KAPITEL
33

 

 

»Sybil!« Avels rauhe Stimme drang in ihren Schlaf.

Sie stieß die Decken beiseite und fragte erschreckt: »Was ist?«

Er zog sie hoch und drückte ihr warme Kleidung in die Arme. »Zieh dich an. Rasch!«

Sie zog sich schnell Hosen und Pullover über und schlüpfte in ihre Schuhe. »Was ist los, Avel? Greifen wir den Mashiah an?«

»Stell jetzt keine Fragen, Sybil.«

Bevor sie ihren linken Schuh richtig zugebunden hatte, zog Avel sie schon aus dem Zimmer und stürmte mit ihr durch den Gang. Sybil folgte ihm ängstlich. Wenn es kein Angriff war, was beunruhigte Avel dann?

Je weiter sie gingen, desto fester umklammerte er ihre Hand, bis sie schließlich schmerzte. Sie versuchte vergebens, seinen Griff zu lockern.

»Avel, wohin gehen wir?«

»An einen sicheren Ort.«

Drei Mönche, die sich auf dem Weg zur Oberfläche befanden, kamen ihnen entgegen. Avel nickte ihnen im Vorbeigehen knapp zu.

Als sie wieder allein waren, schaute Sybil zu ihm auf und bemerkte die scharfen Linien, die sich um seinen Mund gebildet hatten. »Was ist los, Avel? War ich in den oberen Höhlen nicht in Sicherheit?«

»Nicht mehr. Die Dinge verlaufen anders, als wir gedacht hatten. Der Mashiah hat uns gezwungen, unsere Pläne zu ändern.«

»Ist mit meiner Mutter alles in Ordnung?« fragte sie voller Angst. »Hat der Mashiah ihr etwas getan? Sag es mir!«

»Pst!«

Sie verstummte. Avel zog sie um eine Ecke und ging so schnell, daß sie laufen mußte, um nicht zu stolpern. Der Gang, in dem sie sich jetzt befanden, schien sehr alt zu sein.

Dicker Staub bedeckte Wände und Boden, und Sybil mußte husten, als sie ganze Wolken aufwirbelten.

»Avel«, jammerte sie, »ist mit meiner Mutter …«

»Es geht ihr gut, Sybil.« Er schaute sich rasch um und flüsterte dann kaum hörbar: »Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich an einen Ort, den ich schon vor Jahren vorbereitet habe. Es gibt dort Nahrung und Wasser und sogar ein paar Bücher, die du lesen kannst. Dort wirst du in Sicherheit sein.«

Sybil erschauerte. Du, nicht WIR! »Aber du wirst doch auch dort sein, oder?«

»Eine Zeitlang nicht. Ich muß etwas sehr Gefährliches erledigen und kann nicht riskieren, daß dir dabei etwas passiert.«

»Aber ich will nicht allein bleiben, Avel. Laß mich nicht allein! Du hast gesagt, du würdest dich um mich kümmern, als wäre ich deine eigene Tochter!«

»Das tue ich auch, Sybil. Es wird nur für eine Weile nicht so aussehen.«

Sybil wollte ihm glauben, aber sie konnte nicht. Die Art, wie er sie durch die langen, gewundenen Korridore zerrte, machte ihr Angst. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter, doch sie unterdrückte tapfer die Tränen, die ihr in die Augen schießen wollten.

»Was hat der Mashiah denn getan?«

»Er hat seine Truppen heimlich zusammengezogen, und zwar in den Höhlen unter dem Palast.«

»Dann müßt ihr ihn früher angreifen, als ihr geplant hattet?«

Er blieb einen Moment am oberen Ende einer Treppe stehen, die aus dem Gestein herausgehauen worden war. Kalte Luft drang aus der Finsternis empor. »Ich weiß es nicht, Sybil. Vielleicht greifen wir auch gar nicht an. Ich muß erst einmal ein paar Dinge klären.«

»Aber wir müssen angreifen! Meine Mommy wartet darauf, daß ihr kommt und sie rettet. Sie kann den Palast des Mashiah nicht in die Luft jagen, solange …«

»Ich weiß, Sybil. Ich werde mich darum kümmern. Das verspreche ich dir.«

»Laß mich dir helfen! Ich habe zugeschaut, wie Mommy und Jeremiel Pläne entworfen haben. Ich kann helfen!«

Er setzte Sybil auf seine Hüfte und lief die Treppe hinab. Unten setzte er sie auf dem kalten Boden ab und drückte gegen einen scheinbar festen Felsen. Er wich zurück und gab einen engen Durchschlupf frei. »Schnell, Sybil. Kriech hinein.«

Sie zögerte ängstlich. »Ich … ich will nicht.«

Er packte sie und schob sie in die Dunkelheit. Dann legte er sich auf den Bauch und kroch hinterher. Sybil wich vor ihm zurück zu einer Wand, an der Kisten aufgestapelt waren. Die Höhle durchmaß lediglich zehn mal fünfzehn Fuß, und die Decke war nur vier Fuß hoch. Sie konnte hier aufrecht stehen, Avel hingegen nicht. War das hier ein sicherer Ort oder ein Gefängnis – so wie der Platz? Hatte sie etwas Schlimmes getan, um diese Strafe verdient zu haben? Oder ihre Mutter?

»Es tut mir leid, wenn ich dir Angst gemacht habe, Sybil. Aber ich habe nur einfach nicht die Zeit, dir alles zu erklären. Komm, ich zeige dir jetzt, wo die verschiedenen Sachen untergebracht sind.«

Er kroch in der Höhle herum und zeigte auf die einzelnen Kisten. »Hier ist Essen. Dort ist Wasser in Plastikflaschen. Und da sind die Kerzen.«

»Bücher. Du hast gesagt, hier wären auch Bücher«, sagte Sybil bei dem Versuch, Avel noch länger hierzuhalten. Obwohl sie ihn fürchtete, hatte sie noch mehr Angst davor, allein zu sein.

Er lächelte schwach und klopfte gegen eine der Kisten. »Sie sind hier drin.«

»Avel, warum kannst du mir nicht sagen, was passiert ist? Ich habe Angst, und wenn ich wüßte, was los ist, würde es mir besser gehen.«

Er schloß für einen Moment die Augen und preßte die Lippen zusammen, als wüßte er, daß sie recht hatte, wollte aber trotzdem nichts sagen. »Du darfst niemandem erzählen, was ich dir sage. Verstehst du? Niemandem.«

Sie nickte eifrig. »Ich kann gut Geheimnisse bewahren.«

»Das weiß ich, Sybil. Also gut. Es gibt hier jemanden, der den Krieg beenden will. Er …«

»Er will meine Mommy allein im Palast lassen? Der Mashiah wird sie töten!«

»Pst. Das würde ich nie zulassen. Aber ich muß auch noch an andere denken. Der Mashiah hält Geiseln gefangen, gute Menschen. Wir müssen doch auch versuchen, sie zu retten, nicht wahr?«

»Ja, aber …«

»Es wird nicht leicht sein, sie in Sicherheit zu bringen. Ich habe eine Menge zu tun und nicht viel Zeit.«

Sybils Kehle wurde eng. »Du meinst, du mußt jetzt gehen?«

»Ja, aber ich komme wieder. Hab keine Angst.«

»Hab ich nicht«, meinte sie tapfer. »Geh und hilf meiner Mommy, Avel.«

Er beugte sich vor, küßte sie auf die Stirn und umarmte sie kurz.

»Wann kommst du zurück?« fragte Sybil.

Er klopfte ihr sanft auf die Schulter. »Sobald ich kann. Vertrau mir, ja?«

»Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Er wandte sich ab, krabbelte zum Ausgang und warf ihr noch einen letzten Blick zu, bevor er hinauskroch.

Die Steintür schloß sich knirschend und wirbelte dabei roten Staub auf. Sybil hustete und starrte die flackernde Kerze an, die er zurückgelassen hatte. Nach ein paar Minuten ging ihr schweres Atmen in leises Weinen über und Tränen liefen ihr über das schmutzige Gesicht. Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab und schaute sich blinzelnd um. Sie zählte die an den Wänden aufgestapelten Kartons und kam zu dem Ergebnis, daß die Lebensmittel für mindestens ein halbes Jahr reichen mußten. Wollte er sie für Monate hierlassen?

Plötzliche Angst überfiel sie. Sie stürzte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen oder sich notfalls unter ihr durchzugraben, doch ihre Finger stießen nur auf harten Stein, der ihre Haut aufschürfte.

Sie ließ sich gegen die rauhe Wand sinken, senkte den Kopf und weinte.

 

Cole Tahn preßte eine Faust gegen die Lippen, während er zuhörte. Der Ratsherr war auf dem vorderen Monitor zu sehen. Seine elfenbeinfarbene Robe schimmerte im Licht der Kerzen.

»Ich habe ihn hier in meiner Gewalt, Captain. Wann sind die Magistraten zum Tauschhandel bereit?«

Tahn betrachtete ihn kalt. Die Sorgfalt, mit der Ornias sich herauszuputzen pflegte, war ihm zuwider. Während er nachdachte, ließ er seinen Blick über die Brücke schweifen. Sämtliche Offiziere standen dicht davor, in einen Begeisterungstaumel auszubrechen. Alle, außer Halloway. Sie saß steif am Navigationspult und betrachtete den horebianischen Politiker nachdenklich mit ihren harten, grünen Augen. Tahn wünschte sich, er könnte dem machthungrigen Ratsherrn empfehlen, einen Spaziergang zu machen, während er sich privat mit Halloway unterhielt. Worüber dachte sie nach? Seine eigenen Empfindungen kannte er – dieses ganze Gerede über »Tauschhandel« machte ihn krank.

»Wann wollen Sie Baruch ausliefern?«

»Sobald mir Direktor Slothen zugesichert hat, daß meine Forderungen erfüllt werden.«

»Und welche wären das?«

Ornias lächelte selbstgefällig. »Es gibt einen kleinen Planeten namens Grinlow in der Nähe von Palaia Station. Den will ich haben. Außerdem …«

»Seien Sie nicht so dreist. Es leben fünf Millionen Menschen auf Grinlow. Sie können den Planeten nicht haben.«

Ein Anflug von Zorn huschte über Ornias’ Gesicht. »Ich wußte nicht, daß Sie ein Vetorecht bezüglich der Entscheidungen der Magistraten haben, Captain. Sollen wir Slothen danach fragen?«

Tahns Augen wurden schmal. »Wir müssen Baruch sehen, bevor wir einen Handel abschließen. Ich will mit ihm reden.«

»Sicher, Captain. Sobald ich mich davon überzeugt habe, daß die Magistraten ihr Angebot ernst meinen.«

Halloway beugte sich zu Maceys Pult hinüber und schaltete den Ton ab. Dann meinte sie hinter vorgehaltener Hand: »Er mag die Ware haben, doch wir haben ihn. Vielleicht sollten wir ihn daran erinnern, daß magistratischer Zorn höchst unerfreuliche Auswirkungen haben kann?«

Tahn hob eine Braue. »Darauf wollte ich eben kommen, Lieutenant.«

»Ich dachte nur, ich sollte Sie besser daran erinnern.« Sie schaltete den Ton wieder ein.

»Ratsherr, die Magistraten haben Wichtigeres zu tun, als sich um Sie und Ihre Forderungen zu kümmern. Wir werden diese Dinge nicht weiter diskutieren, solange Sie mich nicht persönlich mit Baruch sprechen lassen, damit ich mich von Ihren ehrlichen Absichten überzeugen kann. Und …« er bedachte Ornias mit einem harten Blick, »eigentlich dürfte es nach den jüngsten Ereignissen auf Pitbon nicht nötig sein, aber vielleicht sollte ich Sie daran erinnern, daß die Regierung schnell und rücksichtslos handelt, wenn man versucht, sie hereinzulegen.«

Ornias wirkte indigniert. »Ich schätze Drohungen nicht besonders, Captain.«

»Ich auch nicht. Beeilen Sie sich, Ratsherr. Ich möchte nicht, daß Baruch länger warten muß, als unbedingt nötig. Er weiß, was vor ihm liegt.« Bevor Ornias antworten konnte, erhob Tahn sich und befahl: »Unterbrechen Sie die Verbindung, Macey.«

Der Bildschirm verdunkelte sich. Für einen Moment herrschte Schweigen auf der Brücke, dann brach eine Woge der Begeisterung herein. Alles sprang auf und fiel sich in die Arme. Tahn schaute dem Treiben zu und spürte dabei Halloways Blick auf sich ruhen, ignorierte sie jedoch. Sie hatten sehr lange Zeit hinter Baruch hergejagt und durch seine Tricks und sein taktisches Gespür viele gute Freunde verloren… Weshalb verspüre ich dann jetzt nichts als Traurigkeit – als hätte Baruch das, was ihn erwartet, nicht verdient?

Tahn schob die Hände tief in die Taschen seiner Hose und verließ die Brücke und das dort herrschende Triumphgeschrei.

 

Ornias schlenderte in Richtung von Adoms privatem Beratungsraum. Wie immer war er sorgfältig zurechtgemacht und hatte zudem sein hellbraunes Haar frisch gewaschen und mit Sandelholz parfümiert.

Als er um die Ecke bog, schweifte sein Blick zu den großen Panoramafenstern. Von den letzten Sonnenstrahlen dunkelrot gefärbte Wolken trieben langsam ostwärts. Es war ein herrlicher Abend, und Ornias haßte es, ihn an Adom verschwenden zu müssen, zumal er in jeder Minute mit einem Anruf Tahns rechnete – der sich hoffentlich entschuldigte und mit Gegenangeboten aufwartete. Oh, er mochte solche Spielchen. Andererseits hatte Adom ihn in den letzten Tagen ausgesprochen oft bedrängt. So sehr bedrängt, daß er einige der Boten eingesperrt hatte, damit Adom sie nicht nochmals ausschicken konnte.

Er fühlte sich jetzt schon praktisch unbesiegbar. Nicht mehr lange, und er würde den Handel mit den Magistraten abschließen und die öde Welt Horeb für immer verlassen – und zwar stilvoll.

Er tätschelte das Gesicht einer Heiligenstatue, bevor er an der Tür klopfte und rief: »Mashiah? Ich bin’s, Ornias.«

»Komm herein.«

Der schroffe Tonfall ärgerte Ornias. Was war nur in Adom gefahren? War das Eloels Einfluß? Die Frau war doch erst seit ein paar Tagen da. Hatte sie ihre weiblichen Schliche benutzt, um den armen unschuldigen Mashiah in ihrem Sinne zu beeinflussen? Ornias hatte befürchtet, daß so etwas geschehen könnte, doch andererseits war Eloel für seine Pläne von wesentlicher Bedeutung gewesen. Ein Werkzeug, das Baruchs verwundbare Stellen offenlegte. Davon abgesehen würde es kein Problem sein, den Einfluß, den sie möglicherweise gewonnen hatte, zu unterminieren. Immerhin hatte er schon wesentlich länger mit Adom zu tun als sie. Und während sie notwendigerweise nur herumexperimentieren konnte, war er ein Experte darin, Adom zu beeinflussen. Schließlich kannte er dessen sämtliche Schwachstellen.

Ornias öffnete die Tür und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Adom stand mit verschränkten Armen vor dem Kamin. Sein Kindergesicht trug einen verängstigten Ausdruck. Dicht neben ihm saß Rachel, ein Glas Cognac vor sich auf dem Tisch.

Ornias mußte lächeln. Wie schlau von Adom, so ein Arrangement zu treffen. Doch nein, das konnte kaum die Idee dieses arglosen Verrückten gewesen sein. Eloel mußte ihn dazu überredet haben. Für einen Moment spielte Ornias mit dem Gedanken, wie sie das eingefädelt haben mochte, verwarf diese Vorstellung jedoch sofort wieder. Adom war viel zu naiv, um zu wissen, was er tun sollte, falls sie ihm Avancen machte.

»Rachel, was für eine Freude, Sie hier zu sehen. Ich hatte schon gehört, daß Sie sich im Palast aufhalten. Ich hoffe, man hat Sie hier angemessen behandelt?«

Sie warf ihm einen derart haßerfüllten Blick zu, daß er beinahe laut aufgelacht hätte. Statt dessen ging er zum Tisch und nahm ihr gegenüber Platz. »Weshalb wolltest du mich sprechen, Adom?«

Der Mashiah schluckte schwer und blickte zu Boden. »Ornias, Rachel hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß du die Alten Gläubigen quälst.«

»Quälen?« Er kicherte und streifte Rachel mit einem Seitenblick. »Keineswegs.«

Adom blickte ihn forschend an. »Du … du hast das nicht getan?«

»Nein. Und davon abgesehen habe ich eine anstrengende Woche hinter mir. Wenn wir hier weiterhin vor Publikum über die politischen Verhältnisse diskutieren wollen, würde ich mir gern vorher einen ngoroischen Whiskey genehmigen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Schrank und holte die staubige, hundert Jahre alte Flasche heraus. Dann nahm er sich ein Glas und kehrte zum Tisch zurück.

Nachdem er wieder Platz genommen und sich eingeschenkt hatte, meinte er freundlich: »Nun, zurück zum Geschäft«, wobei er Adom mit seinem aufrichtigsten Blick bedachte. »Ich quäle niemanden. Du kennst mich lange genug, um das zu wissen. Wenn es ein Problem gibt, eliminiere ich es. Einen Konflikt unnötig lange hinzuziehen, wäre kontraproduktiv.«

Adom fuhr sich durchs Haar und leckte sich die Lippen, als hätte er Angst vor Ornias. »Was hast du getan, um die Rebellen zu unterwerfen? Rachel sagt, als ich das letzte Mal für längere Zeit mit Milcom …«

»Oh, ein paar Marines sind ohne mein Wissen zu weit gegangen. Du weißt ja, wie das ist. Man kann nicht jeden einzelnen die ganze Zeit überwachen. Aber ich versichere dir, daß diese Männer entsprechend bestraft worden sind.« Er nippte an seinem Whiskey und genoß den Geschmack in seiner Kehle.

»Du hast sie bestraft? Diejenigen, die die Rebellen getötet haben?«

»Natürlich, Adom. Ich verlange Gerechtigkeit. Ich würde nie …«

»Sie sind ein schmutziger Lügner!« rief Rachel und erhob sich halb aus ihrem Sitz. »Sie haben den Holocaust befohlen! Direkt nachdem Sie mit dem Samael über den Platz geflogen sind, haben die Marines das Feuer eröffnet!«

»Aber es geschah nicht, während ich dort war, oder?«

»Nein, aber …«

»Nun, da sehen Sie es. Nachdem ich fort war, haben die Männer die Sache in die eigene Hand genommen.« Er wandte sich mit einem betrübten Blick an Adom. »Mashiah, du weißt, wie sehr die Menschen jeden hassen, der sich Milcoms liebevoller Herrschaft widersetzt. Deine Anhänger verachten die Rebellen. Ich versuche die Gläubigen so gut ich kann zurückzuhalten, doch manchmal geraten die Dinge außer Kontrolle. So wie bei diesem betrüblichen Zwischenfall auf dem Platz.«

Adoms jungenhaftes Gesicht verzog sich. »Ja, die Menschen hassen die Rebellen. Das ist zwar furchtbar, aber es stimmt.«

»Adom«, murmelte Rachel, »er ist ein geschickter Lügner. Nicht ein Wort von dem, was er sagt, ist wahr!«

»Aber Rachel, Ornias hat Recht mit dem, was er über die Empfindungen der Menschen sagt. Ich habe selbst erlebt, wie sie nach der Zerstörung des Tempels deinen Tod verlangt haben.«

»Sei kein Narr, Adom! Ornias beherrscht die Marines mit eiserner Faust. Sie würden es nicht wagen, gegen seine Befehle zu handeln! Er hat die Massenmorde angeordnet!«

Ornias seufzte schwer und schüttelte den Kopf. Adoms Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Er wußte nicht genau, was er denken sollte. Aber so war das schon immer gewesen. Man mußte ihm alles erklären. Doch vielleicht war es jetzt an der Zeit, das Schicksal des Mashiah der neuen Verbündeten anzuvertrauen.

»Adom?« murmelte Ornias und spießte Rachel mit einem kalten Blick auf. »Hat Rachel dir auch erzählt, daß ihre Freunde, die Wüstenväter, einen Angriff auf uns planen? Sie wollen dich und alle deine Anhänger töten und die alte Religion wieder einsetzen. Hat sie erwähnt, daß sie eines ihrer Werkzeuge ist?«

»Was?« flüsterte Adom verwirrt und starrte Rachel an. Sie wurde blaß und erwiderte seinen Blick, ohne etwas zu sagen.

»O ja. Die Wüstenväter haben sie ausgesandt, um dich abzulenken, während sie ihre Streitkräfte sammelten.«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte sie. »Ich bin hergekommen, dich um Gnade für die Alten Gläubigen zu bitten. Von irgendwelchen Angriffsplänen weiß ich nichts. Ich würde dich niemals betrügen, Adom!« Sie machte eine Pause und schien sich zu einer schwierigen Entscheidung durchzuringen. Schließlich stand sie auf, ging zum Mashiah und legte eine Hand auf seinen Arm. »Bitte«, flüsterte sie eindringlich, »laß nicht zu, daß Ornias die Gefühle zerstört, die zwischen uns wachsen.«

Adoms blaue Augen weiteten sich, und sein Atem ging schneller. »Du … du empfindest etwas für mich?«

»Ja. Und Ornias versucht, uns auseinanderzubringen, gerade jetzt, wo wir einander näherkommen. Ich brauche dich, Adom.«

Er lächelte sie an. »Ich brauche dich auch, Rachel.«

Ornias runzelte die Stirn. Er hatte das unbehagliche Gefühl, ausmanövriert worden zu sein. »Wirklich, Adom, du mußt deine jugendliche Schwärmerei für diese Frau überwinden. Sie spielt deine Gefühle gegen dich selbst aus. Merkst du das nicht?«

Ein Ausdruck des Zorns huschte über Adoms Gesicht. »Das geht dich nichts an, Ornias. Wenn Rachel sagt, sie weiß nichts von irgendwelchen Kriegsplänen, dann weiß sie auch nichts davon. Ich vertraue ihr, und ich will nicht, daß …«

»In Ordnung«, sagte Ornias und warf lachend die Arme hoch. Es spielte ohnedies keine Rolle mehr. »Ich habe die polaren Räume für dich vorbereiten lassen, falls die Angreifer früher zuschlagen sollten, als wir erwarten. Soll ich die Diener anweisen, sie für zwei Personen herzurichten?« Er schenkte Rachel ein öliges Lächeln. Sie hatte das Nest gebaut, und jetzt würde er dafür sorgen, daß sie auch darin schlafen mußte.

Adom drückte ihre Hand, die noch immer auf seinem Arm lag. »Wirst du mit mir kommen? Wenn es an der Zeit ist?«

»Ich kann nicht …«, begann sie erschrocken, hielt dann aber inne. »Ja. Ja, Adom. Ich werde mitkommen.«

Ornias neigte den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. »Dann werde ich mich darum kümmern.«

»Was sind denn die polaren Räume?« fragte sie Adom.

»Sie sind Hunderte von Jahren alt. Niemand weiß genau, wer sie gebaut hat, doch sie bilden ein ausgeklügeltes Netzwerk unterirdischer Kammern. Wir vermuten, daß sie ursprünglich errichtet wurden, um die horebianischen Könige vor Angriffen aus der Luft zu schützen.«

Rachel nickte, und Ornias stellte mit Freude fest, daß ihre zu Fäusten geballten Hände heftig zitterten.

»Nun, wenn es sonst nichts gibt, Adom, es warten heute Abend noch eine Menge Verpflichtungen auf mich.« Er lehrte sein Glas und beugte sich erwartungsvoll vor.

Adom schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Ornias, ich habe sonst nichts mehr. Rachel, möchtest du den Ratsherrn noch etwas fragen?«

Ornias wandte sich Rachel zu. »Fragen Sie ruhig. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

Ihre Augen waren tränenfeucht, und eine beinahe hysterische Verzweiflung spiegelte sich darin. Ornias lächelte amüsiert. Hatte sie wirklich geglaubt, die Wahrheit könnte seiner Manipulation der Fakten standhalten? Diese dumme kleine Närrin. Sie wußte nichts über ihn oder seine Fähigkeiten.

»Nein«, flüsterte sie schließlich.

»Gut, dann mache ich mich wieder auf den Weg.« Er deutete eine Verbeugung an, wandte sich um und ging zufrieden zur Tür. Als er sie öffnete, warf er einen letzten Blick auf Adom, der in kindischer Freude die Frau ansah, die hier war, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Nun, ich habe dich gewarnt, du Dummkopf. Eigentlich wollte ich das hier erst geschehen lassen, wenn mir ein gesegneter Märtyrer den größten Nutzen bringt, doch vielleicht ist es so poetischer. Und wenn ihr erst in den polaren Räumen seid, kann ich die Nachricht von deinem Tod immer noch so lange zurückhalten, bis der für mich günstigste Zeitpunkt gekommen ist.

Ornias summte fröhlich auf dem Weg zu seinen Gemächern und einer weiteren Nacht mit Shassy. Es würde nicht mehr viele Nächte mit ihr geben, deshalb wollte er die verbleibenden so gut wie möglich nutzen.

 

Adom blickte Rachel glücklich an. Sie hatte gesagt, ihre Gefühle für ihn würden wachsen. Er hob eine Hand, um ihr sanft über das Haar zu streichen. »Rachel, würdest du … könnten wir heute Nacht zusammensein?« Schockiert über die eigene Dreistigkeit, fügte er hastig hinzu: »Wenn du möchtest. Ich würde es verstehen, wenn du nicht willst.«

»Ja …«

Bei ihrer Antwort stockte ihm der Atem. Furcht schimmerte in den dunklen Tiefen ihrer Augen. Instinktiv legte Adom den Arm um sie und zog sie an sich.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nicht weh tun.«

»Ich weiß, Adom. Es ist nur … mein Mann ist erst seit so kurzer Zeit tot, und ich … ich bin nicht sicher … ob ich schon …«

»Bist du denn sicher, daß du nah bei mir sein willst? Wir müssen das nicht tun.«

»Ja«, sagte sie. »Ich will.«

Er legte zögernd die Arme um ihre Hüften und spürte ihre Hände sanft auf seinem Rücken. Als er sie an sich zog, drückten ihre Brüste sanft gegen seine Brust und ließen seinen Herzschlag rasen.

Langsam löste er seinen Griff und führte sie zur Tür, hinaus in den Flur und zu seinem Schlafraum.