KAPITEL
17

 

 

Talo senkte den Kopf über das Shabbat-Mahl und betrachtete das harte Brot und den dünnen Haferschleim, während er seiner Nichte Myra lauschte, die die heiligen Gebete murmelte.

»Gesegnet seist du, o Ewiger, Herrscher des Universums, auf dessen Geheiß sich die Nacht herabsenkt, der in seiner Weisheit die Pforten des Himmels öffnet, der uns die Jahreszeiten schenkt und die Sterne am Firmament nach Seinem Willen wachen läßt. Er erschafft den Tag und die Nacht und läßt das Licht verlöschen…«

Graue Haarsträhnen fielen über Talos Augen. Er schaute sich in dem winzigen Zimmer um. Obwohl es nur ein ausgebranntes Gemäuer war, hatten sie alles getan, um sich hier wohnlich einzurichten. Sie hatten tagelang geschuftet, um die Asche und die verkohlten Balken des eingestürzten Dachs aus dem einzigen Raum zu schaffen, der noch zu reparieren war. Dann hatten sie sich Dachbalken gestohlen … Nein, unterbrach er sich, sie hatten die Balken nicht gestohlen. Sie hatten sie in den Überresten der nicht völlig verbrannten Häuser von Freunden gesammelt. Von toten Freunden. Von Menschen, die nicht gewollt hätten, daß sie alter Ehrvorstellungen wegen nachts gefroren hätten. Nachdem das Dach geflickt war, hatte Myra alte, verblaßte Heiligenbilder in einer unregelmäßigen Reihenfolge an die rußgeschwärzten, ehemals gelben Wänden gehängt. Sie war ein gutes Mädchen, auch wenn ihr das künstlerische Gespür seiner geliebten Darla abging, die jetzt seit vierzehn Jahren tot war. Und er hatte nicht das Recht, sich über das Arrangement der Bilder oder sonst etwas zu beklagen. Seit dem Holocaust auf dem Platz war er so recht zu nichts mehr nütze gewesen. Der Schmerz in seiner Schulter schien nicht aufhören zu wollen, und immer wieder versuchte er, mit dem fehlenden Arm nach irgendwelchen Gegenständen zu greifen, weil es ihm so vorkam, als könnte er den Arm noch immer warm und lebendig spüren. Myra hatte alles in ihrer Macht stehende getan, um diese Ruine in ein Heim zu verwandeln, und er empfand tiefe Dankbarkeit für ihre Mühe. Er warf ihr einen liebevollen Blick zu. Sie saß mit gesenktem Kopf am anderen Ende des Tisches und murmelte leise vor sich hin. Sie war in ein zerknittertes dunkelbraunes Gewand gekleidet, und das braune Haar hing ihr als strähnige Masse über die Schultern herab. Ihr hageres Gesicht zeigte einen gehetzten Ausdruck, und die Wangenknochen stachen wie bei einer Leiche hervor – doch so sehen wir alle, die wir überlebt haben, jetzt aus.

»… Mit unendlicher Barmherzigkeit hast du das Volk des Hauses Horeb geliebt. Und – oh! – entziehe uns nicht Deine Liebe. Gesegnet seist Du, der Ewige, der das gamantische Volk hegt und schützt.«

Talo schloß die Augen und antwortete inbrünstig: »Höre, o Horeb, den Ewigen und Gott, den Ewigen und Einzigen.«

Myra hielt einen Moment inne, und Talos leidenschaftliche Worte schienen in der von Kerzen erleuchteten Stille nachzuklingen. Als Myra fortfuhr, schien ihre Stimme gestärkt. »Habe acht, daß dein Herz nicht von falschen Bildern getäuscht wird und du dich abwendest und fremden Göttern dienst und dich vor ihnen in den Staub wirfst. Denn dann wird sich der Zorn des Ewigen gegen dich richten, und er wird die Himmel verschließen, auf daß kein Regen herabfalle, und du wirst zugrunde gehen auf dem gelobten Land, das der Ewige dir einst gegeben hat. Gesegnet seist du…«

Genau das war in den vergangenen drei Jahren geschehen, dachte Talo und nickte unwillkürlich. Die Gamanten hatten sich dem Mashiah und seinem fremden Gott Milcom zugewandt, und eine Dürre hatte das Land verwüstet. Epagael hatte sie in Seiner Weisheit für ihre Abirrung bestraft. Liebevoll gestraft, so wie ein Vater den Sohn straft, damit das Kind erkennt, welchen Weg es in seinem Irrtum eingeschlagen hat und wieder auf den Pfad der Wahrheit und Rechtschaffenheit zurückkehrt.

»Er ist es«, betete Myra mit einem Zittern in der Stimme, »der uns aus der Hand der Könige befreite: Er, unser König, der uns aus der Gewalt aller Tyrannen befreite.«

Diese Worte bezogen sich natürlich auf die Befreiung der Gamanten von der Herrschaft des bösen Edom Middoth, doch sie galten auch für jene, die sich in dieser schrecklichen Zeit Milcom zugewandt hatten. Viele betrachteten die Magistraten als Tyrannen, in deren Gewalt sich die Gamanten noch immer befanden. Und deshalb glaubten sie, Epagael hätte sie betrogen. Doch Talo wußte es besser. Die Worte wirbelten aus der Dunkelheit der Geschichte empor. Sie hatten nichts mit der Gegenwart zu tun. Von einem Punkt abgesehen. Die Ankunft des wahren Mashiah stand dicht bevor. Talo wußte es, konnte es in den Tiefen seiner gemarterten Seele fühlen. Und er würde sie für alle Ewigkeit befreien, wenn er sein tausendjähriges Königreich in der Galaxis errichtete.

»Gesegnet seist du, o Ewiger, der du dem gamantischen Volk den Frieden geschenkt hast.«

»Amayne«, flüsterte Talo inbrünstig und hörte, wie Myra das Wort leise wiederholte.

»Onkel? Reichst du mir bitte das Brot?«

Talo hob die hölzerne Schale mit dem harten Brot und gab sie ihr. Nach seinen Gedanken an die Ankunft des Erlösers schienen die Kerzen auf dem Tisch heller zu brennen und das kalte Haus wirkte wärmer. »Nichte, was hast du heute Neues gehört?« fragte er, nahm ein Brot und tauchte es in die Schüssel mit Haferschleim, damit es weicher würde.

Myra stieß verärgert die Luft aus. »Sholmo sagt, Mashiah hätte vor, uns wieder anzugreifen. Ich glaube es nicht, aber…«

»Wahrscheinlich stimmt es. Er wird keine Ruhe geben, bis wir alle tot sind. Wahre Gläubige sind eine Bedrohung für ihn.«

»Aber warum?« rief Myra und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wir sind nur noch eine Handvoll. Wie können wir da eine Bedrohung sein?«

Talo preßte die Lippen zusammen. Er wollte die geheimen Überlegungen nicht preisgeben, die er kürzlich angestellt hatte. Er hatte verschiedene Passagen im Micha miteinander verbunden und war sicher, daß er – endlich – die wahre Natur von Adom Kemar Tartarus herausgefunden hatte.

»Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden. Vielleicht können wir mit dem Handelsschiff, daß alle sechs Monate hier landet, eine Überfahrt machen. Wenn sie uns nach New Payestine mitnehmen, können wir…«

»Ich bin zu alt, um ein neues Leben zu beginnen. Zu alt, um mir auf einem weit entfernten Planeten den Lebensunterhalt zu verdienen. Davon abgesehen sind die Gamanten auf New Payestine allesamt Narren. Wie können sie im Herzen der magistratischen Macht leben? Das ist nicht gut.«

»Woher sollen wir das wissen? Vielleicht behandeln uns die Magistraten freundlicher als der Mashiah? Na? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Der Mashiah…«

»Unmöglich.«

»Woher willst du das wissen?«

»Du würdest es mir nicht glauben«, erwiderte er leise und betrachtete sie liebevoll. »Ich weiß, daß du nichts vom alten numerologischen System…«

»Oh, Onkel«, sagte sie zornig, »du hast doch nicht etwa wieder deine Zeit mit dem Addieren von Sätzen verschwendet, oder?«

»Das ist keine Verschwendung. Gott verbirgt die Dinge in den Schriften. Er …«

»Wenn er Dinge verbirgt, dann deshalb, weil wir sie nicht wissen sollen.«

»Nein. Er macht das, weil er nicht möchte, daß jeder zufällige Leser darauf stößt. Doch wenn du es ernst meinst und genug liest, wirst du erkennen, wie er die Abschnitte so angeordnet hat, daß jene die Botschaften entschlüsseln können, die es wissen müssen.«

Myra rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, und Talo senkte den Kopf und zog sich in sich selbst zurück, wo er sich sicher fühlte. Der Ausdruck auf Myras Gesicht zeigte deutlich ihren Zorn darüber, daß er wertvolle Zeit mit nutzlosen Dingen verschwendete.

»Hast du das Loch in der Wand ausgebessert?«

»Nein, ich … ich habe es vergessen«, verteidigte er sich schwach. »Ich werde es morgen fertig machen.«

»Ich habe dich schon vor einer Woche darum gebeten, Onkel. Du weißt, daß Mäuse durch das Loch hereinkommen, und ganz gleich, wo ich das Mehl verstecke, sie finden es doch.«

»Ich weiß. Ich hab’s vergessen. Morgen werde ich es richten.«

Myra schaute ihn zweifelnd an. Um ihrem vorwurfsvollen Blick zu entgehen, nahm er den Löffel und tauchte ihn in den Haferbrei. Er schmeckte wie Wasser. Die wenigen Wurzeln reichten nicht, um ihm Geschmack zu verleihen. »Es tut mir leid, Nichte.«

Sie nickte und schloß die Augen. »Nein, mir tut es leid. Ich bin den ganzen Tag durch die verbrannten Stadtteile gelaufen und habe versucht, etwas Eßbares einzutauschen, doch es gibt viel zu wenig. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wo ich sonst noch suchen könnte, wenn ich nicht ins Stadtzentrum gehen will, um dort etwas einzuhandeln.«

»Das darfst du nicht tun! Wenn dich dort jemand erkennt …«

»Was bleibt mir denn übrig? Die Gerüchte besagen, jene, die an Milcom glauben, hätten genug Brot und Milch – ihr Gott würde es aus der Luft herbeizaubern. Wenn ich einen Schleier trage und…«

»Ich will keine verdorbenen Speisen essen«, flüsterte Talo elend. Er beugte sich vor und erklärte: »Du wirst mir nicht glauben, aber ich sage es dir trotzdem. Epagael hat mir durch die Zahlen in den Sibyllinischen Orakeln enthüllt, daß Tartarus der von den Schriften vorhergesagte Antimashiah ist! Ich esse keine Speisen, die seine dämonischen Helfer auf magische Weise geschaffen haben. Wahrscheinlich würden wir sogar daran sterben!«

»Onkel…«

»Es stimmt. Und es ist mir gleich, ob du mir glaubst«, murmelte er, wandte den Kopf ab und starrte mit leerem Blick auf das Mauseloch in der Wand. Es war eine dunkle Öffnung, fast so groß wie eine Handfläche. Die Brust wurde ihm eng angesichts seiner Lüge. Natürlich war es ihm nicht gleich, ob sie ihm glaubte. Wie sollten sie Tartarus bekämpfen, wenn niemand seine wahre Natur kannte?

»Es tut mir leid, Onkel. Ich bin nur…« Ihr Kopf zuckte herum, als draußen Schritte erklangen. »Schnell! Blas die Kerzen aus.« Sie griff nach der einen, während er die andere löschte. Dann standen sie mit klopfendem Herzen da und warteten. War es ein Freund? Kam jemand, um sie am Shabbat-Abend zu besuchen?

Ein leises Klopfen ertönte an der Tür. »Myra, laß mich ein!«

»Sholmo? Ich komme.«

Talo hörte ihre Füße über den Boden huschen, und dann erhellte Mondlicht den Raum, als sie die Tür weit öffnete. Sholmo lehnte schwer atmend an der Wand. Sein dunkles Gesicht war von Angst gezeichnet, seine Augen weit aufgerissen. »Ich habe euch gewarnt«, rief er. »Verschwindet hier, schnell!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte er in die Dunkelheit davon, und Myra schloß die Tür. »Schnell! Schnapp dir das Brot und deinen Mantel. Wir müssen fliehen!«

Rauhe Stimmen drangen von draußen herein, und Talo erzitterte, als ein Schuß aufpeitschte. Dann traten Stiefel eine Tür auf der anderen Straßenseite ein. »Sie sind hier! Schwärmt aus! Fangt sie!«

»O Gott, o Gott! Bitte laß ihn davonkommen!« flüsterte Myra und stolperte gegen einen Stuhl, als sie in die Dunkelheit flüchtete. Sie lief in Richtung einer Tür, die einst zum Schlafzimmer geführt hatte, nun aber einen Fluchtweg zur hinter dem Haus gelegenen Straße bot, sofern sie es schafften, sich einen Weg durch die verbrannten Balken und Trümmer zu bahnen, die sich dort auftürmten. »Onkel, bleib nicht stehen. Sie sind hinter uns her!«

»Ich muß meine Bücher holen. Ich kann sie nicht zurücklassen.«

Krachend flog die Eingangstür auf. Wachen stürmten mit erhobenen Gewehren in den winzigen Raum. Im Licht ihrer Helmscheinwerfer sah Talo Myra in der Schlafzimmertür stehen, das Gesicht zu einer Maske des Schreckens verzerrt.

»Die Hände hoch!« befahl ein blonder Sergeant.

»Ich … wir wollen keinen Ärger«, klagte Talo leise und hob zitternd eine Hand über den Kopf. »Was wollen Sie von uns?«

Verzweifelt wünschte sich Talo, ein paar Worte zu hören, die ihm Zuversicht einflößen konnten. Vielleicht würden die Männer ja sagen, sie wären nur gekommen, um Lebensmittel zu konfiszieren oder um nach Platin oder Titan zu suchen, das sie vielleicht versteckt hatten. Der Mashiah hatte angeordnet, alle wertvollen Metalle zu beschlagnahmen. Vielleicht waren die Wachen auch nur gekommen, um routinemäßig die sanitären Anlagen zu überprüfen oder um nachzufragen, wem das Maultier draußen gehörte.

Doch das grausame Lächeln auf dem Gesicht des Sergeants verriet Talo, daß sich das Firmament öffnen und alles verschlingen würde, was ihm teuer war.

»Ihr schmutzigen Bauern«, sagte der Soldat verächtlich und schaute erst ihn und dann Myra angewidert an. »Jeder von euch darf ein Bündel auf dem Rücken tragen. Packt Essen ein, vielleicht auch etwas warme Kleidung. Mehr nicht.«

»Wohin bringen Sie uns?«

»In den Himmel«, meinte er spöttisch. »In den Himmel, damit ihr dort Epagaels Perlentore wieder aufbauen könnt.«

»Was soll das bedeuten?«

Als der graugekleidete Soldat nicht antwortete, blickte Talo zu seiner Nichte hinüber. Myra erwiderte seinen Blick aus angsterfüllten Augen, als hielte sie ihn für verrückt, überhaupt irgendwelche Fragen zu stellen. Plötzlich wurden seine Knie weich und er mußte sich auf den Tisch stützen. Vielleicht hatte er tatsächlich den Verstand verloren. Welcher neuerliche Schrecken erwartete sie? Welche Überraschung hatte der Mashiah sich diesmal für sie ausgedacht?

Draußen hörte er andere Wachen rufen: »Alle Epagael-Anbeter raus auf die Straße! Beeilung!« Drei kamen an seiner Tür vorbei und Talo sah, wie sie Freunde in die Dunkelheit trieben und mit ihren Knüppeln zuschlugen, wenn jemand Widerstand leistete oder hinfiel. Ihre Schläge trafen unterschiedslos jeden, bis sich die Schreie von Männern, Frauen und kleinen Kindern zu einer grauenvollen Symphonie des Elends vermischten.

Talo erschauderte, als sich die Augen des Sergeants verengten. Der Mann machte einen Schritt vorwärts und rief: »Ich sagte Beeilung!«

»Ja, ja, in Ordnung«, erwiderte Talo verwirrt. »Ein Bündel? Was soll ich nehmen?«

»Onkel?« Myra eilte mit niedergeschlagenen Augen an den Wachen vorbei zu ihm. »Laß mich dir helfen.«

»Niemand hilft irgendwem«, grollte der Sergeant. »Jeder kümmert sich um seine eigenen Sachen. Wenn dieser alte Mann nicht in der Lage ist, eine Auswahl zu treffen, lassen wir ihn eben zurück.«

Zurücklassen? überlegte Talo. Meinte der Soldat damit, er könnte daheim bleiben, wenn er nicht stark genug für die vor ihnen liegende Aufgabe war? Vielleicht sollte er sich der Gnade des Mannes ausliefern? Dann könnte er Tag und Nacht die alten Schriften studieren und die kryptischen Worte Gottes entschlüsseln. Ja, das wäre ein willkommenes Schicksal. Selbst wenn er dabei verhungern würde.

»Herr«, fragte er unterwürfig und drehte sich zur Seite, um den Armstumpf an seiner Schulter zu zeigen. »Ich tauge nicht mehr für harte Arbeit und wäre von keinerlei Nutzen für Sie. Lassen Sie mich bitte hierbleiben, wo ich…«

Der Soldat warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen, bis er sich den schmerzenden Bauch halten mußte. »Du bittest darum?«

Talo schaute Myra an. Sie stand wie angewurzelt da, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

»Er weiß nicht, was er sagt«, flehte sie händeringend. »Er ist so alt, daß er …«

»Halt den Mund!« sagte der Sergeant scharf und schlug ihr hart ins Gesicht. »Ich brauche kein dummes Bauernmädchen, das mir irgendwas erklärt!«

»Tun Sie ihr nichts!« rief Talo, stürmte instinktiv voran und drückte den Mann zur Seite.

Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, daß er einen Fehler gemacht hatte. Eine Schar graugekleideter Männer umzingelte ihn mit erhobenen Knüppeln und Gewehren.

»Nicht!« hörte er Myra verzweifelt aufkreischen, als der erste Schlag seine Schläfe traf. »Laßt ihn in Ruhe! Er kann arbeiten!«

Talo stürzte zu Boden, krümmte sich unter den Schlägen zusammen und spürte, wie ihm Blut über das Gesicht und aus dem Mund lief. Ein Mann schlug mehrmals auf seinen Hinterkopf ein. Unerträglicher Schmerz durchraste ihn. Hatte der Sergeant das gemeint? Bedeutete »zurücklassen« ihn zu töten?

 

Myra hatte die Arme schützend um den Leib gelegt und schaute angsterfüllt die Straße entlang. Die Soldaten hatten ihren Onkel aus dem Haus gezerrt und mitten in die Menschenmenge geworfen. Er lag jetzt ausgestreckt zu ihren Füßen, und das Blut lief ihm noch immer über Kopf und Rücken. Die Wunde an seinem abgeschossenen Arm hatte sich wieder geöffnet und verströmte kleine Rinnsale auf die Erde.

Im silbernen Mondlicht blickte Myra zu den Menschen hinüber, die zwischen ihren Habseligkeiten mitten auf der Straße hockten. Kinder irrten weinend durch die Menge und riefen die Namen von Eltern, die ihnen nicht mehr antworten konnten. Ein paar Leute versuchten sie zu beruhigen, scherzten mit ihnen oder versprachen, sie würden ihre Eltern schon wiederfinden, wenn sie erst am Zielort angekommen wären. Die meisten Erwachsenen hatten sich zu Gruppen zusammengefunden. Aus manchen Gepäckstücken ragten Kerzen heraus, in anderen schimmerten goldene Becher. Viele hatten schützend ihre Gebetbücher an die Brust gepreßt. Hatten sie alle den Verstand verloren? Die Wachen führten diese Leute in den Tod, und sie klammerten sich an ihren Schmuck? Wut stieg in Myra auf. War denn aller Sinn aus dem Universum verschwunden?

Sie hob das Kinn und schaute flehend zu den Sternen empor, die rings um den zunehmenden Mond funkelten. Kalter Wind strich die Straße entlang.

»Epagael, wo bist du?«