KAPITEL
7

 

 

Cole Tahn marschierte mit vor der Brust gekreuzten Armen auf der ovalen Brücke der Hoyer auf und ab. Seine enganliegende purpurne Uniform sah taufrisch aus. Die goldenen Litzen auf seinen Schultern glänzten im harten Licht. Der große Mann mit dem braunen Haar und den blauvioletten Augen bewegte sich mit der beherrschten Kraft eines jagenden Löwen.

»Halloway, wie lange dauert es noch, bis wir den Lichtsprung beenden?«

Sie warf ihr rotbraunes Haar über die Schulter zurück und kontrollierte die Monitore auf dem Navigationspult. »Knapp drei Minuten, Sir.«

»Macey?« wandte sich Tahn an seinen rothaarigen Kommunikationsoffizier. »Sobald Kayan in Sicht kommt, funken Sie jeden Colonel unserer sechs Stützpunkte an.«

»Aye, Sir. Botschaft?«

»Sagen Sie ihnen, wir kommen unter Berufung auf Absatz zweiundzwanzig des Vertrags von Lysomia. Ich will, daß sofort der Notstand ausgerufen wird: Ausgehverbot, Hausdurchsuchungen und Aussetzung der Habeas-corpus-Akte. Sagen Sie diesen Leuten, wir wissen, daß Baruch dort unten ist. Bei Gott, diesmal werden wir ihn schnappen. Jeder, der diesem Kriminellen Unterschlupf gewährt hat, wird mit sofortiger Hinrichtung bestraft. Haben Sie das?«

»Jawohl, Sir.«

Das gesamte Farbspektrum ergoß sich über den Frontschirm, als sie den Lichtsprung beendeten. Purpurne und gelbe Farbwirbel waberten an den Rändern des Schirms entlang. Kayan schwamm in Sicht, üppig, blau und mit großen, von Wolken gesäumten Ozeanen.

Tahns Schultermuskeln versteiften sich und ein unangenehmes Gefühl der Furcht erfüllte seinen Magen. Er ging auf die zweite Ebene hinunter, trat direkt vor den hellen Schirm und starrte den Planeten an.

»Baruch«, flüsterte er. »Verdammt, ich weiß, daß du dort bist. Diesmal werden wir aufeinander treffen. Dieses Mal endet die Geschichte!«

 

Zadok und Rathanial standen unbehaglich in dem großen Raumhafen. Über tausend Menschen drängten sich in dem großen, rechteckigen Saal und machten lautstark ihrem Unmut über Verspätungen und abgesagte Flüge Luft.

»Ich kann solche Orte nicht ausstehen«, grummelte Zadok und wischte sich die schweißnassen Handflächen an der Robe ab.

»Regierungsgebäude?«

»Alle überfüllten Orte.« Er lehnte sich mit einer Schulter an die verschmutzte, ehemals weiße Wand. Wie lange war es her, seit er sich zum letzten Mal freiwillig in eine derart brenzlige Situation begeben hatte? Menschenmengen kamen ihm wie Käfige vor, wenn Gefahr drohte, konnte man nicht flüchten, sondern bestenfalls über seine Nachbarn stolpern. Insgeheim warf er Rathanial vor, ihn überredet zu haben, hier hineinzugehen.

»Vorhin sah es so aus, als würde es bald regnen. Aber die Wolken sind wieder verschwunden. Möchtest du lieber draußen warten?« In seiner irisierenden, mit Amethysten verzierten silbernen Robe sah Rathanial wie ein König im Exil aus.

Zadok seufzte und begutachtete den Weg zur Tür, auf dem sie sich zwischen mindestens hundert schwitzenden, parfümierten Körpern hindurchdrängen müßten. »Nein, ich glaube nicht, daß ich das ertragen würde.«

»Wir könnten langsam gehen, dicht an der Wand entlang.«

»Wo mag Yosefs Schiff nur sein? Er sagte, er hätte einen direkten Flug gebucht.«

»Vielleicht sind sie verspätet gestartet.«

»Vielleicht.«

»Du weißt doch, wie unzuverlässig manche dieser schnellen Schiffe sind. Oft genug besteht die Mannschaft aus inkompetenten Glücksrittern.«

»Hmmm.«

»Ich werde gern draußen mit dir warten, wenn du möchtest«, bot Zadok noch einmal an. »Auch wenn ich ehrlich gesagt glaube, daß es hier drinnen sicher ist. Wenn …«

»Glaubst du?«

Zadok strich sich mit der Hand über den feuchten Schädel und reckte neugierig den Kopf. Irgendwo aus den Tiefen seiner Erinnerung stieg der stechende Geruch von Orillianischen Kiefern auf, und er sah wieder den Raumhafen vor sich, den sie vor hundert Jahren erobert hatten. Nach Angstschweiß stinkende Gefangene hatten sich in seinem Innern zusammengedrängt.

»Zadok?« hallte eine Stimme in seinem Bewußtsein wieder. Rulinsi, der junge Lieutenant mit dem goldfarbenen Haar, winkte ihm zu. »Was sollen wir mit denen hier machen?«

Die Zivilisten waren so schnell und in so großer Menge zusammengetrieben worden, daß niemand sie hätte zählen können. Diese Gruppe bestand hauptsächlich aus Kindern. Zadok drängte sich durch die Menge hindurch, als sich die Explosion ereignete. Ihr Zentrum lag irgendwo am äußeren Flügel seiner Truppen und die Wucht der Detonation jagte Blut und Gliedmaßen durch die Luft. Zadok warf sich zu Boden, als die Gefangenen zu den Türen stürmten. Was war passiert? Hatten seine Leute versäumt, alle Gefangenen zu durchsuchen?

Derartige Fehler kamen immer wieder vor, wenn man es mit Menschenmengen zu tun hatte. Stets gab es zu viele Feinde und zu wenig Verbündete.

»Wenn ich genau darüber nachdenke, gehe ich doch lieber nach draußen«, erklärte Zadok plötzlich und machte sich auf den Weg zur Tür, wobei er sich zwischen den Menschen hindurchdrängte.

Rathanial runzelte die Stirn, folgte ihm dann aber. »Abba, willst du dich nicht nach dem Flug deines Bruders erkundigen, bevor wir gehen? Vielleicht ist er um Stunden verschoben worden! In dem Fall gäbe es keinen Grund für uns, in der Stadt zu bleiben. Wir könnten dann zu den Höhlen zurückkehren.«

Zadok verhielt mitten im Schritt. Plötzlich kam es ihm so vor, als würden sich die Wände um ihn herum schließen. Eine innere Stimme riet ihm, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. Er leckte sich nervös über die Lippen und schaute sich um. Ein kleiner Mann mit schütterem schwarzem Haar starrte ihn hitzig an und wandte sich dann ab.

»Ich weiß nicht …« Natürlich, was Rathanial vorgeschlagen hatte, erschien durchaus sinnvoll, doch er konnte diese Vorstellung nicht ertragen. »Nein, ich gehe. Wenn sie in einer Stunde nicht hier sind, können wir …«

Seine Aufmerksamkeit wurde auf einen jungen Mann gelenkt, der sich langsam durch die Menge in seine Richtung vorarbeitete. Er trug einen schwarzen Sprunganzug und hatte einen dichten, rotblonden Vollbart. Zadok musterte die scharfgeschnittenen Züge und die harten blauen Augen. War das etwa …? Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen und die Haarfarbe stimmte nicht, außerdem verdeckte der Bart viel von dem Gesicht. Aber dennoch …

»Ich glaube«, wandte Zadok sich flüsternd an Rathanial, »unsere Pläne haben sich gerade geändert.«

»Was immer du willst, Abba. Sag mir nur, was wir …«

In diesem Moment drängte sich ein kleiner Mann mit schütterem schwarzem Haar durch die Menge hinter Zadok und rief: »Verräter! Wir werden dich aufhalten! Im Namen des Mashiah!«

Die Luft knisterte, und ein sengender Schmerz durchzuckte Zadoks Brust. Die Füße gaben unter ihm nach und er stürzte schwer gegen die Tür.

»Nein!« rief der Blonde und warf sich über ihn, um ihn zu schützen.

Von einem Moment zum anderen verwandelte sich das Gebäude in ein Tollhaus aus gräßlichen Schreien und trampelnden Füßen.

Zadok lag still da und betrachtete das Blut, das aus seinem Mund strömte. Er wußte, was die dunkle Farbe zu bedeuten hatte. Zu viele Menschen hatte er schon sterben sehen, um sich jetzt selbst zu täuschen. Schwach zupfte er am schwarzen Ärmel seines Beschützers.

»Jeremiel … im ersten Moment war ich nicht sicher, ob du es wirklich warst.«

»Spar deine Kräfte, Abba«, sagte der Mann, zog seine Impulspistole heraus und schwenkte sie herum. »Ich bringe dich hier irgendwie raus.«

»Rathanial?« keuchte Zadok und hustete wegen des Blutes, das in seiner Kehle gerann.

»Ja?«

»Er … er hat nach dir geschickt. Er ist …«

»Der Wüstenvater von Horeb?«

Zadok nickte zitternd.

»Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber …«

Zadok erlitt einen weiteren Hustenanfall, und Jeremiel drehte ihn sanft auf die Seite, damit das Blut leichter abfließen konnte.

»Hör zu«, keuchte Zadok verzweifelt. »Der Schleier … du mußt die alten Texte kennen … um durch die Himmel zu gelangen.«

»Schnell!« ließ sich Rathanials aufgeregte Stimme vernehmen.

Wie durch einen grauen Nebel sah Zadok, wie er einen Mann zur Seite schob und an Jeremiels Seite eilen. Ein paar Schritte entfernt lag der kleine Mann mit dem schütteren Haar. Er war tot, seine Kehle aufgeschlitzt.

»Wir müssen verschwinden. Sofort!«

Jeremiel hob Zadok mit seinen kräftigen Armen auf und lief hinter Rathanial her. Die Menschen machten ihnen weiträumig den Weg frei und starrten dabei voller Grauen auf die Blutspur, die sie auf dem Boden hinterließen.

»Jeremiel …«, keuchte Zadok. »Das Mea Shearim … gib es … gib es meinem Enkelsohn. Und … und sag Mikael, er soll …«

»Mach ich, Abba.«

Mit letzter Kraft hob Zadok die Hand, ergriff das geheiligte Objekt, drückte es gegen seine Stirn und konzentrierte sich. »Baruch … atta Epagael.«

»Sag das nochmal, Abba. Ich konnte dich nicht richtig verstehen.«

Zadoks Blick verschwamm, und er hörte eine tiefe, beruhigende Stimme, die immer und immer wieder seinen Namen rief. Dann spürte er Jeremiels Arme nicht mehr, die ihn trugen, und die Schreie in der Halle verklangen ebenso wie Rathanials hektische Anweisungen, mit denen er den Weg zu den Höhlen beschrieb.

Zadok spürte, wie er fortgezogen wurde. Ohne jede eigene Anstrengung flog er durch einen gewaltigen Ozean der Leere, und nicht einmal das Licht der Sterne begleitete ihn auf seiner Reise.

 

Der Mond hing wie eine silberne Münze über dem Platz, warf sein gespenstisches Licht auf die verrenkten Körper und beleuchtete das Tor und die dahinterliegende leere Straße. Felsblöcke, die hier und da vor den Häusern des Händlerviertels der Stadt aufragten, sahen wie große, zusammengekauerte Bestien aus, deren Schatten sich in unheimlichen Mustern über den Platz ausstreckten. Der Wind strich wispernd zwischen den Geschäften hindurch und trug den Duft von frischem Brot und süßen Gewürzen heran. In einigen Häusern brannte Licht.

Rachels Seele erschauerte. Horeb erwachte und blickte sie an.

»Warten sie dort draußen, um auch den Rest von uns umzubringen?« jammerte eine Frau irgendwo in der Nähe des Tores. »Lieber Gott, was sollen wir tun?«

»Wir können nicht hier bleiben«, erwiderte ein unbekannter Mann. »Uns bleibt keine Wahl.«

Die Überlebenden drängten sich vor dem Tor zusammen, schwarze Schatten in der hellen Nacht, deren müde Gesten monströse Schatten über die rot und grau gemusterte Rückwand warfen.

»Wir müssen jetzt schneller gehen, Baby. Kannst du noch durchhalten?« fragte Rachel das Kind, das sich auf ihrem Rücken festklammerte.

»Ich bin schrecklich müde.«

»Nur noch ein kleines Stück, dann können wir ausruhen, in Ordnung?«

Sybil ließ den Kopf auf eine Art und Weise nach vorn fallen, die Rachel als Nicken deutete, und klammerte sich stärker an die Mutter. Rachel mobilisierte die letzten Kraftreserven ihres dehydrierten Körpers, um festen Halt für ihre Hände und Knie zu finden. Viele der Leichen waren inzwischen steif geworden und erleichterten ihr das Vorankommen. Als sie beim Tor anlangten, stellte Rachel fest, daß die Zahl der Überlebenden weitaus größer war, als sie für möglich gehalten hätte. Es mußten an die zweihundert sein. Die Verletzten, die Alten und die Kinder drückten sich dicht an die Mauer, während die jüngeren Leute sich ein paar Schritte vom Tor entfernt sammelten. Entlang der Mauern erstreckte sich ein schmaler Streifen freien Bodens. Offenbar waren die Menschen zum Zentrum des Platzes gelaufen, als die Soldaten das Feuer eröffnet hatten. Jetzt bildete dieser Streifen eine hilfreiche Pufferzone zwischen den Lebenden und den Toten. Als Rachel den Rand des Leichenberges erreichte, zog sie ihre Tochter vom Rücken herunter und setzte sie auf dem Boden ab. Sybil stolperte und stürzte. Ihre Beine waren zu schwach, um sie zu tragen.

»Alles in Ordnung?«

»Ja«, schniefte Sybil und wischte sich die Nase mit dem Arm ab, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf den grausigen Weg zurückblickte, den sie gekommen waren.

»Bleib dicht bei mir. Lauf auf keinen Fall weg. Verstanden?«

Sybil nickte, krallte sich mit einer Hand an Rachels blutdurchtränktem Gewand fest und zog sich hoch. Zusammen schlurften sie los, um sich der Gruppe am Tor anzuschließen. Sie bestand aus etwa zwanzig der beherztesten Überlebenden, die sich jetzt zu den Neuankömmlingen umdrehten.

»Ich … ich glaube, wir sollten versuchen, einer nach dem anderen hinauszuschleichen«, sagte ein hochgewachsener Mann mit hellbraunem Haar und einem scharfgeschnittenen Gesicht. »Wenn sie dort draußen sind, bemerken sie eine einzelne Person nicht, die in der Dunkelheit rausschlüpft.«

»Sei nicht albern«, meinte Rachel.

Der Mann fuhr herum und starrte sie an. »Wer bist du?«

»Rachel.«

»Ich bin Colin, und ich mag es nicht, wenn man mich albern nennt. Wir können nicht einfach …«

»Die Soldaten haben wärmeempfindliche Sensoren und Nachtsichtgeräte an ihren Gewehren«, erklärte Rachel. Diese Bauern wußten nur sehr wenig über die Hochtechnologie, die im letzten Jahr Einzug auf Horeb gehalten hatte. »Falls sie einen Hinterhalt gelegt haben, werden sie sich freuen, wenn sie es mit einem Ziel nach dem anderen zu tun haben. Nein, wir müssen geschlossen hinausgehen.«

»Alle auf einmal? Dann werden sie uns doch mit Sicherheit bemerken …«

»Schon, aber eine Massenflucht wird sie für einen Moment überraschen, und wenn wir dicht beieinander bleiben, können einige von uns überleben.«

»Ich werde mich nicht opfern, um jemand anderen vor dem Feuer zu schützen«, rief eine pummelige kleine Frau rechts neben Rachel. Ihr rotes Haar leuchtete selbst in dieser Dunkelheit.

»Entweder unternehmen wir gemeinsam einen Versuch, oder wir werden alle getötet.«

»Besser, einige von uns überleben, als niemand«, flüsterte eine tiefe, müde Stimme hinter ihnen.

Rachel erkannte die Stimme. Sie drehte sich um und blickte Talo an. Gestützt auf seine Nichte Myra stolperte er näher. Er hatte einen Arm verloren. Der mit schmutzigen Lumpen umwickelte Stumpf ragte in einem unmöglichen Winkel aus seiner Schulter. Sein grauer Bart leuchtete in dem bleichen Licht so hell, daß es schwierig war, sein Gesicht zu erkennen.

»Talo«, begrüßte Rachel ihn, »ich bin froh, daß Sie es geschafft haben.«

»Gott hat noch etwas mit mir vor.«

»Leben heißt hoffen«, japste Myra und atmete tief durch, als sie neben Rachel und Sybil stehenblieben. Ihr hübsches Gesicht war von dunklen Blutergüssen gezeichnet und ein Auge beinahe vollständig zugeschwollen.

»Nicht wenn wir auf diesen Idioten hören«, erwiderte Rachel und deutete müde auf Colin.

Der Mann zuckte zusammen. »Du arrogante …«

»Wir sollten das Tor gemeinsam stürmen, wie?« meinte Talo zu Rachel und streifte Colin mit einem kurzen Blick. »Ganz meine Meinung. Wann gehen wir los?«

Ein Durcheinander ablehnender Stimmen wurde laut. »Lächerlich! Wir werden ihnen in die Falle gehen wie ein Fischschwarm ins Netz. Überleben können wir nur, wenn wir heimlich hinausschleichen! Ich werfe doch nicht mein eigenes Leben für euch andere weg!«

»Versteht ihr denn nicht?« sagte Rachel. »Wir wissen nicht, wo die Wachen sind. Aber mit Sicherheit wird der größte Teil von ihnen rings um das Tor versteckt sein. Unsere größte Chance besteht darin …«

»Dann sollten vielleicht ein paar von uns auf der gegenüberliegenden Seite über die Mauer klettern«, erklärte Colin hoffnungsvoll und schaute sich beifallheischend um. »Dort werden nicht so viele Wachen lauern.«

Talo schüttelte den Kopf. »Geh, wenn du willst. Ich werde bei der Gruppe bleiben, die es am Tor versucht.«

Die rothaarige Frau rang schluchzend die Hände. »Ich bin zu erschöpft, um den Platz noch einmal zu überqueren. Das schaffe ich nicht.« Sie preßte die zitternden Finger an die Lippen.

»Was sollen wir mit den Verwundeten machen?« fragte Colin ruppig. »Wenn wir das Tor stürmen, können wir sie unmöglich mitschleppen. Aber wenn wir uns nacheinander hinausschleichen, kann zumindest jeder von uns ein Kind mitnehmen.«

»Wir müssen die Verwundeten, die nicht aus eigener Kraft laufen können, zurücklassen«, erklärte Rachel kühl und hielt den vorwurfsvollen und feindseligen Blicken der anderen stand.

Haß zeichnete sich auf den Gesichtern ab, doch Rachel war lediglich verärgert über ihre unvernünftige Einstellung. Ein Blick auf die Sternbilder am Himmel verriet ihr, daß die Morgendämmerung weniger als zwei Stunden entfernt war. Lancer, der Speerwerfer, berührte bereits mit einem Fuß die höchsten Gipfel der fernen Berge.

Ein Windstoß jagte um den Platz und peitschte den Saum von Rachels blutiger Robe, bis er riß. Der Gestank von Tod und Verwesung überwältigte sie beinahe. Ihr leerer Magen krampfte sich zusammen. Sybil umklammerte das Bein ihrer Mutter und schloß die Augen. Rachel strich ihr sanft über das Haar.

»Würdest du deine Mutter hier zurücklassen?« fragte die Rothaarige wütend. »Du bist genauso schlimm wie der Mashiah.«

»Meine Mutter ist an der Seuche gestorben«, entgegnete Rachel ruhig. »Doch wenn sie hier wäre und ich wüßte, es würde für vier oder fünf von euch den Tod bedeuten, sie zu tragen, würde ich sie zurücklassen.«

»Vier oder fünf? Was redest du da?«

»Viele von uns, die unverletzt sind, werden stolpern und fallen und dabei andere mitreißen. Nun überleg dir mal, um wieviel langsamer du gehen müßtest und wie schnell du stürzen würdest, wenn du jemanden trägst. Und dann würden gleich zwei Körper die übrigen behindern. Wenn dort draußen ein Hinterhalt wartet, bedeutet ein Sturz den Tod.«

»Vielleicht gibt es gar keinen Hinterhalt!«

»Dann können wir zurückkommen und ohne Angst die Verwundeten holen.«

»Und«, fügte Colin mit hohler Stimme hinzu, »wenn wir die Verletzten zurücklassen und es gibt einen Hinterhalt, werden sie mit Sicherheit sterben.«

»Ja. Zweifellos.«

»Was ist mit den Menschen, die dort noch am leben sind?« Der Rotschopf wandte sich um und schaute auf das grausige Bild der aufgedunsenen Leichen, die den Platz bedeckten. Die Toten schienen sich unablässig zu winden und zu zucken, doch bei genauerem Hinsehen erkannte man, daß sich hungrige Nachttiere an ihnen zu schaffen machten. »Ein paar leben sicher noch, sind aber unter den Körpern begraben und zu schwach, um sich selbst zu befreien. Wir sollten den Platz absuchen und rufen. Vielleicht hören wir jemanden antworten.«

Rachel und Talo schauten sich an und senkten dann den Blick. Niemand unterstützte den Vorschlag der kleinen Frau, denn instinktiv wußten sie, daß eine so langwierige Suche für sie alle den Tod bedeuten würde.

»Ich … ich muß wenigstens meiner Mutter helfen«, sagte die Rothaarige unsicher. »Ihr anderen seid mir egal!« Sie wandte sich ab und schleppte sich zu den Verletzten hinüber. Als sie die Mauer erreichte, wurde sie von einer dünnen, älteren Frau umarmt. Der Wind trug ihr Schluchzen davon. Es klang wie die klagenden Töne einer Violine.

Rachel ließ den Blick über die Gruppe schweifen. Furcht und Hoffnung zeichneten sich auf den erschöpften Gesichtern ab.

Lastende Stille breitete sich aus. Die gierigen Schreie der Vögel, die sich am Fleisch der Toten gütlich taten, wuchsen zu einer gräßlichen Kakophonie aus Krächzen und Zetern an. Der Mond warf geisterhaft silbernes Licht über schlagende Flügel und hackende Schnäbel. Rachel glaubte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes die geduckte Gestalt eines wilden Hundes zu erkennen. Er mußte auf dem Bauch unter dem Tor hindurchgekrochen sein.

»Ich … ich werde meinen Onkel tragen«, erklärte ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren. Er wandte sich um und ging. Viele andere folgten seinem Beispiel.

Talo stieß schnaubend die Luft aus. »Rachel, Sie kennen den Mashiah besser als jeder andere von uns. Hat man dort draußen einen Hinterhalt gelegt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ist es möglich, daß er uns entkommen lassen will? Vielleicht, damit wir von diesem Massaker berichten und andere dadurch einschüchtern?«

»Ja«, sagte Colin erleichtert, »das wird es sein. Das ist der Grund, warum das Tor offen ist. Er will, daß wir …«

»Es ist offen?« fragte Rachel. Die Angst ließ ihre Stimme scharf wie ein Messer klingen. »Hast du das überprüft?«

»Ja, sofort als ich hier ankam. Es ist zugezogen, aber nicht verschlossen.«

Rachel stand wie erstarrt da. Die Lähmung, die sie befallen hatte, rührte zum Teil von der nächtlichen Kälte her, aber auch von einer schrecklichen Vorahnung. Die zarte Pflanze der Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, starb wieder ab. »Dann ist es mit Sicherheit eine Falle. Er wußte, daß ein paar überleben würden und … Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen uns schnell etwas einfallen lassen.«

»Aber vielleicht haben wir einen Freund dort draußen, und das Tor ist deshalb offen«, wandte Colin ein.

Verzweifelte Hoffnung spiegelte sich auf den Gesichtern der Umstehenden. Jeder wollte daran glauben. Rufe wie: »Ja, ein Freund will uns helfen«, und: »Natürlich, sie können unmöglich alle Alten Gläubigen zusammengetrieben haben. Dort draußen wartet ein Verwandter«, durchdrangen die Nacht. Die Menschen warfen hoffnungsvolle Blicke auf die leere, vom Mondlicht beschienene Straße jenseits des Tores.

»Seid keine Narren«, murmelte Rachel. »Wir können uns nicht darauf verlassen.«

»Gott ist der einzige Freund, dem wir vertrauen können«, flüsterte Talo kläglich.

Rachel schaute ihn verwundert an. Selbst nach allem, was sie durchgemacht hatten, erstrahlte der Glaube noch immer in seinen dunklen Augen. Tief in ihrem Innern, in einer Nische ihres geschwächten Selbst, glühte Haß auf, nicht so sehr auf Talo als vielmehr auf jeden, der immer noch glauben konnte. Sie wollte Talo an die Kehle fahren und schreien: »Du dummer, dummer Narr! Was hat Gott denn heute für dich getan?« Doch ihr fehlte die Kraft.

Kleine Gruppen von Menschen näherten sich ihrem Kreis. Manche waren zu alt und erschöpft, um stehen zu können. Sie sanken zu Boden, kaum daß sie bei der Runde angekommen waren, wo die Entscheidungen getroffen wurden. Viele halfen Verletzten, auch wenn einige von ihnen selbst humpelten, und alle waren so schwach, daß sie keuchten und zitterten. Doch jeder von ihnen lauschte ängstlich und mit weit aufgerissenen Augen.

»Sind wir uns einig, daß wir das Tor stürmen?«

»Ich bin dafür«, sagte Talo.

»Ich auch«, erklärte Myra.

Zögernd stimmten auch die anderen im Kreis zu, sogar Colin. Dennoch dauerte es noch fast eine Stunde, bis sie die Unstimmigkeiten darüber, wer wo stehen und wer als erster gehen sollte, ausgeräumt hatten. Dann wappneten sie sich für das, was kommen würde. Als die Dämmerung den Horizont grau verfärbte, führte Rachel Sybil an die Spitze der Gruppe und stellte sich neben Talo. Der alte Mann schaute ruhig auf die Straße hinaus, der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

»Tut sich irgend etwas?« flüsterte Rachel, während sie ihren Blick über die Häuser schweifen ließ.

Talo schüttelte den Kopf. »Nichts Verdächtiges. Sehen Sie? Dort drüben sammeln sich die Steintauben vor der Bäckerei und warten wie jeden Tag auf Abfälle.«

In dem gelben Laden mit den großen Schaufenstern brannte Licht. Ein langgestrecktes goldenes Rechteck beleuchtete die Vögel, die vor der Tür auf und ab stolzierten.

»Nett.«

»Ja, es sind gute Vögel, Freunde. Ich habe sie immer gefüttert. Jeden Morgen. Ich habe das Brot mitgebracht, das vom Abendessen übrig war, mich für ungefähr eine Stunde dort auf den Felsen gesetzt und ihnen die Brocken zugeworfen. Sie kennen mich.«

Er lächelte, als wüßte er, daß er das schon bald wieder würde tun können. Kalter Schmerz erfüllte Rachels Herz. Keiner von ihnen würde sich je wieder der Freiheit erfreuen, die sie einst besessen hatten. Falls sie entkamen, würden sie sich verstecken müssen, bis sie den Mashiah und seine verderbte Clique stürzen konnten. Doch wie lange würde das dauern? Wie viele Jahre der Gewalt standen ihnen bevor?

»Der wahre Mashiah«, sagte Talo, während die Hoffnung in seinen Augen aufleuchtete. »Er ist nahe, wissen Sie das? Letzte Nacht habe ich mich an einen Vers in der Tahrea erinnert. Wenn ich die Zahlen richtig gedeutet habe, besagen sie, daß er binnen weniger Wochen hier sein wird.« Er lächelte schwach und ein wenig unsicher.

»Ich bete, daß Sie recht haben, Talo.«

»Ganz bestimmt. Sie werden schon sehen.«

Rachel stand schweigend da und beobachtete ein paar Minuten lang, wie das dunkle Grau der Nacht in ein perlmuttartiges Opalisieren überging, das die Sterne überstrahlte. Lancer versank hinter dem Horizont.

»Wir sind bereit«, rief Collin. »Die Dämmerung ist fast da. Wir sollten uns beeilen.«

Rachel schluckte hart und nickte. »Ich drücke das Tor auf. Sobald die Öffnung groß genug ist, stürmen wir hinaus. Hat das jeder verstanden?«

Sie warf einen letzten Blick auf die Menschen. Ausgemergelte Gesichter mit entzündeten Augen schauten sie an, Köpfe nickten. Mit ihren verfilzten Haaren und den blutdurchtränkten Kleidern sahen sie wie Ghoule aus der Finsternis von Aktariels Grube aus. Trotzdem zeigte sich auch Mut in ihren verängstigten Augen. Rachel wußte, diese Menschen würden mit dem letzten Rest ihrer Kraft ums Überleben kämpfen.

Obwohl die Geste eher ihrem Nationalstolz entsprang als religiösem Gefühl, bildete sie mit ihren Händen das heilige Dreieck. »Ich bete darum, daß wir alle es schaffen, meine Brüder und Schwestern.« Das Zeichen wurde überall in der Menge wiederholt. Die Menschen neigten ihre Köpfe im Gebet, bevor sie sich zum Aufbruch bereit machten.

Rachel hob Sybil auf ihre Hüfte.

»Ich habe Angst, Mom.«

»Ich auch, Liebes. Kannst du dich ganz fest halten?«

Sybil nickte und schlang die Arme um Rachels Hals. »Lauf schnell, Mommy.«

»Mach’ ich.« Sie küßte ihre Tochter auf die Wange und schloß für einen Moment die Augen, bevor sie tief Luft holte. Dann sammelte sie all ihren Mut, lief zum Tor, schob es weit auf und stürzte auf die rote Sandsteinstraße hinaus. Blitzschnell schlug sie die Richtung auf die Wohngebiete mit ihren flachen Dächern ein. Dort kannte sie die Kanäle und verborgenen Keller gut genug, um jeden Verfolger abzuschütteln.

Für einen kurzen Moment schien alles in Ordnung zu sein. Die Steintauben flogen auf und kreisten träge über ihnen. Rauch kringelte sich aus den Kaminen himmelwärts und reflektierte die blaßblauen Strahlen der Morgensonne, bevor er vom Wind fortgetrieben wurde. Der süße Duft von frisch gebackenem Weißbrot und Kuchen erfüllte Rachels Nase.

»Jetzt!« rief eine rauhe Stimme irgendwo in der Ferne.

Violette Lichtstrahlen jagten heran, trafen die Flüchtenden, rissen Arme und Beine ab. Das Krachen der Impulsgewehre verdichtete sich zu einem konstanten Donner und übertönte die panischen Schreie.

»Lieber Gott!« kreischte jemand. »Sie haben es getan. Lieber …«

»Mein Baby! Laßt mein Baby leben!«

Kurz bevor Rachel und Sybil die Sicherheit des Wohnviertels erreichten, hörte sie Talo schmerzerfüllt aufschreien und sah ihn fallen. Er lebte noch und wälzte sich auf dem Boden. Rachel packte Sybil fester und lief mit aller Kraft, während ihr Herz bis zum Hals schlug.

Die aufgehende Morgensonne beleuchtete einen wachsenden See aus Blut, das durch die Straßen von Seir rann.

Rachel bog um eine Ecke und stürmte in eine enge Gasse. Der Schatten der hohen Gebäude tauchte ihren Weg in völlige Dunkelheit. Dennoch fand sie die rechteckige Öffnung, die sie schon hundert Mal benutzt hatte. Sie trat die Kanalabdeckung beiseite und schob Sybil in die nasse Finsternis. Dann rutschte sie auf dem Bauch hinterher und zog am Deckel. Mit einem metallischen Laut landete die Abdeckung wieder an ihrem angestammten Platz.