KAPITEL
41
Cole Tahn saß steif aufgerichtet in seinem Kommandosessel und schaute zu, wie die blaugrüne Kugel Kayans auf den Frontschirm anschwoll. Wolken wirbelten über die Oberfläche.
»Wie lange noch, bis wir den Orbit erreichen?«
Halloway drückte einen Knopf auf ihrer Konsole und machte dabei ein Gesicht, als hätte ihr jemand in den Magen getreten. »Dreißig Sekunden.«
»Macey, irgendwelche Nachrichten von Silbersay?«
»Nein, Sir. Aber wir haben eine von Bogomil.«
»Wie lautet sie?«
»Er meldet: Evakuierung beendet. Neuer Führer der gamantischen Zivilisation ebenfalls bei uns. Überstellen ihn, sobald Ihre Mission beendet ist. Hoffe, Sie haben Spielsachen an Bord.«
Tahn runzelte irritiert die Stirn. »Was zum Teufel meint er damit?«
»Unbekannt, Captain.«
Halloway schwang auf ihrem Sitz herum und blickte ihn herausfordernd an. »Orbit.«
Er hielt ihrem Blick stand, fühlte sich jedoch innerlich leer und ausgehöhlt. Was erwartete sie von ihm? Er konnte sich einem direkten Befehl der Magistraten nicht widersetzen. Selbst wenn er dazu bereit wäre – das wäre Selbstmord. Jeder Offizier auf der Brücke blickte ihn abwartend an. Es kam ihm so vor, als würde ihn sein eigenes Gewissen durch ihre Augen hindurch anschauen.
»Wie oft haben wir dieses Manöver im letzten Jahr durchgeführt, Captain?« fragte Halloway provozierend. »Dreimal? Oder sollen wir diese halbherzige Maßnahme auf Nuja mitzählen und eine Vier daraus machen?«
Er warf ihr einen Blick zu. Glaubte sie, ihm gefiele das? Dachte sie, er würde die Schreie der Milliarden genießen, die seine Alpträume erfüllten?
Er rieb sich die Stirn. »Hauptangriffs-Manöver einleiten. Anschließend funken Sie Talworth an und teilen ihm mit, wann wir voraussichtlich zurückkehren.«
Die Offiziere beugten sich über ihre Pulte, prüften nochmals alle Statusanzeigen und Schaltungen. Nur Halloway rührte sich nicht.
In ihren grünen Augen stand das Wort ›Meuterei‹ geschrieben. Tahn konnte ihre Haltung verstehen, wenn auch nicht billigen.
»Ich schlage vor, Sie berechnen die Kursabweichungen, die durch den Energieausstoß zu erwarten sind, Lieutenant«, sagte er förmlich.
»Aye, Sir.« Sie stieß die Worte verächtlich hervor und beugte sich über ihre Konsole.
Wenige Sekunden später brachen gleißende Strahlen aus dem Schiff hervor und zerstörten die üppigen Wälder nach einem genau berechneten Muster.
Ein Nebel aus Rauch und Staub wirbelte empor und verdunkelte die Atmosphäre.
Jeremiel betrachtete schweigend die Schlachtszenen, die über den Monitor huschten. Ein Trupp Mönche erstürmte einen Hügel, der von Ornias’ Truppen gehalten wurde. Ein Netz aus tödlichen violetten Strahlen leuchtete kurz auf. Dann sah er Mann um Mann fallen. Ihre Leichen rollten den Hang zum Fuß des Hügels hinab.
»O Gott, was geschieht dort?« Er drückte auf einen Knopf, der die aktuelle Verlustliste auf den Schirm brachte. Ungläubig blinzelnd betrachtete er die Zahlen. »Zweiundzwanzigtausend?«
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und starrte das Whiskeyglas an, das vor ihm stand. Jeremiel packte das Glas und ließ sich zurücksinken. Vielleicht hätte er nicht in den Palast gehen sollen, um Rachel zu unterstützen. Vielleicht hätte er statt dessen die Wüstenväter ausbilden sollen. »Nichts als grüne Jungs«, murmelte er in bitterer Verzweiflung. »Harper hat getan, was er konnte, aber …«
Er schwenkte den Whiskey im Glas und nahm einen tiefen Zug. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und trieb ihm die Tränen in die Augen.
Müde ließ er den Kopf auf die Lehne sinken und starrte zur Decke empor. Irgendwo in seinem Innern hörte er die schwer atmende Stimme seines Vaters: »Mein Sohn, wenn du dich dafür entscheidest, nicht mehr den Gamanten angehören zu wollen, kann ich das gut verstehen. Es ist kein leichtes Leben, und wir geraten ständig in Schwierigkeiten. Versprich mir, daß du dieses Gespräch niemals vergessen wirst. Wenn ich tot bin, sollst du dich daran erinnern, daß ich dir erlaubt habe, das Leben zu führen, für das du dich entscheidest.«
Jeremiel hob sein Glas und leerte es. »Ich bin immer noch ein Gamant, Papa. Aber noch nie war mein Wunsch so stark, aus diesem Leben auszubrechen. Wir sind in schlimmeren Schwierigkeiten als je zuvor.«
Er erhob sich und ging nachdenklich auf und ab. Sein Verstand schien zu erschöpft, um einen Plan zu entwickeln, wie die drohende Niederlage sich noch abwenden ließe.
Selbst wenn es Harper gelang, Ornias zu töten, bezweifelte er, daß die Anhänger des Mashiah den Kampf einstellen würden. Rachel. Offensichtlich hatte er von Anfang an Recht gehabt. Sie zum Angelpunkt des Plans zu machen war ein tödlicher Fehler gewesen – ein Fehler, für den schon zweiundzwanzigtausend Menschen hatten bezahlen müssen.
»So viele Fehler, Baruch. Oh, Syene … ich bin froh, daß du mich jetzt nicht sehen kannst.«
Der Kommunikator an seinem Gürtel summte. Er zog das Gerät heraus und schaltete es ein. »Hier Baruch.«
»Jeremiel«, meldete sich Rathanials Stimme. Jeremiels Schultermuskeln versteiften sich. »Wir haben einen Kom-Spruch von Tahn aufgefangen. Er wird sich in knapp drei Stunden auf den Rückweg machen. Ich glaube, wir sollten jetzt besser Operation ›Köder‹ starten.«
Jeremiel dachte kurz nach. Es gefiel ihm nicht, sich auf einen Verräter verlassen zu müssen, doch Rathanials Verbindung zu Ornias mochte das einzige As sein, das ihm noch geblieben war. »Bist du bereit?«
»Ja, ich werde tun, was immer du sagst. Zumindest, bis wir im Palast sind und ich versuchen kann, Shassy zu befreien.«
»Wir haben bereits geklärt, daß du mich nur hineinbringen mußt. Danach kannst du tun, was du willst. Hast du Daten über Kayans aktuellen Zustand?«
Rathanial zögerte einen Moment. »Tahn hat den Planeten abgefackelt. Alle Ansiedlungen sind zerstört worden.«
Obwohl Jeremiel dies bereits erwartet hatte, traf ihn die Nachricht wie ein Schlag. Arme Sarah. Sie war nie für die Führerschaft vorgesehen gewesen. Und Tahns kalte Effizienz ließ keinen Raum für humanitäre Erwägungen. Der Mann zögerte niemals, sofern ein Befehl erst einmal erteilt worden war. Das bedeutete, daß Horeb jetzt eine neue Gefahr drohte. Wenn er nicht schleunigst entsprechende Maßnahmen ergriff, würde der Zorn der Magistraten auch über diesen Planeten hereinbrechen. »Haben wir irgendwelche Botschaften zwischen Tahn und Slothen aufgefangen?«
»Nein.«
Also wissen wir nicht, ob er Horeb ebenfalls abfackeln soll oder nicht. »Es bleiben uns demnach etwa fünfzig Stunden, um die Dinge hier ins Lot zu bringen. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß Tahn zurückkehrt, um weitere diplomatische Verhandlungen zu führen, werde ich mich in den nächsten Stunden um unsere Angriffe auf Ornias Stellungen kümmern. Vielleicht gewinnen wir ja diesen Krieg, bevor Tahn in Reichweite ist.«
»Und wenn nicht?«
»Dann mache ich mich für Operation ›Köder‹ bereit.«
»Jeremiel … ich weiß, wir hatten Probleme miteinander, doch ich hoffe, es wird nicht nötig sein …«
»Baruch Ende«, sagte Jeremiel knapp und hängte das Gerät wieder an seinen Gürtel. Falls Tahn mit dem Befehl herkam, Horeb zu zerstören, könnte lediglich ein Handel die Vernichtung des Planeten verhindern.
Er schenkte sich ein weiteres Glas Whiskey ein.
Kayans Sonne drang nur schwach durch die Staubwolken, die den Planeten einhüllten. Jetzt, wo sie die Operation beinahe beendet hatten, färbte die Atmosphäre sich immer dunkler. Tahn betrachtete das Schauspiel mit morbider Faszination.
»Captain?« meldete sich Macey. »Eine Nachricht von Bogomil.«
»Auf den Schirm.«
»Aye, Sir.«
Bogomils Gesicht erschien auf dem Frontschirm. »Wie laufen die Dinge, Cole?« Der Offizier zwang sich zu einem Lächeln.
»Ganz wundervoll, Brent«, knurrte Tahn.
»Es … es tut mir leid. Ich weiß, Sie hassen solche Aktionen. Ich wollte mich nur vergewissern, ob es in Ordnung ist, wenn wir den neuen Führer der Gamanten auf Ihr Schiff bringen. Es gefällt ihm hier nicht, und er will auch nichts essen. Vermutlich ist unser Schiff zu eng und überfüllt für einen Siebenjährigen. Er …«
»Sieben?«
»Ja, er heißt Mikael Calas. Offenbar ist er Zadoks Enkel. Ein hartnäckiger kleiner Halunke. Beruft sich ständig auf den Vertrag von Lysomia und besteht auf seinem Recht, eine Audienz bei Slothen zu bekommen.«
»Das ist auch sein Recht – ungeachtet seines Alters. In Ordnung, Brent, schicken Sie ihn zu uns. Wir werden uns um ihn kümmern.«
»Er ist schon unterwegs. Ach, noch etwas, Cole … danke, daß Sie so schnell gekommen sind. Sehr wahrscheinlich haben Sie damit mehr als tausend meiner Männer das Leben gerettet.«
»Nichts zu danken, Brent. Wir haben nur unsere Pflicht getan.«
»Trotzdem danke. Zuverlässigkeit gehört zu den traditionellen Tugenden, die in der Flotte langsam aussterben. Ich bin wirklich froh, daß es auf der Hoyer noch anders ist. Wenn Sie mich jemals brauchen, dann rufen Sie einfach – ich werde kommen.«
»Ich weiß das zu schätzen.« Tahn zögerte. »Wie geht es Garold?«
»Ist im Lazarett. Völliger Zusammenbruch. Er wird aber wieder, sobald wir ihn zur Korrektur ins nächstgelegene neurophysiologische Zentrum gebracht haben.«
Tahns Eingeweide verkrampften sich. »Sicher. Klar. Senden Sie ihm Grüße von mir. Und sagen Sie ihm, ich wüßte, wie er sich fühlt.«
Bogomil runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob das die richtige Art von Aufmunterung ist. Er …«
»Sagen Sie es ihm einfach, verdammt!«
Bogomil schaute ihn mißbilligend an, nickte aber. »Werde ich machen.«
Der Schirm erlosch.
»Sir?« meldete sich Macey zögernd.
»Was ist?«
»Während Sie mit Bogomil gesprochen haben, ist eine Nachricht von Talworth eingetroffen.«
»Und?«
»Auf Horeb ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen.«
Tahn schlug mit der geballten Faust auf die Armlehne seines Sitzes.
Halloway stand von ihrem Pult auf, streckte sich wie eine Katze und ging dann zum Aufzug hinüber. Als sie an Tahns Platz vorbeikam, hielt sie an und sagte: »Ich gehe jetzt, um Mikael Calas zu empfangen. Warum kommen Sie nicht mit? Ich glaube, das wäre nur angemessen, wenn man bedenkt, was Sie gerade seinem Planeten angetan haben.«
Tahn erhob sich und folgte ihr in den Aufzug. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, befahl er: »Deck neunzehn.«
»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Halloway.
»Nein.«
»Zu schade. Ich hatte gehofft, wenn Sie erst von der Brücke …«
»Und was sollte dieser rebellische Blick, den Sie mir vorhin zugeworfen haben? Ich könnte Sie dafür vors Kriegsgerichtbringen!«
»Ich wußte nicht, daß dafür jetzt schon ›Blicke‹ ausreichen.«
»Vielleicht leite ich damit einen neuen Trend ein«, meinte er.
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Manchmal konnte man Sie fast für menschlich halten. Normalerweise natürlich nicht, aber …«
»Gut.«
Als sich die Tür auf dem neunzehnten Deck öffnete, ließ er sie vorgehen und genoß den Anblick ihrer Bewegungen.
»Was werden Sie tun, wenn die Magistraten befehlen, auch Horeb abzufackeln?« erkundigte sie sich.
»Dann werde ich Horeb abfackeln.«
»Keine Diskussion? Kein Versuch, sie umzustimmen?«
»Ich bin Offizier der magistratischen Flotte, Lieutenant. Ich stelle Befehle nicht in Frage.«
Sie nickte knapp. »Ich verstehe.«
Als sie den Transporterraum betraten, wandte sich ein kleiner Junge mit dunklem Haar zu ihnen um. Sein Gesicht blickte ängstlich, und in seinem weiten braunen Gewand wirkte er erschreckend mager.
Tahn ging vor dem Jungen in die Knie. »Ich bin Captain Tahn«, sagte er leise und sah, wie die Augen des Jungen sich weiteten. Hatte er selbst genauso verängstigt ausgesehen, als Moreno ihn fand? »Du brauchst keine Angst zu haben. Hier wird dir niemand etwas tun, dafür werde ich sorgen.«
Der Mund des Jungen zitterte. »Bringen Sie mich zu Magistrat Slothen? Ich muß mit ihm reden.«
»Ich bringe dich zu ihm. Mach dir keine Sorgen.«
Der Blick des Jungen glitt über Tahns Gesicht, als suche er dort nach Hinweisen auf eine Lüge.
Schließlich streckte der Junge seine Hand aus und legte sie auf Tahns Schulter. »Danke, Sir. Kann … kann ich jetzt bitte irgendwo schlafen?«
»Natürlich.« Tahn nickte. »Ich bringe dich zu unseren Gästequartieren auf Deck sieben. Aber möchtest du nicht vorher etwas essen? Oder dich mit mir unterhalten? Ich würde mich freuen, wenn …«
»Nein, danke, Sir. Wenn ich schlafe, gehen die schlechten Zeiten schneller vorbei.«
Tahn senkte den Kopf. Der Junge war durch die Hölle gegangen. Kein Wunder, daß er jetzt so viel wie möglich schlafen wollte.
Er erhob sich. »Dann komm. Ich bringe dich zu deiner Unterkunft.« Er setzte sich in Bewegung und hörte die kleinen Schritte, die ihm folgten. Dann schob sich eine winzige Hand in die seine und die Finger des Jungen schlossen sich fest um seinen Daumen. Ein lange verschütteter Teil seines Ichs erwachte plötzlich zum Leben und erfüllte ihn mit dem Wunsch, diesen Jungen vor weiteren traumatischen Erfahrungen zu schützen.
»Captain, überlassen Sie mir …«, begann Halloway.
»Ich kümmere mich um unseren Gast, Lieutenant. Bitte begeben Sie sich zur Brücke und nehmen Sie Kurs auf Horeb. Und unterrichten Sie die Magistraten von unserem Einsatz. Ich bin in meinem Quartier, falls ein ernstes Problem auftauchen sollte.«
Sie machte sich zögernd auf den Rückweg und fragte dann plötzlich: »Werden Sie damit fertig?«
»Ich verfüge über eine Menge ungeahnter Talente, Carey. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Aye, Sir.« Sie verschwand in Richtung Brücke.
Tahn drückte Mikaels Hand und führte ihn den Gang entlang. Er mußte daran denken, daß Bogomil gesagt hatte, der Junge hätte nichts gegessen.
»Mikael, ich muß vorher noch in meine Kabine. Bist du schon mal im Innern eines Kapitänsquartiers gewesen?«
»Nein, Sir.«
»Würdest du es dir gern einmal ansehen? Ich habe ein paar lustige Sachen dort. Spiele und eine galaktische Briefmarkensammlung. Sogar ein paar …«
»Möchten Sie, daß ich mitkomme?«
Tahn schaute in die schmerzerfüllten braunen Augen. »Ja, das möchte ich. Vielleicht können wir uns ja ein paar Brote oder Suppe kommen lassen, während wir uns die Sachen anschauen.«
»Ich bin nicht sehr hungrig. Mein Magen schmerzt immer, wenn ich etwas esse.«
Tahn nickte verständnisvoll. Mehrere Crewmitglieder begegneten ihnen und salutierten. Tahn grüßte nachlässig zurück. »Mir geht es in letzter Zeit ganz ähnlich. Vielleicht können wir …«
»Haben Ihnen die Magistraten auch weh getan?« Mikaels Gesicht verdüsterte sich und er blickte zu Boden. »Oh, tut mir leid. Sie arbeiten ja für sie.«
»Nun, ich arbeite vielleicht für sie, aber sie tun mir auch manchmal weh.«
»Wirklich? Mögen Sie die Magistraten denn nicht?«
Tahn zuckte bei der Frage zusammen. Er hatte plötzlich Slothens blaues Haar vor Augen, das sich zuckend wand, wenn der Alien nachdachte. »Nein, das kann man wirklich nicht behaupten.«
»Warum arbeiten Sie dann für sie?«
Sie erreichten den Aufzug. Tahn führte Mikael hinein und lehnte sich gegen die weiße Wand. Mußte wirklich erst ein Kind kommen, um zur Kernfrage vorzustoßen? »Da bin ich mir auch nicht mehr so sicher. Früher habe ich es mal gewußt, doch in letzter Zeit hat sich vieles verändert.«
Der Junge drückte Tahns Hand. »Manchmal geschieht so etwas.«
Tahn lächelte schwach. »Da hast du wohl recht.«