KAPITEL
20

 

 

Adom saß am Tisch seiner Ratskammer, hatte die Beine weit von sich gestreckt und las in einem Buch, das auf seinem Schoß ruhte. Sonnenlicht fiel durch die geöffneten Fenster hinter ihm, färbte sein Haar und die flachsene Robe safrangelb und fing sich in den goldenen Fäden des karmesinroten Teppichs, die wie kleine Flammen aufleuchteten. Eine riesige Statue Milcoms aus rosa Achat stand zwischen den Türpfeilern und beobachtete – so kam es Adom jedenfalls vor – alles, was im Innern des Zimmers geschah.

Draußen im Gang wurden streitende Stimmen und das Geräusch von Schritten laut. Adom schaute stirnrunzelnd von seinem Buch auf.

»Verschwinde, du alter Narr! Und überlaß es mir, die Angelegenheiten Horebs zu regeln.«

»Du Ballonhirn! Was verstehst du denn überhaupt vom Spionieren?« fragte die Stimme eines älteren Mannes. Funk? »Du brauchst jemand, der dir hilft. Wie bei diesen Plänen für den Lichtschild zum Beispiel. Du könntest …«

Stiefel schlurften über Teppiche, und eine erstickte Stimme stieß unverständliche Laute aus, als ob eine kräftige Hand den Sprecher daran hinderte, sich lautstark zu artikulieren.

Ein paar Augenblicke später rauschte Ornias mit wutverzerrtem Gesicht ins Zimmer. Er trug enganliegende schwarze Kleidung, die seine breiten Schultern betonte. Sein Bart war durcheinandergeraten, und auf seiner gebräunten Stirn glitzerten Schweißperlen.

»Adom! Bist du von allen guten Geistern verlassen?« fragte er und knallte einen Stapel Papier auf den Tisch. »Ich hatte gedacht, es wäre nur eine vorübergehende Grille von dir, die beiden zu beschäftigen, doch das geht wirklich zu weit!«

Adom blinzelte, senkte den Blick und schaute auf den Bericht, der seine Unterschrift trug. »Es ist notwendig, Ornias.«

»Das sind wichtigtuerische Idioten! Wie konntest du sie nur zu deinen persönlichen Adjutanten machen? Lieber Gott, mich schaudert, wenn ich daran denke, was passieren wird, wenn du sie zum ersten Mal mit einer wirklich dringenden Botschaft zu mir schickst. Wir werden noch selbst zu unseren größten Gegnern!«

»Sie sind nicht so naiv wie sie erscheinen«, verteidigte Adom sich leise mit Milcoms Worten, während er die Hände über dem Buch auf seinem Schoß verschränkte. Er haßte es, wenn Ornias ihn anbrüllte, weil er sich dann so dumm vorkam. Der Ratsherr wußte nichts von Milcoms Plänen. Und ein Prophet konnte die Befehle seines Gottes nicht mißachten.

»Was?«

»Wenn du ihnen eine Chance gibst, wirst du feststellen, daß sie sehr schlau sind.«

»Schlau? Die sind beide völlig senil!«

Adom verzog den Mund und starrte auf den Saum seiner flachsenen Robe. »Du verstehst das nicht. Es sind schlichte Seelen.«

»Weißt du, was Funk gestern getan hat? Hat es dir jemand berichtet?«

Adom schüttelte den Kopf.

Ornias stemmte die Hände in die Hüften und stapfte verärgert zum Fenster, um auf die Wildnis Horebs hinauszublicken. Staub wirbelte im goldenen Sonnenlicht empor und warf einen dunstigen Schleier über ihn.

»Ich habe dem Narren eine vertrauliche Botschaft für Techniker Lumon mitgegeben. Fünf Stunden später entdecke ich Funk, wie er in der Küche die Suppe probiert – und die Nachricht war verschwunden! Ich mußte Lumon aufsuchen, um zu klären, daß sie tatsächlich nicht überbracht worden war. Anschließend mußte ich dann jeden einzelnen Schritt Funks zurückverfolgen, um die Botschaft zu finden, bevor sie in die falschen Hände geriet.«

»Hast du sie gefunden?«

Ornias’ limonengrüne Augen verengten sich. Er nickte ernst und warf Adom einen bösen Blick zu. »Ja, deine ›schlichte Seele‹ hatte sie im Bad zurückgelassen, als er die Unterkünfte der weiblichen Dienerschaft verließ. Ich mußte sie herausfischen!«

Ein leises Lächeln kräuselte Adoms Lippen. »War er … im Bad? Ich meine, mit …«

»Oh, die Frauen streiten das ab, aber ich bin mir da nicht so sicher. Ich glaube, der alte Waschbär ist ganz schön lüstern.«

Ein Kichern stieg in Adoms Kehle auf. Ornias’ Gesichtsausdruck wurde noch kühler, seine Augen blickten eisig.

»Jetzt findest du das auch noch lustig«, meinte der Ratsherr düster, »aber warte ab, bis die Magistraten den Planeten angreifen und du mir durch einen dieser alten Narren eine Botschaft schicken willst, damit ich Truppen aushebe.«

»Die Magistraten haben keinen Grund, uns anzugreifen.«

»Sei nicht albern. Tahn segelt da oben immer noch mit seinem Schlachtkreuzer herum. Ich bin sicher, wenn die Magistraten einen Grund finden, werden sie ihn auch nutzen. Und wenn Funk oder Calas gebraucht werden, um …«

»Du meinst, nachdem Horeb zu Schlacke verbrannt ist, finden wir sie in der Küche, wo sie die Suppe probieren?«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

Adom lächelte über die Ironie, legte dann das Buch auf den Tisch, stand auf und ging über den dichten Teppich. Ein heißer Wind drang zwischen den roten Vorhängen ins Zimmer und zerzauste sein blondes Haar. »Du mußt einsehen, Ratsherr, daß Yosef Calas eine große Hilfe auf unserem Marsch durch die gamantische Hierarchie sein kann. Allein sein Name steht für Generationen von Führern.«

»Adom«, murmelte Ornias, »hast du kluge Bücher gelesen oder etwas in dieser Richtung? Wie kommst du auf diesen Gedanken? Es ist wirklich eine sehr schlaue Idee. Ich bin überrascht, daß ich nicht selbst darauf gekommen bin.« Seine Augen blickten so erstaunt wie stets, wenn Adom etwas Sinnvolles zur politischen Lage äußerte. Das ärgerte den Mashiah ein wenig. Hielt der Ratsherr ihn für einen Idioten?

»Dann verstehst du also, daß wir …«

»Trotzdem könnten wir ihm eine bedeutungslose Stellung geben, statt einer so heiklen als dein Helfer.«

»Ich mag ihn als Adjutanten. Auf diese Weise kann ich ihn besonders gut behandeln und ihm meine persönliche Aufmerksamkeit schenken.«

Ornias schnaubte. »Ich glaube kaum, daß er die verdient.«

»Ich mag ihn.«

»Ja, na schön …« Er warf die Arme hoch. »Also gut. Und wie gedenkst du Calas zu unserem Nutzen einzusetzen?«

»Ich dachte, das könnten wir von Fall zu Fall entscheiden.«

»Du meinst, wir benutzen ihn, wenn sich die Notwendigkeit ergibt?«

Adom, der sich über Milcoms Pläne nicht ganz im klaren war, wurde ein wenig blaß und scharrte nervös mit den Füßen, während er zu der Statue aus rosa Achat hinüberschaute. »Etwas in der Art, ja.«

Ornias bemerkte seine unsichere Haltung. »Na ja, wie auch immer, ich glaube, du hast recht. Calas ist es wert, gehätschelt zu werden.«

»Und er ist ein guter Mann.«

»Er ist ein ungeschickter Narr. Er vergißt die Dinge im gleichen Moment, in dem man sie ihm erzählt, oder er gibt vertrauliche Informationen an die falschen Leute weiter. Aber du hast recht, was die Möglichkeiten angeht, die sich durch ihn eröffnen.«

Adom erwiderte nichts, verschränkte die Arme und beobachtete Ornias unter seinen goldenen Wimpern hervor. Er hatte den starken Verdacht, daß der Ratsherr jeden als ungeschickten Narren betrachtete, ausgenommen sich selbst.

»Adom«, sagte Ornias nachgiebig und lächelte entschuldigend. Er rückte näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vergib mir meine harten Worte. Ich weiß, daß du Funk und Calas magst. Da ich aber auch weiß, wie sanft und nachgiebig du bist, halte ich es für meine Pflicht, meine eigene Meinung zu derartigen Dingen offen und ehrlich zu sagen – auch wenn das mitunter ein wenig herb klingen mag. Auf diese Weise erhältst du den nötigen Überblick, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen.«

»Ich verstehe.«

»Ich möchte nicht erleben, daß man dich verletzt. Du weißt, ich habe immer mein Bestes gegeben, um für dich zu sorgen.«

»Ich weiß.« Das schleimig-väterliche Gehabe zerrte an Adoms Nerven. Die einzige Person, die wirklich jemals für ihn gekämpft hatte, war Milcom. Adom preßte die Lippen fest zusammen und schaute zur Seite. Ornias schirmte ihn von der Wahrheit ab und flößte ihm seine Lügen löffelweise ein. Das wußte er. Gott hatte ihm Ornias’ Teilwahrheiten hin und wieder enthüllt, ihn jedoch angewiesen, diese Täuschungen nur zur Kenntnis zu nehmen, nicht aber zu ahnden. »Laß Gott die Arbeit Gottes tun«, hatte Milcom gesagt. »Zu gegebener Zeit wird die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen.«

Ornias fuhr sich mit der Hand durch das braune Haar und warf Adom einen forschenden Blick zu, als wollte er dessen Gedanken lesen. »Was ist los? Du siehst besorgt aus.«

»Ich habe nur darüber nachgedacht, wie wir Yosef benutzen könnten.«

»Ich hätte da schon ein paar Ideen.«

»Zum Beispiel?«

»Ist dir klar, daß es auf Kayan und einem Dutzend anderer gamantischer Welten zu Unruhen gegen die Magistraten gekommen ist?«

»Weil sie glauben, die Regierung hätte Zadok getötet?«

»Ja. Und weil …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt ja, wie die Gamanten sind. Ich nehme an, Zadoks Tod war ihnen als Anlaß für eine Revolte so lieb wie jeder andere. Diese Narren! Die Magistraten werden sie wie Fliegen zerquetschen.«

»Vielleicht aber auch nicht. David hat Goliath auf der Ebene von …«

»Adom«, sagte Ornias herablassend, »von unserem Volk sind vielleicht noch eine Million Menschen in der Galaxis übrig. Selbst wenn wir uns zusammenschließen würden – und Gott weiß, das wird niemals geschehen –, könnten wir trotzdem nur eine halbe Million Soldaten aufstellen. Allein die Streitkräfte der Regierung zählen nach Milliarden!«

Das Sonnenlicht bohrte sich quer durch die Ratskammer und blendete Adoms Augen. Er beobachtete, wie das Licht über die goldenen Stickereien des Teppichs huschte und dann weiter glitt, um die Statue Milcoms zu beleuchten. Die steinernen Augen Gottes schienen zu funkeln, als wären sie lebendig. Er betrachtete sie und gewann Stärke und Zuversicht aus dieser Illusion.

»Was schlägst du vor?«

Ornias’ gebräuntes Gesicht leuchtete auf, und er ballte eine Faust. »Wir sollten ein Loch in die Hierarchie schlagen und uns auf diese Weise einen bequemen Zugang verschaffen. Die gamantische Zivilisation ist im Moment geschwächt und verlangt nach Führung, die wir ihr bieten könnten.«

»Aber wir vertreten nicht die traditionelle gamantische Theologie. Weshalb sollten sie sich uns plötzlich zuwenden? Ich bin davon ausgegangen, daß es Jahre der Predigt und Lehre bedarf, um …«

»Nicht, wenn wir es richtig anpacken.«

»Richtig?«

»Ja.« Ornias rieb sich das bärtige Kinn und rückte ein wenig näher. Seine limonengrünen Augen leuchteten. »Wenn wir unsere religiösen Lehren als Wiedererweckung tarnen … als Rückkehr zu den wahren Lehren unserer Vorfahren, dann können wir …«

»Die Religion Milcoms ist eine Rückkehr zu den alten, wahren Lehren. Der älteste Text berichtet davon, wie unser großer Vorfahr Solm in den Hügeln bei Yershulim einen Tempel für Milcom errichtet hat. Es ist nur so, daß wir durch die Bücherverbrennungen der letzten Jahrtausende die ursprünglichen Lehren verloren haben. Deshalb ist Milcom ja auch zu mir gekommen, um die Gamanten wieder auf den richtigen Weg zu führen.«

»Ja, natürlich«, stimmte Ornias ungeduldig zu und schritt nervös auf und ab.

Adom runzelte die Stirn. Jedesmal, wenn er über Milcom oder dessen Besuche sprach, reagierte Ornias mit Zorn darauf. Natürlich, Gott war Ornias niemals leibhaftig erschienen; dennoch deutete eine derartige Feindseligkeit darauf hin, daß der Glaube des Ratsherrn nicht so gefestigt war, wie er sein sollte. Er hatte sich selbst vor drei Jahren geschworen, sich darum zu kümmern, doch irgendwie hatte er nie die nötige Zeit dazu gefunden – und auch nicht die rechte Lust. Zu seiner Schande mußte er sich sogar eingestehen, daß er seinen Stellvertreter eigentlich gar nicht besonders mochte.

»Ornias …«

»Pst!« Der Ratsherr hob unwillig die Hand. Er wollte sich bei seinen Überlegungen nicht stören lassen. Adom schloß gehorsam den Mund und wandte seine Aufmerksamkeit den rosafarbenen Marmorbögen zu, die im grellen Mittagslicht aufzuglühen schienen.

Schließlich hielt Adom es nicht länger aus und platzte heraus: »Milcom hat das Lagerhaus gefüllt, mußt du wissen. Die Lebensmittel sind nicht einfach aus dem Nichts erschienen.«

»Hm?« machte Ornias geistesabwesend.

»Milcom«, erklärte Adom mit fester Stimme, »versorgt uns mit Nahrung, wenn wir hungern.«

»Sei nicht albern. Das Lagerhaus wurde gefüllt, weil ich jedes bißchen Nahrung in Seir habe beschlagnahmen lassen. Die sorgfältige Verteilung begrenzter Reserven – das ist es, was die Menschen am Leben erhält.«

»Was glaubst du denn, woher die Menschen die Lebensmittel hatten!« verteidigte Adom sich entsetzt. »Milcom hat jeder Familie einen Laib Brot gegeben und Milch für die Kinder. Er hat …«

»Natürlich, Adom«, unterbrach Ornias ihn harsch. »Ich wollte nicht behaupten, daß Gott keinen Anteil an unserem Erfolg hatte, sondern nur, daß kluge politische Maßnahmen häufig …« Er zuckte die Achseln, als wollte er einen kneifenden Mantel abschütteln. »Du weißt schon, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«

»Deine Zweifel lassen mich schaudern.«

»Ich entschuldige mich, Mashiah.« Er hob die Augenbrauen, als müsse er große Mühsal ertragen. »Ich bin nur müde, das ist alles. Meine Worte spiegeln nicht unbedingt meinen Glauben wieder. Die letzten zwei Wochen waren sehr hart.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewußt.«

»Tatsächlich? Gut.« Ornias durchbohrte ihn mit seinen kalten grünen Augen. »Dann werden dir meine Ideen sicher gefallen, wie wir Calas’ Namen nutzen können. Es wird einiger verdeckter Aktionen auf Planeten wie Kayan bedürfen, doch wir verfügen über genügend talentierte und loyale Mitstreiter, die in den militärischen Künsten ausgebildet sind und durchführen können, was mir vorschwebt.«

»Und das wäre?«

»Sowie ich mir über die Details im klaren bin, werde ich dich in Kenntnis setzen. Auf diese Weise wird deine kostbare Zeit nicht durch bedeutungslose Erwägungen vergeudet.«

Das entsprach nicht dem, was Ornias wirklich meinte, doch Adom verfügte nicht über das nötige Selbstvertrauen, um ihn herauszufordern. »In Ordnung.«

Ornias wandte sich zum Gehen, doch Adoms Stimme hielt ihn auf. »Ratsherr … hast du schon etwas von Rachel Eloel gehört?«

»Wirst du ungeduldig?«

»Das trifft es nicht genau. Es gibt nur ein paar Dinge, die Milcom und ich gern erledigen würden.«

»Nun, mach dir keine Sorgen. Es sollte jetzt nicht mehr lange dauern. Ich arbeite daran, sie zurückzuholen.«

»Du …«

»Natürlich.«

Adom betrachtete den selbstzufriedenen Gesichtsausdruck des Mannes und verschränkte die Arme. Er scheute sich davor, noch weitere Fragen zu stellen, war sich aber auch nicht sicher, ob das überhaupt eine Rolle spielte. Milcom hatte gesagt, Rachel würde zurückkommen. Nur das zählte.

»Sehr gut, Ratsherr. Mach so weiter.«

Ornias verneigte sich leicht, wandte sich dann in einem Wirbel schwarzen Stoffes um und schritt zwischen den marmornen Pfeilern hindurch auf den Korridor hinaus. Seine Stiefel hämmerten dumpf auf den dicken Teppichen.

Adom richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Fenster und starrte sehnsüchtig zu den roten Gipfeln hinüber, die in der Hitze des Tages zu flirren schienen. Er blieb lange so stehen und dachte über Rachel Eloel, Ari und Yosef nach. Und über den Schlachtkreuzer, der zweifellos sogar jede Bewegung der winzigen Steinameisen verfolgte.

Irgendwann legte er den Kopf lauschend schräg, denn ihm war, als würde er leise die klagenden Laute der Trompeten hören, die zum Jüngsten Gericht riefen.

 

Jeremiel räkelte sich auf dem unbequemen Stuhl in Rathanials Privatgemächern, während er zuschaute, wie der alte Mann einen Topflappen benutzte, um den Taza-Kessel von der Feuerstelle zu nehmen. Es war ein großer, allerdings nur spärlich eingerichteter Raum. Eine Schlafmatte lag dicht an der Wand; daneben stand eine Lampe auf einem Tischchen. Neben Jeremiel stand ein winziger, kaum zwei Hand breiter Tisch auf einem rechteckigen, blaugoldenen Teppich.

Rathanial erhob sich und kehrte vorsichtig zum Tisch zurück. In jeder Hand trug er eine Tasse, die mit der dampfenden Flüssigkeit gefüllt war. Seine khakifarbene Robe schwang bei jeder Bewegung.

Als der alte Mann die Tassen abstellte und auf dem anderen Stuhl Platz nahm, sah Jeremiel den Schimmer von Schweiß auf seiner Stirn.

»Kommen wir zum Geschäft, Rathanial. Wir können sie nicht brauchen.«

»Oh, aber wir müssen. Verstehst du nicht? Ohne Rachel im Palast werden Tausende ihr Leben verlieren.«

Jeremiel strich sich nachdenklich den Bart. War dieser ältliche Vater mit Senilität geschlagen? »Nach der Erscheinung des ›Lauschers‹ ist dir doch sicher klar geworden, daß unsere Schlachtpläne jetzt bekannt sind. Rachel unter diesen Umständen auszuschicken hieße, sie den Löwen zum Fraß vorzuwerfen.«

Rathanial stützte die Ellbogen auf den Tisch, schlürfte an seinem Taza und runzelte die Stirn. »Wir wissen nicht genau, wieviel der Lauscher von unserem Gespräch gehört hat. Wir haben ihn erst zum Schluß entdeckt. Vielleicht hat er überhaupt nichts gehört.«

»Sei nicht albern. Das können wir nicht riskieren.«

»Welche andere Wahl bleibt uns denn?«

»Wir haben noch hunderte von Möglichkeiten«, erklärte Jeremiel ungehalten. »Wir können unsere Pläne überarbeiten und dabei die Notwendigkeit umgehen, jemanden im Palast unterzubringen. Wir können …«

»Nein, wir können nicht!« rief der alte Mann mit überraschender Heftigkeit. Die Tasse zitterte in seiner Hand. Er lehnte sich mit funkelnden Augen über den Tisch. »Sie ist unsere größte Hoffnung. Verstehst du das nicht? Selbst wenn der Lauscher unseren Plan enthüllt, empfindet Adom immer noch tiefe Gefühle für sie. Er würde sie nicht töten! Und sie muß nur für ein paar Wochen …«

»Du hast den Verstand verloren. Er wird ihr bei der ersten Gelegenheit die Kehle aufschlitzen.«

»Wir wissen nicht, was der Lauscher gehört hat! Und selbst wenn er über alles informiert ist, wissen wir noch immer nicht, ob das tatsächlich eine Gefahr bedeutet. Wir haben noch nie erlebt, daß unsere Pläne aufgeflogen wären, nachdem einer von ihnen unsere Gespräche mitgehört hat.«

»Das spielt keine Rolle. Wir können nicht …«

»Warte!« bat Rathanial. Er stellte seine Tasse unsicher ab und preßte beide Hände gegen den Kopf, als wollte er die wirbelnden Gedanken bremsen. »Laß uns das in aller Ruhe durchsprechen. Unsere Gefühle bringen uns nur vom Thema ab.«

Deine Gefühle behindern dich. Mit meinen werde ich schon fertig. »Ich höre.«

»Wir haben drei Jahre lang herauszufinden versucht, was diese schattenhaften Gestalten eigentlich sind. Eine Zeitlang schien jedesmal einer zugegen zu sein, wenn wir ein ernsthaftes Gespräch führten, doch jetzt tauchen sie nur noch sporadisch auf. Vielleicht existieren sie nicht einmal wirklich.« Er blickte Jeremiel eindringlich an. »Zadok meinte, sie befänden sich vielleicht in einem anderen Universum und würden nur durch eine Art ’Tor’ zu uns hereinschauen, wobei die Schatten das einzige sichtbare Zeichen für das Öffnen der Tür wären.«

»Du meinst, so etwas wie das Mea?«

»Zadok hat es nicht ausdrücklich gesagt, aber ich nehme an, genau das meinte er. Immerhin liegen die Parallelen auf der Hand.«

»Ja. Wahrscheinlich ist das möglich. Doch weshalb sollte ein anderes Universum an unseren Problemen interessiert sein?«

»Ich weiß es nicht. Es sei denn … nun ja, vielleicht hat das, was hier geschieht, Auswirkungen auf die gesamte Schöpfung. Wenn Adom wahrhaftig der …« Er hielt inne und spielte nervös mit der Tasse, während er Jeremiel ansah. »Nun, wie auch immer, vielleicht sind Mächte im Spiel, die wir nicht begreifen können.«

»Falls uns tatsächlich eines oder mehrere Wesen aus einem anderen Universum beobachten, hast du sicher recht. Doch eine derartige Spekulation hilft uns auch nicht weiter, als wenn wir unterstellen, daß die Lauscher Werkzeuge des Mashiah sind. Und wir sollten auf jeden Fall von der schlimmsten Möglichkeit ausgehen, da wir andernfalls unsere Köpfe selbst in die Schlinge stecken.«

»Das ist mir klar, Jeremiel. Wirklich. Doch wir haben niemals erlebt, daß das Auftauchen der Lauscher negative Auswirkungen gehabt hätte. Aus diesem Grund glaube ich nicht, daß wir unsere Pläne ändern sollten.«

Jeremiel rieb sich heftig die Stirn. Besaß der alte Mann denn überhaupt kein Gespür für die Erfordernisse einer Schlacht? In dem Moment, wo es auch nur den Anschein hatte, die Pläne wären verraten worden, flüchtete ein guter Kommandeur so schnell wie eine Fledermaus aus den Gruben der Finsternis. Es sei denn, er säße in der Falle und hätte keine Wahl mehr. Doch sie saßen nicht in der Falle – noch nicht.

»Nein, Rathanial. Das werde ich nicht riskieren.«

»Bitte, Jeremiel. Laß … laß es uns überprüfen. Bei diesem letzten Treffen haben wir über viele Dinge gesprochen, beispielsweise darüber, daß wir unsere Streitkräfte auf den Kampf gegen den Mashiah vorbereiten wollen. Wenn der Lauscher Adom unsere Pläne enthüllt, wird er sicher sofort seine Truppen sammeln, um uns aufzuhalten.«

Das hörte sich einleuchtend an. Je länger der Mashiah wartete, um so geringer wurden seine Aussichten, den Kampf zu gewinnen. Er würde so schnell wie möglich agieren müssen, um ihre Anstrengungen zu unterbinden. »Also?«

Rathanial seufzte müde. »Verschieben wir Rachels Aufbruch um ein paar Wochen und beobachten wir unterdessen Adoms Aktivitäten in der Stadt so genau wie möglich. Gibt es Anzeichen, daß er Truppen zusammenzieht, entwickeln wir einen anderen Plan.«

Jeremiels Kehle wurde eng. Irgend etwas stimmte nicht, meldete ihm sein Gefühl. »In Ordnung. Aber dann werde ich mich mit gleicher Energie um drei alternative Strategien kümmern, nur für den Fall, daß wir unsere Pläne im letzten Moment ändern müssen.«

»Gut. Ja, das klingt vernünftig.«

Jeremiel verzog keine Miene, als er sah, wie sich die Erleichterung in Rathanials Haltung spiegelte. Der alte Mann ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn. Er machte den Eindruck, als wäre gerade eine schreckliche Last von seinen Schultern genommen worden.

»Ich brauche alles, was du an Informationen über den Palast und seine Konstruktion zusammenkratzen kannst.«

»Ich werde Vater Harper bitten, dich in den Dokumentenraum zu führen. Wir besitzen Tausende von Büchern, in denen die in den vergangenen Jahrhunderten vorgenommenen Änderungen aufgezeichnet worden sind. Doch Gott weiß, es ist uns trotzdem nie gelungen, eine Schwachstelle zu finden, die wir hätten ausnutzen können. Aber vielleicht gelingt es ja dir.«

»Darauf baue ich.«