten und essen, das war alles, was er tun mußte, um am Leben zu bleiben. Und so stolperten sie auch heute wieder unter der brennenden Sonne umher.
Er beschirmte seine Augen und sah, wie Sima sich abmühte, den geschwärzten Körper eines Kindes auf den bereits überfüllten Karren zu laden. Als sie die Leiche über ihren Kopf hob, platzte sie auf und ergoß einen Strom bleicher Eingeweide über ihre Arme. Sie stieß einen Schreckensschrei aus und wischte sich hektisch die Arme ab, als würde sie den giftigen Speichel eines Monsters abstreifen.
Talo senkte den Blick. Sein Herz klopfte schwer. Aus der Gasse hinter ihm erklang die flüsternde Stimme seiner Nichte Myra: »Onkel, die Mittagspause war schon vor einer halben Stunde vorüber. Warum bist du noch immer hier? Du weißt doch, was sie dir antun, wenn sie dich hier finden.«
»Mein Herz schmerzt«, sagte er und blickte wieder zu Sima, die sich schluchzend gegen den stinkenden Karren lehnte.
Myra trat neben ihn. Er roch ihren Schweiß und sah, wie ihr Haar im heißen Wind flatterte. Sie trug fadenscheinige blaue Kleidung und ein Kopftuch. Ihr hübsches Gesicht war schmal geworden, und die Wangenknochen stachen wie bei einem Totenschädel hervor.
»Ich … ich komme mir vergiftet vor«, klagte er leise.
»Wir sind alle vergiftet«, murmelte sie. »Jedesmal, wenn wir die Toten berühren, verseuchen sie uns mit ihrem Gift.«
Er runzelte die Stirn, weil er nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte. Das kam in letzter Zeit des öfteren vor. Er hörte, wie Menschen zu ihm sprachen, konnte sogar sehen, wie ihre Lippen sich bewegten, doch sein Verstand konnte ihre Worte nicht entschlüsseln. Es war so, als redeten sie in einer fremden Sprache. »Was?«
Myra klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Ich wollte damit sagen, daß es ein Gift ist, das uns zu Herzen geht und es schwer und traurig macht.«
»Oh, ja. Ich verstehe, was du meinst.«
»Eine weitere Wunde in unseren Seelen, und wieder ein Grund weniger, um weiterzuleben.«
»Uns bleibt immer noch die Ewigkeit«, murmelte er dankbar und leckte den Pfirsichsaft von seinen Fingern. Warme Hoffnung erfüllte ihn. Er schaute hoch und lächelte Myra aufmunternd an.
Ihre Kiefermuskeln strafften sich. »Ich weiß, daß du das glaubst, und ich bete zu Gott, daß es immer so bleibt. Aber was mich betrifft – und die meisten anderen hier –, haben die Soldaten die Ewigkeit ausgelöscht.«
Er war so in seinen angenehmen Träumereien versunken, daß er nicht mitbekam, was sie gesagt hatte. »Epagael wird sich um uns kümmern. Er wird nicht zulassen, daß man uns tötet.«
»Uns wird niemand helfen. Es sei denn, wir kümmern uns selbst darum.«
Ein Stück entfernt winkte Sholmo ihnen heftig zu. Myra klopfte ihrem Onkel auf die Schulter, flüsterte: »Beeil dich«, und lief auf die Straße. Dort hob sie eine Schaufel auf und machte sich damit an einem Steinhaufen zu schaffen. Sholmo winkte abermals, diesmal drängender. Er arbeitete an einem Haufen herabgestürzter Balken, die an einer Wand des Versammlungsplatzes lagen. Talo bemerkte aus den Augenwinkeln eine grüne Uniform, doch er biß in Ruhe ein weiteres Stück von seinem Pfirsich ab. Sie erhielten pro Tag zwei dieser Früchte, und Talo genoß jede einzelne davon, als wäre es seine letzte. Was machte es schon, wenn er noch ein paar Sekunden im Schatten sitzen blieb, bis er den Pfirsich aufgegessen hatte.
»He, du! Du alter Faulpelz!« rief ein rothaariger Marine mit großen Sommersprossen. »Warum arbeitest du nicht?«
»Ich … ich …« Ein leiser Angstschauer überfiel ihn. Er ließ die Frucht fallen und zeigte mit aufgerissenen Augen darauf, als würde das alles erklären.
Der Marine trat mit dem Stiefel dagegen, und der Pfirsich landete mit einem platschenden Geräusch an der Wand eines ausgebrannten Gebäudes. Talo blickte der zerplatzten Frucht nach, während ihm Tränen in die Augen stiegen. Welch eine Verschwendung, und das für nichts. Der Marine zog den Plastikknüppel aus dem Gürtel und zog ihn Talo über den Schädel. Er stürzte auf die schmutzige Straße und krümmte sich unter den Schlägen.
Das Blut rann ihm in die Augen, doch Talo konnte trotzdem erkennen, wie die anderen Arbeiter reglos dastanden und zuschauten. Einige rangen die Hände. Die meisten blickten zornig drein, als wären sie verärgert über ihn, weil er den Wutanfall des Marine nicht verhindert hatte. Talo wußte, daß oft genug die ganze Gruppe darunter leiden mußte, wenn eines ihrer Mitglieder bestraft wurde. Erst vor einer Woche waren die Marines durchgedreht und hatten innerhalb von wenigen Minuten zwanzig Arbeiter totgeknüppelt. Ihr Blut hatte sich in einem wahren Strom über die Straße ergossen.
»Hören Sie auf!« schrie Myra plötzlich. »Nach den letzten Schlägen hat er den Verstand verloren. Wahrscheinlich hat er nicht einmal begriffen, was Sie zu ihm gesagt haben!«
Der Marine fuhr schwer atmend herum. »Willst du die nächste sein, Mädchen? Möchtest du, daß ich dir die Zähne ausschlage?« Er schüttelte drohend seine mächtige Faust. Sie wich weinend einen Schritt zurück.
Talo versuchte sich zu erheben. Er wollte aufstehen, bevor noch jemand wegen ihm zu Schaden kam, doch die Übelkeit überwältigte ihn und er erbrach sich auf die Straße. Das Geräusch sich nähernder Stiefel erklang.
»Was hat er getan?« fragte der Neuankömmling.
»Er wollte nicht arbeiten! Ist ein fauler alter Schwachkopf.«
Beide lachten, und der neue rief: »He, du dreckiger alter Wirrkopf. Weißt du nicht mehr, was wir mit Leuten machen, die nicht genug leisten?«
Talo blickte ihn flehend an. »Ich … ich weiß …«, flüsterte er.
Doch der Marine hörte ihn nicht. Er hob den Fuß und trat Talo brutal in den Magen. Er rollte zur Seite und verspürte einen stechenden Schmerz in seinem Innern, als wäre dort ein Organ zerrissen. Doch ungeachtet der Schmerzen zwang er sich abermals zum Aufstehen und schaffte es tatsächlich, sich auf die Knie zu erheben. Ein Gebet stieg in seinem Herzen auf, ein Gebet an den Gott aller Götter, der ihn, wie er wußte, in seine Arme nehmen würde, wenn die Marines mit ihm fertig waren. Epagael, Herr des Universums, gib mir Kraft.
»Zurück an die Arbeit!« brüllte der rothaarige Marine der Menge zu, die sich inzwischen versammelt hatte. Doch niemand rührte sich. Alle standen wie angewurzelt und schauten voller Entsetzen zu.
»Ihr wollt wohl auch nicht arbeiten, was? Möchtet lieber was erleben, bevor ihr weitermacht? Na schön, das könnt ihr haben!«
Der Marine hob den schweren Knüppel wieder und wieder und schlug gnadenlos auf Talo ein. Der andere Soldat schloß sich nach ein paar Sekunden an und drosch auf Talos Beine ein. Sie lachten ihn aus, während sich ein grauer Nebel erhob. Von irgendwoher glaubte er eine Stimme zu vernehmen, die flüsterte: »Wir werden sie töten. Es dauert nicht mehr lange. Rachel ist zurück. Sholmo sagt, seine Mutter hätte gesehen, wie sie letzte Nacht in den Palast ging. Warte, bis sie …«
Talo erwachte und sah durch ein Loch im Dach die Sterne schimmern. Doch sein Blick war trübe, und die Welt blieb auf unangenehme Art verwaschen. Stechender Geruch von Chemikalien erfüllte die Luft, und Talo hörte leise Schritte, die sich näherten. In plötzlicher Panik glaubte er, es wären die Marines.
»Nicht schlagen!« flehte er und versuchte den Kopf mit seinem einzigen Arm zu bedecken. »Bitte, nicht schlagen!«
Myra beugte sich über ihn. Die Enden ihres blauen Kopftuchs berührten seine Wangen. Er starrte sie für einen Moment blind an; dann sah er die Blutergüsse und Wunden, die ihr einst hübsches Gesicht verunstalteten. Er legte sich den Arm über die Augen und schluchzte. Die Marines hatten Myra verletzt, weil sie versucht hatte, ihm zu helfen. Dieses Wissen schmerzte um so mehr, als er wußte, daß er weiterhin auf ihre Hilfe angewiesen war.
»Onkel Talo«, flüsterte Myra liebevoll. »Still! Pst! Du darfst nicht so laut weinen. Wenn sie das hören, wird alles nur noch schlimmer.« Sie schaute nervös über die Schulter. Er folgte ihrem Blick und sah einen leeren Hauseingang. Befanden sie sich irgendwo dort drinnen? Die Soldaten, die nachts die Arbeitsgruppen bewachten?
Dennoch konnte Talo den Tränenstrom nicht aufhalten. Ich sollte Myra fortschicken, sie zwingen, mich sterben zu lassen, dachte er dumpf.
»Haltet die Klappe!« rief jemand. »Bring ihn zum Schweigen. Sie werden uns alle töten, wenn er sie aufweckt!«
Talo umklammerte schwach ihren Ärmel. »Geh fort! Du … du darfst mir nicht helfen.«
»Still!« zischte sie ängstlich und legte ihm eine Hand auf den Mund.
Durch ihre Finger hindurch keuchte er: »Rachel …?«
Myra nahm zögernd ihre Hand fort und blickte noch einmal zur Tür hinüber. »Sprich leise, Onkel. Was ist mit ihr?«
»Habe ich recht gehört? Ist es wahr? Sie ist zurück?« Er empfand die gleiche schmerzliche Hoffnung wie beim Gedanken an die Ankunft des Erlösers.
»Wir sind uns nicht sicher. Du weißt ja, daß Sholmos Mutter Martha nicht mehr bei klarem Verstand ist. Vielleicht hat sie im Mondlicht jemand anderen mit Rachel verwechselt. Sie hat auch eine ganze Woche lang ununterbrochen über die Ankunft des wahren Mashiah gebrabbelt. Tag und Nacht ging das, und niemand konnte sie zum Aufhören bringen.«
»Er ist nahe«, versicherte Talo. »Er kommt.«
»Ich glaube dir, Onkel«, sagte sie sanft, doch an ihrem Tonfall konnte er erkennen, daß es nicht stimmte. Sie zögerte; dann flüsterte sie: »Ich kann dir noch etwas erzählen. Aber du mußt mir versprechen, ganz still zu bleiben und nur zuzuhören.«
Er nickte eifrig.
»Wir haben auch aus anderen Quellen Gerüchte gehört, wonach Rachel sich im Palast aufhält. Es heißt, sie wäre den ganzen Tag mit dem Mashiah zusammen. Doch niemand weiß genau, was dort vorgeht.«
Talo fühlte sich plötzlich am ganzen Körper heiß und fiebrig. »Sie überzeugt ihn davon, uns freizulassen.«
»Oder sie ist übergelaufen.«
Er starrte sie entgeistert an. »Nein! So etwas darfst du nicht einmal denken! Sie … sie wird sich um uns kümmern«, keuchte er. »Du wirst schon sehen. Sie ist das Werkzeug Epagaels!«
»Um Gottes willen!« flüsterte jemand aufgebracht. »Bring ihn zum Schweigen! Wir anderen müssen morgen arbeiten!«
»Pst! Onkel, nicht …« Ihre Stimme verstummte plötzlich, und ihre Augen weiteten sich vor Angst.
Er folgte ihrem Blick und sah den Marine wie eine Silhouette im Eingang stehen. Für Talos desorientierten Verstand sah es so aus, als würde er wie ein Geist heranschweben.
»Wasser!« krächzte er. »Nichte, gib mir etwas Wasser, bevor sie es verbieten. Mir ist so heiß.«
Am ganzen Körper zitternd, wich Myra von seinem Lager zurück. Der rothaarige Marine blickte auf Talo herab, und der alte Mann erschauerte unter dem Haß in den kalten blauen Augen, der ihn wie das giftige Wasser des Ozeans im Norden überflutete.
»Wasser!« bat er den Söldner. »Ich habe Fieber. Nur ein bißchen Wasser, um meine Kehle zu kühlen.«
»Hast du das Mädchen nicht gehört? Sie hat gesagt, du sollst still sein.«
»Nur ein bißchen, bitte. Ich brauche nur …«
»Halt die Klappe!«
»Nur einen Schluck …«
Der Marine schlug ihm heftig auf den Kopf, und Talo hörte seinen Schädel brechen. Es kam ihm so vor, als würde sein Gehirn aus der schützenden Hülle herausfließen, denn er spürte eine schleimige Feuchtigkeit an seinem Kopf.
Er keuchte, und sein Körper wurde gefühllos. Dennoch zwang er sich, noch einmal »Wa … Wasser« zu murmeln.
Der Marine machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die Tür zu. Bevor er den Raum verließ, brüllte er: »Ihr dreckiges Pack laßt besser die Finger von ihm. Wenn wir merken, daß einer von euch ihm heute Nacht geholfen hat, werdet ihr alle dafür büßen!«
Leises Gemurmel drang durch die Dunkelheit, doch einen Moment später beugte Myra sich wieder über Talo. Ihre Lippen zitterten, und Tränen rannen über die zerschlagenen Wangen. »Onkel …«
»My … Myra.« Er versuchte, ihren Namen liebevoll auszusprechen, doch seine Stimme knirschte wie Sand auf Stein.
Seine Kräfte verließen ihn so schnell, wie Wasser aus einem löchrigen Eimer herausrinnt. Doch er empfand nur ein Gefühl der Freiheit, ein friedvolles Hinübergleiten in die Vergessenheit. Er entspannte sich und genoß träumend den kühlen Hauch der Nacht.
Und er wanderte wieder durch die alten Straßen. Kerzen erhellten die Fenster, und der Morgenwind trug den Duft von frischgebackenem Weißbrot heran. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, als er um die Ecke bog und wieder die Steintauben sah, die sich vor der Bäckerei sammelten. Sie rannten gurrend und flatternd voller Erwartung auf ihn zu, denn sie wußten, daß er wie immer Brot für sie in seinen Jackentaschen mitgebracht hatte.
Mikael kuschelte sich unter der blauen Decke zusammen und zog sie bis zu den Ohren hinauf. Die Kälte schien aus dem Fels zu kriechen und sich ihm von allen Seiten zu nähern. Seine Mutter zog eine Kiste mit zusätzlichen Decken unter dem Bett hervor. Sie wirkte sehr erschöpft, und das Licht, das sonst in ihren Augen zu strahlen schien, war verschwunden. Das schwarze Haar hing in schmutzigen Strähnen über ihre Schultern. Mikael bekam sie nur noch selten zu Gesicht. Den größten Teil des Tages, und oft auch noch bis tief in die Nacht hinein, sprach sie mit Erwachsenen. Für ihn hatte sie in letzter Zeit nur noch tadelnde Bemerkungen übrig wie: »Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin, Mikael? Geh nach draußen und spiel!« Oder: »Heulst du schon wieder? Wirst du denn nie erwachsen und ein Mann?« Er fühlte sich einsam und verängstigt.
»Mama?« fragte er und nahm all seinen Mut zusammen. »Werden wir sterben, so wie Großvater und Tante Ezarin?« Er hatte einige Gesprächsfetzen aufgeschnappt und wußte, daß etwas sehr Schlimmes im Gange war. Cousin Shilby hatte gesagt, es würden große Schiffe kommen und violettes Feuer herabregnen lassen, bis die Felsen wie Eis in der Sonne zerschmolzen.
Mit einer heftigen Bewegung schüttelte Sarah eine Decke aus und breitete sie über ihn. »Uns wird nichts passieren, Mikael. Schlaf jetzt. Es ist schon sehr spät.«
Doch Mikael konnte nicht einschlafen. Er hatte sich so in die Decken eingegraben, daß nur noch seine Augen hervorschauten. Die Worte seiner Mutter hatten ihn keineswegs beruhigt. In ihrer Stimme war ein Zittern gewesen, das seine ohnehin schon unsichere Welt noch mehr erschüttert hatte.
»Mama, warum wollen die Männer, die die Aufstände in den Wüsten und Tälern anführen, uns nicht helfen?«
»Ich weiß nicht.«
»Mögen sie uns nicht?«
»Sie mögen mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht dein Großvater bin«, brach es aus ihr hervor, und sie schlug mit der Faust gegen die Wand.
Mikael setzte sich auf und blickte sie aus seinen dunklen Augen an. »Welchen Unterschied macht das denn?«
»Für sie … einen sehr großen.«
»Mama, warum …«
»Hör auf, Mikael! Ich will nicht darüber reden.«
Er spielte nervös mit einem Zipfel der Decke. Als Sarah wieder zu ihm hinsah, glitzerten Tränen in ihren Augen. Doch auch noch etwas anderes schimmerte dort, etwas, das Mikael nicht verstand, das ihn aber an seine Empfindungen erinnerte, als sein Weabit – sein bester Freund – unter einem Erdrutsch begraben worden war. Damals hatte er sich tagelang wie ausgehöhlt und leer gefühlt.
»Bist du traurig, Mama?«
»Du bist ein böser Junge, Mikael. Frag mich nicht solche Sachen. Schlaf endlich.«
Er verkroch sich noch tiefer unter die Decken. In den letzten Wochen hatte er sich sehr bemüht, ein lieber Junge zu sein. Er hatte keinen Lärm gemacht, nur noch in seinem Zimmer gespielt und seine Sachen abends weggeräumt. Doch jetzt fühlte er sich, als würde ein schweres Gewicht auf ihm lasten. Verzweifelt suchte er nach irgend etwas, um seine Mutter aufzumuntern.
»Mama? Warum nimmst du mich nicht einfach mit, wenn du mit diesen Männern redest?. Nach dir werde ich der nächste Führer der Gamanten. Vielleicht hören sie uns zu, wenn wir beide zu ihnen gehen.«
»Die Anführer sprechen nicht mehr mit uns. Ich habe schon vor Wochen versucht, ein neues Treffen zu vereinbaren. Sie weigern sich.«
»Aber warum?«
»Weil sie glauben, ich bin verrückt!«
Er zuckte vor ihrem Ausbruch zurück und murmelte schüchtern: »Ich hab’ dich lieb, Mama.«
Ihr harter Blick wurde weich. Sie kam zu ihm, setzte sich aufs Bett und strich ihm über das Haar. »Es tut mir leid, Mikael. Ich bin gemein gewesen, nicht wahr?«
»Nein, Mama, du hast nur Sorgen.«
Sie zog ihn an sich. »Du bist mein bester Freund«, murmelte sie. »Wußtest du das? Du bist mein bester Freund, und ich bin so beschäftigt gewesen, daß ich fast vergessen hätte, daß es dich gibt.«
»Ich weiß, Mama. Aber jetzt wird ja alles wieder gut.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Mikael. Die ganze Welt um uns herum bricht zusammen, und ich habe niemand, den ich um Rat fragen könnte.«
»Was ist mit Gott?«
»Nein, ich kann nicht …«
»Weil der Schattenmann das Mea gestohlen hat?«
Sie zuckte zusammen. »Wer hat dir davon erzählt?«
»Shilby hat es mir gesagt. Er meinte, es wäre in der Nacht passiert, als Großvater getötet wurde.«
Sie blinzelte, und ihre Lippen zitterten. »Ja, das stimmt. Es tut mir leid, ich hätte diejenige sein müssen, die es dir sagt. Aber ich war zu beschäftigt.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Es gehörte dir, weißt du? Papa hat gesagt, man sollte es nach seinem Tod dir geben.«
»Damit ich mit Gott sprechen kann?«
»Ja.«
Mikael senkte den Blick. Als er zum ersten Mal davon erfahren hatte, war er sehr traurig gewesen. Traurig, und auch wütend.
»Mama, ich habe Shilby geschlagen, als er es mir erzählt hat.«
»Wirklich?«
Er nickte beschämt. Sich zu schlagen, zu kämpfen war in den Augen seiner Mutter das Schlimmste, was jemand tun konnte. Trotzdem hatte er Shilby geschlagen. Er wollte ihn verletzen, so wie dieser ihn durch die Nachricht verletzt hatte. Mikael erinnerte sich voller Schmerz an die vielen Male, als sein Großvater das Artefakt vor seinen Augen hatte pendeln lassen. Voller Ehrfurcht hatte er zugeschaut, wie das blaue Licht aus dem Globus herausströmte, und dabei deutlich gefühlt, wie Gott ihn rief. Gott wollte mit ihm sprechen, doch jetzt würde er nie mehr in der Lage sein, ihm zu antworten.
»Mama? Wer ist der Schattenmann?«
»Ich weiß nicht.«
»Vielleicht ist es Aktariel? Der Betrüger. Er kann in jeder beliebigen Gestalt erscheinen. Vielleicht will er alle Meas haben!«
»Ich glaube nicht, daß der Teufel …«
»Erinnerst du dich an Großvaters Geschichte über Indras Netz? Er sagte, in den alten Zeiten hätten die Meas den Himmel wie leuchtende Juwelen erfüllt und unsere Vorfahren hätten ihre eigenen Meas gehabt und damit den Juwelen im Netz folgen können, um auf diese Weise zu jedem beliebigen Ort im Universum zu gelangen?«
»Ja«, sagte sie und lächelte schwach, »ich erinnere mich an diese hübsche Geschichte.«
»Doch als die Magistraten kamen, haben sie alle Meas aus dem Netz eingesammelt und in ein tiefes Loch in Palaia geworfen.«
Sarah gähnte müde, während sie nickte. Mikael war klar, daß sie nur aus Höflichkeit zuhörte, doch andererseits war es schon so lange her, daß er sich überhaupt mit ihr hatte unterhalten können, daß er jetzt den Gedanken, sie könnte wieder gehen, nicht ertragen konnte. Deshalb redete er weiter.
»Nur bestimmte Meas führten zu Gott, erinnerst du dich, Mama? Großvater sagte, unsere Vorfahren hätten experimentieren müssen, um die richtigen herauszufinden.«
»Und es gab nur vierzig.«
Mikael nickte heftig.
»Aber was hat das jetzt mit uns zu tun?«
»Verstehst du denn nicht?« rief er aufgeregt. »Großvater hat gesagt, Aktariel würde die Magistraten beherrschen. Wenn das stimmt, dann besitzt er die Meas, die sich in dem Loch in Palaia befinden, aber …«
»Aber unseres hatte er nicht, meinst du?«
»Deshalb ist er gekommen und hat es gestohlen! Und wenn er die Meas zurück in den Himmel wirft, kann er wieder durch jede Tür im Netz gehen.«
»Ja, Mikael, ich verstehe.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und wickelte die Decken fester um ihn. »Jetzt mußt du aber schlafen, ja?«
»Aber Mama …«
»Es ist schon spät, mein Junge. Und ich muß auch ins Bett. Morgen habe ich eine Besprechung mit Colonel Silbersay in Capitol.«
»Wirst du ihn bitten, uns nichts zu tun?«
»Ja, das und noch ein paar andere Dinge.«
Er reckte sich, um ihr rasch über das Haar zu streichen. »Ich liebe dich, Mama.«
»Ich liebe dich auch, Mikael. Mehr als alles auf der Welt.«
Mikael drehte sich auf die Seite und schloß gehorsam die Augen. Wenig später hörte er, wie sie aufstand und auf Zehenspitzen zur Kerze schlich und sie löschte, bevor sie das Zimmer verließ. Mikael schlug die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. Er dachte an Indras Netz und die glitzernden Meas, die den Himmel wie winzige Sterne erfüllt hatten.
»Aktariel ist der Dieb, Mama«, flüsterte er. »Wenn er alle Meas besitzt, die zu Gott führen, kann er vielleicht alle Tore schließen. Dann kann er den Menschen erzählen, was er will, und niemand wird mehr in der Lage sein, Gott zu fragen, ob seine Geschichten wahr sind.«
Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn. Ängstlich schaute er zum Himmel empor. »Epagael? Was wirst du tun, wenn dich niemand mehr besuchen kommt? Wirst du einsam sein?«
In den vergangenen Wochen hatte er sich sehr einsam gefühlt und sich oft in den Schlaf geweint. Deshalb schmerzte ihn die Vorstellung, jemand anderem könnte es auch so gehen. Insbesondere Gott. Gott hatte schon genug andere Probleme. Er mußte sich um das ganze Universum kümmern. Er durfte dabei nicht auch noch einsam sein.
Mikael blinzelte in die schwarze Nacht. Sein Nacken kribbelte, und er schauderte. Rief Gott wieder? Rief er und rief – und niemand im Universum konnte ihm antworten?
Tränen traten ihm in die Augen. »Was wirst du tun, Gott? Ich fürchte mich.«