KAPITEL
15

 

 

Echos unbekannter Stimmen umgaben Zadok, als er sich in den grauen Dunst am Ende des Tunnels schleppte. Der süße Duft von frischem Frühlingsgras trieb mit der schwachen Brise heran, die sein faltiges Gesicht streichelte.

»Zadok?« rief die majestätische Stimme Sedriels. »Hör auf, herumzutrödeln. Die Dinge in deinem Universum verschlimmern sich von Sekunde zu Sekunde.«

»Ich weiß. Ich spüre es in meinem Herzen«, erwiderte er und raffte den braunen Stoff über der Brust zusammen. In der letzten Stunde hatte er einen Schrecken empfunden, der sich zu einem unbeschreiblichen Crescendo steigerte. Was läuft falsch? Ist etwas mit Yosef? Habe ich ihn nicht ausreichend auf diesen Wahnsinn vorbereitet? Mein Fehler… mein Fehler.

Er holte tief Luft und trat aus dem Tunnel auf eine mit Wildblumen übersäte Wiese hinaus. Ein Schwarm von Fliegen glitzerte über dem riesigen, messerscharfen Bogen, der das erste Tor zu den sieben Himmeln Gottes bildete. Sedriel lehnte mit verschränkten Armen träge an dem Bogen. Seine strahlend weißen Flügel bewegten sich leicht, um die Fliegen auf Abstand zu halten. Die kristallenen Gesichtszüge leuchteten im warmen Sonnenlicht.

»Das wurde auch Zeit. Ich warte schon seit Tagen auf dich.«

Panik stieg in Zadok auf. Die Zeit schien innerhalb des Tunnels stets zu schwanken. Er erinnerte sich daran, daß er einmal eine ganze Woche mit Epagael gesprochen hatte und dann noch vor seiner Abreise wieder auf Kayan eingetroffen war. »Habe ich so lange gebraucht, um herzukommen?«

»Du wirst träge auf deine alten Tage.«

»Leg dich nicht mit mir an, Sedriel. Ich bin in Eile.«

»Ich werfe dir ja nichts vor. Aber ich bezweifle, daß du irgend etwas tun kannst, um den Wirbelsturm aufzuhalten, den Aktariel entfacht hat. Er ist diesmal sehr klug zu Werke gegangen.«

Zadoks Unruhe verstärkte sich. »Was soll das heißen? Was hat dieser verderbte Engel getan?«

Sedriel lächelte und strich die Ärmel seiner goldschimmernden Robe glatt. »Oh, er hat sich die richtigen Betrüger ausgesucht. Tölpel, die nicht einmal über die eigene Nasenspitze hinausschauen können.«

»Erzählst du mir jetzt, was er getan hat? Oder muß ich Epagael danach fragen?«

»Nicht so hastig, Zadok.« Er neigte den strahlenden Kopf und lachte leise. »Wir haben alle Zeit der Welt.«

»Geh mir aus dem Weg!« Zadok schleppte sich vorwärts und versuchte, durch das Tor zu gelangen, bevor der Hüter ihn aufhalten konnte.

Sedriel streckte rasch einen kristallenen Arm aus und versperrte ihm den Weg. »Nicht so schnell, Patriarch. Erst mußt du ein paar Fragen beantworten.«

»Was? Ich dachte, wir hätten das schon vor Jahren erledigt. Schließlich habe ich oft genug nachgewiesen, daß ich in den Geheimnissen der gamantischen Zaddiks wohlbewandert bin. Warum …«

»Weil mir soeben Zweifel gekommen sind, ob du wirklich würdig bist, den Schleier zu schauen.«

Zadoks Mund klappte auf. »Zum Teufel mit dir, du arrogante Bestie! Du treibst hier deine Spielchen, während das Überleben der Gamanten am seidenen Faden hängt? Hast du den Verstand verloren? Ich bin hier schon einhundertvierzig Mal …«

»Einhundertzweiundvierzig.«

»Was für eine Frage könntest du denn noch stellen, die ich nicht schon längst beantwortet hätte?«

Sedriel schüttelte das goldene Haar aus der Stirn und lächelte verschmitzt. »Mal sehen. Habe ich dich je nach Avrams Flucht aus Ur gefragt?«

»Ja! Nach seiner Flucht und nach dem Turmbau zu Babel. Beides wird im alten Buch des Pseudo-Philo beschrieben. Was hat das mit meinem Weg zum Schleier zu tun?«

Sedriel lächelte listig. Hinter ihm flogen einige pausbäckige Cherubim durch den blaßblauen Himmel und spielten Haschen. »Oh, eine ganze Menge, Zadok. Ja, wirklich eine ganze Menge. Kennst du die Bedeutung dieses alten Wortes?«

»Was für ein Wort?«

»Ur.«

Zadok durchwühlte seine Erinnerungen. »Nein … ich …«

»Du dummer alter Narr. Ist dein Gedächtnis schon so schlecht geworden?«

Zorn beflügelte Zadok, und die Übersetzung glitt wie von selbst über seine Lippen. »Feuer! Ich erinnere mich, es bedeutet …«

»Sehr gut. Avram war der Vater des Volkes. Und wer war die Mutter?«

»Rachel. Sie…«

»Avram ist dem Feuerofen entkommen. Glaubst du, sie schafft das auch?«

»Wovon redest du eigentlich?« fragte Zadok wütend. »Du treibst schon wieder deine Spielchen mit mir! Wenn Aktariel das Volk betrügt, muß ich zum Schleier gelangen, um herauszufinden, wie wir uns retten können! Laß mich jetzt durch das Tor gehen.« Er ruderte zornig mit den Armen.

Sedriel schwebte empor und bewegte die Eiderdaunenflügel so heftig, daß Zadok von dem entstehenden Wind mehrere Schritte zurückgetrieben wurde. Er schützte das Gesicht mit den Händen.

»Sei froh, daß mich deine Ausbrüche erheitern, Zadok, sonst würde ich dich vielleicht vor der Zeit ins Nichts zurückstoßen.«

Zadok senkte die Arme. Welches hintergründige Vergnügen empfand der Engel? Es ärgerte ihn, daß er die verborgene Bedeutung nicht enträtseln konnte – und bei Sedriels Äußerungen war der Sinn stets verborgen. »Herr«, rief Zadok besorgt, »wenn ich eine weitere Frage beantworten muß als Beweis, daß ich es wert bin, das Tor zu durchschreiten, dann stell sie mir bitte schnell.«

Sedriel gähnte und betrachtete angelegentlich die blauen und gelben Wildblumen, die auf der Wiese wuchsen. »Das möchte ich eigentlich nicht. Je länger ich dich hier aufhalte, desto interessanter werden die Verwicklungen in Aktariels Plan. Und um so besser werde ich unterhalten.«

»Frag endlich!«

»Oh, na gut. Hm … Rezitiere die siebenhundertundzweiundzwanzig geheimen Namen Gottes.«

»Das dauert ja eine Ewigkeit!«

»Je eher du damit anfängst, desto eher kannst du deinen Weg fortsetzen.« Sedriel schenkte ihm ein gespielt mitfühlendes Lächeln, das Zadok erst recht in Rage brachte. Der Engel beugte sich ein wenig vor, als hinge er atemlos an Zadoks Lippen.

»Also schön, dann hör zu. Vielleicht lernst du ja noch etwas dabei.« Zadok holte tief Luft und fing an: »Iao, Louel, Sabaoth, Eheieh, Elohim Gibor, Eloah Vadaath, Hadirion, Meromiron, Beroradin…«

 

»Rachel!« Jeremiels flüsternde Stimme drängte sich in ihren Schlummer. »Rachel, wach auf. Schnell!«

Sie richtete sich benommen auf, tastete instinktiv nach Sybil und schlug sich die Hand auf den Mund, als sie Jeremiel erblickte. Er kauerte auf ein Knie gestützt vor dem Höhleneingang. Wann hatte er sich von ihrer Seite entfernt? Die grauen Strahlen der falschen Dämmerung drangen in ihre felsige Schutzhülle und berührten sein blondes Haar und den staubigen schwarzen Anzug. Seine Hand umklammerte die Pistole. Dann wandte er sich rasch um und zischte: »Schnell! Kriecht durch den Gang auf der anderen Seite!«

Sie sprang auf und spähte durch den schmalen Spalt im Gestein. »Aber warum? Was …«

»Verschwindet! Oder wollt ihr, daß der Mashiah uns findet?«

Ein plötzlicher Adrenalinstoß brachte ihr Gehirn in Gang. Sie packte ihre Tochter wie einen Sack Kartoffeln, warf sie durch die Öffnung und krabbelte hinterher. Beide krochen so schnell, als säße ihnen Aktariel höchstpersönlich im Nacken. Jeremiel folgte ihnen augenblicklich. Während sie flüchteten, berührte Rachels Fuß ab und zu seine Schulter. Ein paar Minuten später traten sie in die schiefergraue Dämmerung hinaus.

Rachel richtete sich schwankend auf und packte Sybils kleine Hand. Sie standen auf einer ebenen Fläche aus rotem Sandstein, auf der sich rings um sie Steinblöcke wie antike Säulen erhoben. Jeremiel schlüpfte aus dem Felsspalt und wischte sich das Blut von den aufgeschürften Armen. Seine Spannung war spürbar, als er zum langsam heller werdenden Himmel emporschaute und den Finger auf den Abzugshahn der Pistole legte.

Der kühle Morgenwind trug ferne Rufe heran und die Geräusche von mindestens einem Dutzend Männern, die sich den gleichen schmalen Pfad hinaufarbeiteten, den sie und Sybil in der Nacht zuvor erklommen hatten.

»Sie müssen unsere Spuren gefunden haben«, erklärte Rachel schuldbewußt. »Ich hatte nicht daran gedacht…«

»Natürlich nicht. Vergessen Sie’s. Wir müssen weiter!« drängte Jeremiel. Der Sandstein wirkte in diesem schwachen Licht wie getrocknetes Blut. Wind und Wasser hatten den Fels so gründlich abgeschliffen, daß weder Sand noch Kies unter ihren Füßen knirschten.

Ein aufgeregter Ruf erschallte über ihnen, und Jeremiel fuhr ruckartig herum. Rachel wurde übel bei dem Gedanken, daß man sie erwischt hatte. »Sie kommen«, flüsterte sie heiser. »Ornias wird uns…«

»Nein, wird er nicht!« Jeremiel näherte sich ihr mit der Eleganz eines Tänzers, legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie rasch in einen abschüssigen Spalt hinein, der sich zu einer schmalen Schlucht erweiterte.

Kühle Morgenschatten hingen zwischen den Felsen. Eine schwache Brise wirbelte den Dunst auf und trieb Sand vor ihnen her. Und wieder hörten sie die Rufe der Männer. Diesmal weit näher als zuvor. Namenlose Angst würgte Rachel.

Sybil rannte mit stampfenden Beinen voraus. Rachel hatte keine Ahnung, wie lange sie die Schlucht hinabliefen, doch als sie schließlich den Grund erreichten, zitterten ihre Beine, und sie schnappte krampfhaft nach Luft.

Mit einer schnellen Bewegung schob Jeremiel sie plötzlich beiseite, sprang auf einen großen, muschelförmigen Felsblock und ließ seine Hand unter dem Überhang entlang streichen. »Hier ist es. Letzte Nacht konnte ich es nicht finden, aber jetzt weiß ich, daß es hier ist.«

»Was?«

Statt einer Antwort warf er sich auf den Boden, rollte sich auf den Rücken und schob sich halb unter den gefährlich geneigten Felsen.

Irgendwo in der Nähe ertönte ein zischendes Geräusch. Panik überflutete Rachels Sinne. Sybil stieß einen kleinen Angstschrei aus und klammerte sich mit weit aufgerissenen Augen an das Bein ihrer Mutter.

»Wir müssen laufen, Mommy! Schnell!« Verzweifelt zerrte sie am Arm der Mutter. »Schnell!«

»Bleib hier!« befahl Jeremiel und schob sich noch weiter unter den Überhang.

Rachel warf einen angsterfüllten Blick über die Schulter und fragte sich, ob sie dem Fremden genug vertraute, um ihm zu gehorchen. Der Wind nahm zu und wirbelte ihr Haar hoch. Als das Zischen lauter wurde, verließen sie Furcht und Hoffnung gleichermaßen, bis sie nur noch teilnahmslos darauf wartete, daß der Samael oberhalb der Felsen in Sicht kam. All die Anstrengungen und all der Tod waren umsonst gewesen.

»Da!« rief Jeremiel, und das knirschende Geräusch eines zur Seite gleitenden Felsens zerriß die Luft. »Sybil! Komm her!«

Rachel sah, wie ihre Tochter in einer rechteckigen Öffnung verschwand, die kaum groß genug schien, daß ein Mensch hindurchging. Jeremiel winkte heftig, und Rachel legte sich auf den Bauch und rutschte ebenfalls durch die Öffnung, wobei Jeremiel sie brutal vorwärts schob, während sich der Eingang knirschend schloß. Dunkelheit fiel wie ein samtenes Tuch über sie herab.

»Mommy, wo bist du?« jammerte Sybil und tastete suchend Wände und Boden ab.

»Hier, Kleines. Folge einfach meiner Stimme. Ja, hier.« Sie zog ihre Tochter auf den Schoß.

»Beinahe hätten sie uns erwischt.«

»Aber es geht uns gut.«

»Ja, im Moment«, murmelte Sybil in Rachels Ohr.

Nachdem sie ein paar Sekunden intensiv in die Dunkelheit gelauscht hatte, flüsterte Rachel: »Jeremiel, was ist das für ein Ort?«

»Der Vorraum zu den Höhlen der Wüstenväter. Es sollte bald jemand auftauchen, um uns abzuholen. Aber ich weiß nicht genau…«

»Was für Väter?«

»Wüstenväter. Das ist eine Geheimorganisation. Sie existiert jetzt schon seit fast tausend Jahren auf Horeb.«

Sie hörte in der Dunkelheit, wie er sich bewegte, als würde er Höhe und Breite der Höhle erkunden. Die von seinen Händen aufgewirbelte Luft streichelte ihren Nacken.

»Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und nie von diesen Wüstenvätern gehört«, sagte Rachel.

»Natürlich nicht. Andernfalls wären sie ja auch nicht besonders geheim, oder?«

Rachel spürte einen Kloß in der Kehle. Draußen hatte sie zumindest gewußt, was sie erwartete, aber hier? Eine geheime Organisation, die sich in den Bergen verbarg? Wer mochten sie sein, und weshalb versteckten sie sich? Sie zitterte. Ungeahnte Schrecken mochten ganz in ihrer Nähe lauern, und sie würde nichts davon merken, bis es zu spät war. »Jeremiel, mir gefällt es hier nicht. Gibt es keinen anderen Ort, an dem wir warten können? Ich bekomme hier Platzangst.«

»Ich würde sagen, das hier ist im Moment der sicherste Platz auf ganz Horeb, Rachel. Vertrauen Sie mir.«

»Wenn man zu vielen Menschen vertraut, endet man als Leiche.«

»Ja«, sagte er sanft, »ich verstehe diese Ängste. Tot – oder zumindest waffenlos.«

Sie wollte gerade zu ihrer Verteidigung ansetzen, da schien die Dunkelheit in Bewegung zu geraten. Ein kühler Luftzug berührte ihr Haar, und eine Flut übler Gerüche erschreckte sie. Sie zog die Füße an und bereitete sich darauf vor, loszurennen. »Jeremiel…?«

»Alles in Ordnung.« Sein muskulöser Arm legte sich um sie, und er zog sie an sich, ohne darüber nachzudenken. Leises Kratzen ertönte von der Seite der Höhle, die tiefer in den Berg hineinführte. »Der Vorhang öffnet sich.«

»Was?«

»Das ist ein alter Ausdruck. Er bedeutet, daß uns jetzt eine Audienz bei den mächtigen und weisen Wüstenvätern gewährt wird. Gehen wir.« Er ließ sie los.

»Warten Sie!«

Sie spürte, daß er sich zu ihr umdrehte. »Was ist?«

»Woher wissen wir, wer oder was dort wartet? Wir könnten direkt in eine Falle laufen.«

»Wäre möglich, bezweifle ich aber. Der Höchst Ehrenwerte Vater persönlich hat mir erklärt, wie ich diese Kammer finde. Ich bin ziemlich sicher, daß er kein Spion des Mashiah ist.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Also gut, ich gehe zuerst. Wenn Sie mich schreien hören, laufen Sie weg.« Seine auf dem Steinboden knirschenden Schritte entfernten sich. Kurz darauf rief er leise: »Rathanial?«

Goldenes Flackern erhellte die benachbarte Höhle und beleuchtete die beiden Männer, deren Schatten sich durch den Flur bis zu ihren Füßen erstreckten. Rachel stellte fest, daß die Höhle etwa dreißig Fuß hoch war und oben in einer runden, rötlichen Kuppel endete. Durch den breiten Durchgang zum nächsten Raum sah sie hin und wieder Jeremiels Hand gestikulieren. Rachel bemühte sich, das leise Gespräch zu belauschen.

Ein unbekannter Mann flüsterte ärgerlich: »Wie konntest du sie nur hierher bringen?«

»Ich dachte, unser Ziel besteht darin, das Leben von Gamanten zu retten. Jedenfalls kam es mir nicht so vor, als wäre es unserer Sache besonders dienlich, wenn sie dem Mashiah in die Hände fällt.« Jeremiels Stimme klang ein wenig ungehalten.

»In Ordnung, aber du trägst die Verantwortung. Ich will nichts damit zu tun haben!«

Eine längere Stille trat ein. Rachel hörte das Knirschen von Stiefeln auf Sand, als würde jemand seine Position wechseln.

»Das soll mir recht sein.«

Ein Geräusch, als würde jemand in die Hände klatschen, hallte durch den Gang. »In Ordnung, beeilen wir uns. Im Moment können wir ohnehin nichts daran ändern. Die Dinge haben sich in den letzten vierundzwanzig Stunden erheblich verschlechtert.«

Sybil blickte stirnrunzelnd zu ihrer Mutter empor. Ihr hübsches Gesicht war von Schmutz und Ruß bedeckt. »Mommy, ich mag diesen Mann nicht.« Sie hauchte diese Worte, damit nur Rachel sie hören konnte.

Rachel streichelte ihr über das Haar. Die Wüstenväter wollten sie hier nicht haben. Was für Ungeheuer mußten das sein, die einer Frau und einem Kind auf der Flucht vor dem Mashiah den Unterschlupf verwehrten?

»Rachel?« Jeremiels tiefe Stimme hallte von den Wänden wider. »Hier ist es sicher. Kommt her und bringt meinen Rucksack mit.«

Rachel hob sein Gepäck auf, nahm Sybil an die Hand und marschierte los. Sie war bereit, es notfalls sogar mit dem Teufel aufzunehmen. Nur erwies sich der Teufel als kleiner, weißhaariger Mann mit einem silbergrauen Bart. Seine dunklen Augen betrachteten sie ein wenig vorwurfsvoll, doch er schien ihre Anwesenheit hinzunehmen, wenn auch mit einer gewissen Resignation.

Mit den Worten: »Meine liebe Miss Eloel« trat er auf sie zu und formte dabei mit den Händen das Zeichen des heiligen Dreiecks. Seine schwingende bernsteinfarbene Robe schien im Kerzenlicht regelrecht zu blitzen. Wieso kannte er ihren Nachnamen? »Es tut mir leid, daß Sie hier sind, denn in der Zukunft drohen große Gefahren. Aber nachdem Sie nun einmal da sind, werden wir alles tun, um Sie zu beschützen. Ich bin Rathanial, der Höchst Ehrenwerte Vater dieser Einrichtung.«

Rachel erwiderte die Geste und warf einen Blick auf Jeremiel. Er stand hoch aufgerichtet da, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, und beobachtete Rathanial mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Als er Rachels Blick bemerkte, schaute er ein wenig unbehaglich zu Boden.

»Ehrenwerter Vater, wir werden uns bemühen, Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten«, erklärte Rachel. »Ich danke Ihnen, daß Sie uns Zuflucht gewähren.«

Rathanial deutete eine leichte Verbeugung an und wandte sich dann an Jeremiel. »Kommt mit. Ich bin sicher, ihr seid hungrig und müde. Es wartet schon eine warme Mahlzeit auf euch.«

Er wandte sich mit wirbelnder Robe ab und verließ die Kammer rasch in Richtung eines langen, in Form eines Diamanten aus dem Fels gehauenen Gangs. Die Kerze in seiner Hand warf kupferne Blitze über die Wände.

Als Jeremiel ihm folgen wollte, hielt Rachel ihn am Ärmel zurück und warf ihm einen fragenden Blick zu. Jeremiel hob die Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Ehrliche Verwunderung lag in seinen Augen – und noch etwas anderes. Argwohn?

»Gehen Sie zuerst«, sagte er ruhig, legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie sanft vorwärts.

 

Yosef preßte die Nase gegen das Bullauge und beobachtete, wie sich die Welt unter ihm langsam von der Dunkelheit ins Licht drehte. Horeb war ein rauher, ungeschliffener Planet mit scharfen roten und grauen Gebirgsgraten, die durch ausgedehnte Wüstengebiete voneinander getrennt wurden. Nur an besonders hochgelegenen Stellen wuchsen da und dort einige Baumgruppen. In der Nähe des Nordpols befand sich ein kleines Meer, doch an seinen Ufern lagen keine Städte. Wie seltsam! dachte Yosef. Auf seiner Heimatwelt Tikkun lebten neunzig Prozent der Bevölkerung rings um die großen Ozeane. Vielleicht war das Wasser hier giftig? Oder es streiften gefährliche Tiere an den Küsten entlang?

»He! Schau dir das an!« krähte Ari und zeigte auf das gegenüberliegende Fenster.

Yosef rückte die Brille zurecht und wartete darauf, daß das fragliche Gebiet auf seiner Seite in Sicht kam. Als es soweit war, kniff er die Augen mißtrauisch zusammen. »Wie viele Umkreisungen hast du denn schon gemacht?« fragte er, als er die sternförmige Bergkette zum mindestens vierten Mal auftauchen sah.

»Ich wollte mich nur orientieren«, verteidigte sich Ari und zog erst an einem Hebel, dann an einem anderen. Mit dem breiten Grinsen auf seinem hageren, von Falten durchzogenen Gesicht wirkte er fast wie ein Kind, das sich mit einem Spielzeugschiff amüsierte.

»Du spielst nur herum!«

»Ich informiere mich.«

»Und wann landen wir endlich?«

»Schon bald«, meinte Ari und kicherte. »Sobald ich mich daran erinnere, wie man die Hilfsdüsen bedient.«

Yosefs buschige graue Brauen zogen sich zusammen. »Hilfsdüsen? Wozu sind die denn gut?«

»Sie verhindern, daß wir uns beim Landen wie ein in die Luft geworfener Stein überschlagen.«

Yosef blinzelte und ließ sich dann in einen der Sessel fallen. Er holte ein Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn. »O Gott!«

»Mach dir keine Sorgen.« Ari wedelte beruhigend mit der Hand. »Wenn es mir nicht wieder einfällt, sorge ich einfach dafür, daß wir in etwas Weiches krachen.«

»Weich?«

»Na klar.«

»Hast du denn irgend etwas Weiches auf diesem Planeten gesehen? Das ist doch nur ein einziger, riesiger Felsen!« Yosef warf die Arme hoch.

»In der Nähe dieser großen Stadt gibt es ein Feld mit verdorrtem Gras.«

Yosef setzte sich aufrecht und befeuchtete die Lippen. »Einen Moment. Meinst du dieses kleine Feld, das von zerklüfteten Bergen umgeben ist?«

»Genau das.«

»Um Himmels willen, wir werden wie ein Pingpong-Ball herumhüpfen!«

Ari drehte sich mit dem Kapitänssessel um. Er hatte das blaue Jackett ausgezogen und über den Haufen Konservenbüchsen in der Ecke gelegt. Sein weißes Hemd stand bis zur Mitte der knochigen Brust offen und enthüllte wildwucherndes graues Haar. »He, hier drin ist es ziemlich warm, findest du nicht auch? Ich frage mich, ob…«

»Was du da spürst, ist das Feuer der Hölle, das dir schon den Nacken ansengt! Wieso kannst du dich nicht mehr daran erinnern, was Jeremiel dir über diese Düsen beigebracht hat?«

Ari zuckte die Achseln und schaute wie ein kleiner Hund drein, den man soeben getreten hat. Er bohrte die Stiefelspitze in den lavendelfarbenen Teppich. »Es gab so vieles, an das ich mich erinnern mußte, und außerdem habe ich mir wegen dir Sorgen gemacht. Es ging dir damals ja nicht besonders gut.«

Yosef spürte, wie er bei der Erinnerung an die Anfälle von Einsamkeit und Schmerz, die ihn angesichts Zadoks Tod heimgesucht hatten, rot wurde. Es war ihm nicht gut gegangen, auch wenn niemand außer Ari das hätte bemerken können. Er stand auf und legte entschuldigend eine Hand auf die Schulter des Freundes.

»Weißt du, daß wir jetzt seit dreihundert Jahren zusammen sind?«

»Klar. Sicher weiß ich das.«

»Ari?«

»Hm?« Der alte Mann blickte verletzt auf.

»Ich schätze, es ist in Ordnung, wenn wir in irgend etwas hineinkrachen. Du tust eben, was du kannst.«

Ari senkte den Kopf und nickte.

»Ich hätte gar nichts sagen sollen. Tut mir leid. Ich hätte es ja auch nicht besser gekonnt. Also mach weiter und…«

Ein schriller Piepton kam vom Kontrollpult her, und ein rotes Licht blinkte auf. Ari zuckte zusammen und überprüfte rasch eine Reihe von Anzeigen. Gleichzeitig bemerkte Yosef aus den Augenwinkeln, wie irgend etwas am Bullauge vorbeischoß. Er stürzte zum Fenster und spähte hinaus. Ein spitznasiges Schiff glitt scheinbar schwerelos längsseits. An seiner Hecksektion prangten die schildförmigen Insignien der Magistraten.

»O je.«

Yosef watschelte quer über den mittlerweile recht schmutzigen Teppich zum anderen Bullauge. Nicht weit entfernt schwebte ein gleichartiges Schiff. »Wir sind umzingelt!«

»Über uns ist noch eins, und das sinkt langsam tiefer.«

»Versuchen sie, uns zur Landung zu zwingen?«

»Sieht so aus.«

Ein grünes Licht flammte auf dem Kontrollpult auf und Yosef keuchte: »Was ist das?«

»Sie wollen mit uns reden.«

»Weißt du, wie das Gerät funktioniert?«

»Sicher. Aber ich will nicht mit ihnen reden.«

»Warum nicht?«

»Was geht es uns an, was sie wollen?«

»Was uns das angeht? Vielleicht haben sie Befehl, uns abzuschießen, wenn wir nicht antworten. Hast du dir das mal überlegt?«

»Nicht solange sie glauben, Baruch wäre immer noch an Bord. Er hat gesagt, er wäre sicher, daß sie ihn unbedingt lebend haben wollen. Und genau deshalb will ich nicht mit ihnen reden. Vielleicht haben sie ja sein Stimmuster gespeichert, und wenn sie das mit unseren vergleichen und feststellen, daß sie nicht übereinstimmen, denken sie möglicherweise, sie könnten uns ruhig abschießen.«

»Lieber Gott.« Yosef drehte den Sessel des Kopiloten zu sich herum und ließ sich hineinfallen. Dann schaltete er die Sicherheitseinrichtungen des Sitzes ein, lehnte sich zurück und verschränkte die Finger über dem Bauch. »Na schön, dann flieg uns gegen etwas Weiches.«

»Bist du sicher, daß du dich deswegen nicht noch etwas streiten möchtest?«

»Nein, leg schon los.«

Ari grinste und betätigte zwei Schalter. Die Seros neigte sich nach vorn und sank der Planetenoberfläche entgegen. Die g-Kräfte preßten Yosef gegen die Rückenlehne, doch aus den Augenwinkeln sah er einen violetten Blitz. Er drehte den Kopf und sah, wie das Regierungsschiff abermals feuerte. Der Schuß trennte ihre Bugspitze ab.

»Sie wollen uns umbringen!«

»Wenn sie das wollten, wären wir schon tot. Sie wollen uns einschüchtern, damit wir ihnen nach unten folgen.«

»Und warum tun wir das nicht einfach? Was können sie uns denn schon anhaben?«

»Ich gönne ihnen nicht die Befriedigung zu glauben, sie hätten die Oberhand.«

»Befriedigung?!«

Ari schob einen weiteren Hebel nach vorn. Sie machten einen Satz zur Seite und zwangen das Schiff zu ihrer Rechten zu einem hastigen Ausweichmanöver. Kichernd drückte Ari daraufhin zwei Knöpfe, und sie schossen im Sturzflug in einen schmalen Canyon hinab, dessen rote Wände sich wie eine Schlange krümmten. Die Seros schwankte trunken hin und her, um vorstehenden Felsen auszuweichen, und Yosef spürte, wie sein Magen sich hob, als die Panik seine Eingeweide durchpflügte. Die beiden Schiffe, die neben ihnen geflogen waren, verschwanden, als Ari tiefer in den Canyon eintauchte, wo die Wände bis auf einen engen Durchschlupf zusammenrückten.

Yosef, der die Verfolger durch die Bullaugen nicht mehr sehen konnte, keuchte verstört: »Wo sind sie hin?«

Ari schaute kurz auf einen Monitor und grinste. »Feiglinge! Sie hatten Angst, uns hierher zu folgen und fliegen jetzt oben über die Berge.«

»Aber irgendwann kommen wir hier wieder heraus, und dann kriegen sie uns, stimmt’s?«

»Na und? Hauptsache, es macht Spaß.«

»Nein, das macht keinen Spaß! Es ist völlig abwegig! Wir müssen einen Platz zum Landen finden!«

»Das habe ich alles schon geplant«, informierte Ari ihn.

»Wirklich?«

»Klar. Paß auf.«

Yosef schaute hoch und sah, wie die Wände plötzlich zur Seite wichen und den Blick auf das grasbewachsene Feld freigaben, das Ari zuvor schon erwähnt hatte. Der alte Zausel mußte ihren Flug tatsächlich genau so geplant haben. Zwei- und dreistöckige Gebäude säumten eine Seite der Wiese. Vor den Bauwerken standen mehrere altersschwache Eselskarren. Die Tiere bäumten sich nervös auf, als sie das sich nähernde Schiff bemerkten. Eine Sekunde später waren auch die Regierungsraumer wieder da und schoben sich neben sie, während das grüne Licht auf der Konsole energisch drängend aufflackerte.

»Was machen wir jetzt?«

Ari warf ihm einen Blick zu und lächelte. »Wir landen dort, wo es ihnen nicht paßt.«

»Wo, zum Beispiel?«

Statt einer Antwort betrachtete Ari nachdenklich die Kontrollen, zuckte die Achseln und betätigte drei Hebel gleichzeitig. Die Seros erzitterte heftig, brach zur Seite aus, wurde gleichzeitig langsamer und segelte auf eines der Gebäude zu.

»Aaah!« brüllte Yosef, als das Schiff eine Hausecke streifte, sich wie ein Kreisel drehte und in ein Lagerhaus krachte. Kisten, Kartons und große Ölfässer prasselten auf die Seros nieder und verschütteten die Bullaugen.

Das Schiff blieb in einem derart steilen Winkel liegen, daß Yosef nur durch den Sicherheitsgurt auf seinem Platz gehalten wurde. Ari hing mit wild rudernden Armen über ihm. Er schlug Yosef auf die Schulter und rief: »Na komm. Schauen wir nach, wer hier wohnt.« Er löste seinen eigenen Gurt, fiel aus dem Sessel und rutschte zur Tür hinüber. Yosef grunzte und bemühte sich, ihm etwas würdevoller zu folgen.

»Beeil dich! Öffne die Tür.«

Ari griff nach oben und drückte auf den Knopf. Die Tür glitt beiseite, und eine Sturzflut von Konservendosen ergoß sich über ihn. Grummelnd schob er ein paar der Dosen beiseite und rutschte dann auf dem Bauch über die anderen hinweg nach draußen. Yosef holte tief Luft und folgte ihm.

Ari half ihm von dem Konservenhaufen herunter, und dann bahnten sie sich gemeinsam einen Weg durch das demolierte Lagerhaus.

»He«, sagte Ari und bückte sich, um eine Dose aufzuheben, »schau dir das an. Sie haben hier Rote Bete. Was glaubst du, woher sie Rote Bete bekommen? Auf Tikkun können wir keine kriegen. Ich wette, sie…«

»Halt endlich die Klappe! Wir müssen hier verschwinden, bevor die Marines landen und uns einsperren.«

Ari steckte die Dose in die Hosentasche und trat einen Karton aus dem Weg. Yosef zerrte vergeblich an einer Kiste, beschloß dann, lieber um sie herum zu gehen, und folgte Ari durch eine Lawine aus Flaschen. Sie bewegten sich in Richtung einer Tür, die halb aus den Angeln gerissen worden war und jetzt im Wind hin und her schlug. Als sie ins grelle Licht der Mittagssonne hinaustraten, mußten sie schützend die Hände über die Augen legen.

»Hm…«, murmelte Ari.

»Was ist?« Yosef blinzelte, um seine Augen an die Helligkeit zu gewöhnen und bemerkte dann die Menschenmenge, die sich um sie sammelte. Ein Mann mit hellbraunem Haar und einem sorgfältig gestutzten Bart rief uniformierten Männern und Frauen Befehle zu. Sein weißes Gewand flatterte im sengenden Wüstenwind. Die Polizisten kreisten sie mit gezogenen Waffen ein und zielten unmißverständlich auf ihre Brust.

»He!« rief Ari wütend und reckte das Kinn vor. »Laßt das! Wir sind auch Gamanten. Wir sind gekommen, um den Mashiah zu sehen.«

Yosef starrte seinen Freund mit offenem Mund an. Hatte Aris Gehirn endgültig die Arbeit eingestellt?

Der Mann in der weißen Robe beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie die Schiffe der Galaktischen Magistraten in einer Wolke aus Staub und Kies landeten. Die Menschen schwatzten aufgeregt durcheinander.

»Das könnte eng werden«, murmelte Ari.

Als mit Gewehren bewaffnete Marines aus den Schiffen strömten und das zerstörte Lagerhaus umstellten, in dem die Seros lag, verzog Yosef den Mund. »Könnte?«