KAPITEL
27
Der Wind heulte um den Palast, drang durch Ritzen neben den Fenstern ins Innere und ließ Rachel frösteln. Sie ging langsam durch die Marmorgänge und bewunderte den goldenen Glanz der mit Stickereien reich verzierten Teppiche. Warum waren die Flure dieses Stockwerks stets verlassen? War es den Dienern verboten, bestimmte Bereiche des Gebäudes zu betreten? Oder galt das nur für die Privatgemächer des Mashiah?
Ihre Schritte hallten hohl wider, als sie vom Teppich auf den Steinboden trat und um eine Ecke ging. Vor ihr erstreckte sich ein langer, von flackernden Lampen hell erleuchteter Gang. Heiligenstatuen aus Achat säumten die Wände und blickten mit steinernen Augen auf sie herab.
Rachel blieb stehen und holte tief Luft. Hinter der goldschimmernden Tür am Ende des Gangs befanden sich Adoms Schlafräume. Komm zum Abendessen zu mir, hatte er sie eingeladen. Wir können uns über Milcom und Horeb unterhalten.
»Milcom und Horeb«, flüsterte sie leise. War das alles, was er heute nacht von ihr wollte? Sie dachte an die Ausstattung ihres eigenen Zimmers, das er für sie hatte vorbereiten lassen. Mit den prächtigen Gewändern, parfümierten Seifen und juwelenbesetzten Kämmen und Bürsten erweckte es den Eindruck, sie solle dort seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend ausstaffiert werden. Und sie hatte das Spiel wie eine professionelle Kurtisane mitgemacht und ihm zu Gefallen ein prachtvolles, flammendrotes Gewand angelegt und ihr bis zu den Hüften herabwallendes rabenschwarzes Haar mit funkelnden Brillanten geschmückt.
»Und wenn er mehr will als nur reden?«
Diese Möglichkeit beschäftigte sie schon seit Tagen, doch sie hatte sich noch nicht zu einer Entscheidung durchgerungen, sondern es vorgezogen, die Realitäten so lange wie möglich zu verleugnen.
Sie wappnete sich, als stünde eine Entscheidungsschlacht bevor, und schritt rasch auf die Tür zu. Sie wollte schon klopfen, zog die Hand aber wieder zurück. Er hat dir nichts angetan, nicht wahr? Genau genommen ist er sogar ganz anders als jener Mashiah, der dich seit Jahren in deinen Träumen heimgesucht hat. Sie hob abermals die Hand, klopfte und rief leise: »Adom?«
Eine Sekunde später öffnete Adom die Tür und lächelte sie bewundernd an. »Du siehst großartig aus. Bitte komm herein. Das Essen wird in einer halben Stunde serviert.«
Sie trat über die Schwelle und blieb wie angewurzelt stehen. Der Raum durchmaß rund sechzig Fuß und ähnelte einer der großen barocken Kathedralen der Legende. Marmorbögen zierten die Wände und schufen zahllose, aus Licht und Schatten gebildete Nischen. An der Decke zeigte ein dreidimensional wirkendes Fresko das Antlitz eines kristallenen Gottes vor dem Hintergrund des sternenbedeckten schwarzen Himmels.
Mit offenem Mund trat Rachel einen Schritt vor und flüsterte ehrfürchtig: »Mashiah…«, verstummte jedoch sofort wieder angesichts der Pracht, die ihr schier den Atem nahm.
»Schön, nicht wahr?« fragte Adom mit sanfter Stimme.
»Schöner, als ich mir je hätte träumen lassen.«
»Wie es heißt, hat ein terranischer Architekt diesen Raum vor mehr als tausend Jahren für einen der ursprünglichen Könige von Horeb entworfen. Für Edom, wenn ich mich recht entsinne. Er muß ein richtiger Halunke gewesen sein. Angeblich soll es im Palast Hunderte von Geheimgängen geben, die angelegt wurden, damit Edom notfalls rasch entkommen konnte.«
»Einer zweifellos wohlverdienten Vergeltung entkommen konnte.«
»Ich fürchte, ja.«
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: »Ich verstehe jetzt, weshalb du meist so leise sprichst.« Obwohl sie die Worte beinahe geflüstert hatte, schienen die vielfältigen Echos sie zu verfolgen.
Er lächelte, und seine reine Seele schien sich in den blauen Augen widerzuspiegeln. Bei seinem Blick war ihr, als würde er in sie hineinkriechen und ihre Seele gegen die seine pressen. Charismatisch … er war so charismatisch.
»Ich nehme an, hier zu wohnen, hat tatsächlich Auswirkungen auf mein Verhalten«, sagte er und führte sie zu einem Tisch, der vor zwei großen, geöffneten Fenstern stand. Die hereinströmende kühle Brise ließ die Lampen auf dem Tisch flackern.
Adom zog einen Stuhl für sie heran und fragte: »Darf ich dir ein Glas Wein anbieten? Wir haben sehr guten Rotwein, aber auch …«
»Rotwein. Ja, danke«, erwiderte sie, während sie Platz nahm.
Er verneigte sich leicht und ging dann zu einem hohen Schrank hinüber. Als er die Doppeltüren öffnete, sah sie Reihen von staubigen Branntwein- und Weinflaschen und darunter Becher, Gläser und kristallene Dekantiergefäße.
Während Adom mit dem Wein beschäftigt war, schaute sich Rachel genauer um und runzelte verwirrt die Stirn. Rechts von ihr stand ein großes Bett, das offenbar hastig zugedeckt worden war. Unter dem Bett entdeckte sie Becher und Gläser, die offenbar schon seit geraumer Zeit dort lagen und standen, denn die Flüssigkeitsreste, die sie einst enthalten hatten, waren längst eingetrocknet, und in einem der Gläser wucherte sogar dicker, grüner Schimmelpilz.
Rachel warf Adom einen neugierigen Seitenblick zu, als er zwei Gläser und eine Flasche Wein auf den Tisch stellte.
»Stimmt etwas nicht?«
»Adom, läßt du eigentlich nie jemanden hier saubermachen?«
Er errötete leicht und zuckte die Achseln. »Nicht, wenn ich es ihnen ausreden kann.«
»Du hast mehr als hundert Diener hier im Palast. Traust du ihnen nicht?«
»Oh, ich traue ihnen schon, es ist nur … nun ja, wenn sie hier aufgeräumt haben, finde ich meine Bücher nicht wieder.« Er deutete auf ein Bücherregal, das aus der Marmorwand herausgefräst worden war. »Sie stellen sie immer wieder dorthin zurück, und ich brauche Stunden, um sie dann herauszusuchen.«
»Aber du könntest ihnen befehlen, nur das Bett zu machen und das Geschirr mitzunehmen.«
»Vermutlich«, meinte er und füllte die Gläser. »Aber dann würden sie jeden Tag die Laken wechseln, und ich …«
Adom druckste herum wie ein Kind, das man mit den Fingern in der Keksdose erwischt hat. Er zog seinen Stuhl näher heran, runzelte die Stirn und verzog unbehaglich den Mund. Ein sonderbarer Mann, so unschuldig und schwach. Wie ein Kind. Seine ganze Art drängt mich, ihn vor der Unbill des Lebens zu beschützen. Erinnere dich an den Platz!
»Du möchtest nicht, daß sie die Laken wechseln?«
»Das ist es nicht … genau. Die meiste Zeit über bin ich hier allein, praktisch im Palast eingesperrt – natürlich zu meinem eigenen Besten«, setzte er eilig hinzu.
»Was hat das mit den Laken zu tun?«
»Ich fürchte, ich habe ein paar Eigenheiten entwickelt.«
»Du magst schmutzige Laken?«
Er schaute sie an wie ein kleiner Junge, der sich davor fürchtet, ausgeschimpft zu werden. »Ich mag es, abends in ein Bett zu steigen, dessen Laken … nach menschlichen Gerüchen duften. Ich fürchte, ich würde durchdrehen, wenn ich nach einem langen Tag hierher käme und nur Seife riechen würde. Weißt du, ich komme nie nahe an die Menschen heran. Meine Welt ist steril. Und so möchte ich mich wenigstens in meinem eigenen Schlafraum wie ein Mensch fühlen.«
Sie wollte schon über seine kindlichen Ängste lächeln; dann aber dämmerte ihr die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte. Einsamkeit quälte ihn. Und sie wußte, was Einsamkeit bedeutete. Nach Shadrachs Tod hatte nur der Gedanke an Sybil sie aufrecht gehalten. »Es muß sehr schwer sein, als Gott auf einem Podest zu stehen. Ich kann begreifen, daß du zumindest in deinen eigenen Gemächern ein einfacher Mensch sein möchtest.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es überhaupt keine Wärme auf der Welt. Ich fühle mich leer und ganz schrecklich, bis …«
»Bis du heimkommst zu deinen schmutzigen Laken?«
Er lächelte scheu. »Ja, dann fühle ich mich besser.«
»Ich verstehe.« Sie dachte an Shadrachs beruhigenden Geruch. Wenn sie tagsüber ein Nickerchen gemacht hatte, dann immer auf seiner Seite des Bettes, die noch nach ihm roch. Und so begriff sie auch, weshalb jemand, der sonst niemanden hatte, seinen eigenen Geruch als angenehm und beruhigend empfand.
»Du verstehst das? Wirklich?«
»Ja.« Sie hob ihr Kristallglas und betrachtete die Lichtreflexe auf der dunklen Flüssigkeit.
»Die meiste Zeit über muß ich mich anstrengen, um perfekt zu erscheinen. Aber hier in meinem Zimmer kann ich mich entspannen.«
»Ja, und dich an den Ort in deinem Innern zurückziehen, der dir immer zuhört.«
»Der zuhört und meint, es wäre völlig in Ordnung, schmutzige Teetassen unter dem Bett zu haben.«
Trotz ihrer noch immer vorhandenen Angst mußte Rachel lachen. Sie kannte diesen Ort in ihrem Innern sehr gut. Es war der einzige Ort im ganzen Universum, an dem sie sich sicher fühlen und ganz sie selbst sein konnte.
Ein Windstoß fuhr durch das Fenster und brachte die Kerzenflamme zum Flackern. Sie schaute auf und begegnete seinem Blick. Eine ganze Weile sahen sie sich schweigend an.
»Ich habe ein Geschenk für dich«, flüsterte er plötzlich.
»Was denn?«
»Ich hole es schnell.« Er sprang auf und holte eine kleine Schachtel aus einer Schublade seines Frisiertischs. »Es ist sehr selten«, meinte er, als er ihr die Schachtel mit einer eleganten Verneigung überreichte.
»Was ist es denn?«
»Öffne es.«
Sie blickte unsicher zwischen der Schachtel und dem erwartungsvoll dreinschauenden Mann hin und her.
»Mach es auf!«
Sie öffnete die mit Samt ausgeschlagene Schachtel und blickte verwundert auf den an einer goldenen Kette befestigten blauen Ball. »Es ist schön. Aber was ist es?«
»Eine Halskette.«
»Das sehe ich, Adom. Aber woraus ist es gemacht?«
Er grinste achselzuckend. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Woher hast du es?«
Sein Lächeln verschwand, und er schaute unbehaglich zu Boden. »Das ist ein Geheimnis. Aber du mußt es tragen.«
Sie hob das Objekt an der Kette aus der Schachtel und hielt es ins Kerzenlicht. Ein sehr seltsamer Gegenstand. Auf seiner Oberfläche bildeten sich weiße Muster, die an den Schaum aufgewühlter Wogen erinnerten. Zudem schien der Gegenstand das Licht nicht zu reflektieren, sondern von innen heraus zu leuchten.
»Du weißt nicht, was es ist?«
»Nein, aber gefällt es dir nicht? Ich fand es höchst interessant.«
»Ja, das ist es auch, Adom. Aber … ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Er griff nach der Kette, beugte sich vor und legte sie ihr um den Hals. Rachel erschauderte, als der blaue Globus ihre nackte Brust berührte. Wärme ging von ihm aus.
»Du darfst die Kugel nicht mit deinen Händen berühren«, erklärte er, wirkte dabei allerdings etwas unsicher. »Jedenfalls glaube ich, daß du es nicht darfst. Zumindest hat man mir gesagt, daß ich es nicht darf.«
»Und warum darf ich es nicht mit den Händen berühren?«
»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.«
»Warum ist es so hell?« Sie warf einen Blick auf das Artefakt, das auf ihrer olivfarbenen Haut ruhte und von Sekunde zu Sekunde heller strahlte. Es erschien ihr fast wie ein lebendiges Wesen, das sich von ihrer Energie ernährte.
»Ich … als ich es getragen habe, hat es nicht so reagiert. Vielleicht hat es eine besondere Affinität zu dir.«
»Möglicherweise mag es Frauen, die aus dem Hause Ephraim stammen.«
»Du stammst von diesem Hause ab?«
»Jedenfalls hat mein Vater das immer behauptet. Allerdings habe ich nie so recht daran geglaubt.«
»Nun, vielleicht ist das der Grund, warum der Globus so aufleuchtet, wenn du ihn trägst.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob mir das gefällt.«
»Oh, mach dir keine Sorgen. Es wird dir bestimmt nicht schaden. Mil … Du hättest es nicht bekommen, wenn es nicht sicher wäre.«
»Mil …? Milcom, was?«
Seine Wangen röteten sich, als würde er sich selbst dafür tadeln, daß ihm das Geheimnis entschlüpft war. »Was ich eigentlich sagen wollte, ist, daß Gott über uns wacht. Ich bin sicher, er würde nicht zulassen, daß irgend etwas dir Schaden zufügt.«
»Ich traue den Göttern nicht besonders. Und schon gar nicht, wenn es darum geht, mich vor Schaden zu bewahren.«
»Gott liebt uns, Rachel. Er verbringt sehr viel Zeit damit, durchs Universum zu reisen, um unsere Zukunft zu sichern.«
»Tatsächlich?«
»O ja. Jedesmal, wenn ich ihn in letzter Zeit gesehen habe, wirkte er völlig erschöpft.«
»Er kommt in physischer Gestalt zu dir?«
»Normalerweise. Manchmal höre ich aber auch nur seine Stimme oder spüre seine Macht.«
»Wie sieht er aus?«
Adom hob den Kopf und blickte zu dem Fresko an der Decke. Rachel folgte seinem Blick zu dem kristallenen Gott, der durch die Schwärze das Alls schwebte. Winzige Lichtfunken bildeten eine Art schimmerndes Netz um ihn herum.
»So?«
Er nickte und seufzte schwer, als hätte Milcoms Abbild ihn zutiefst berührt.
»Wie oft kommt er zu dir?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Er ist sehr beschäftigt, mußt du wissen.« Die Linien in seinem Gesicht vertieften sich, als spiegelten sie einen inneren Kampf wider. Schließlich richtete er sich auf und erklärte: »Rachel, ich muß dir etwas sagen.«
»Über die Halskette?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Milcom hat mich letzte Nacht besucht.« Er spielte nervös mit seinem Weinglas.
»Was hat er gesagt?«
»Er meinte, ich dürfte dich nicht mehr in die Höhlen der Wüstenväter zurückkehren lassen – nie mehr.«
Sie krümmte sich zusammen, als hätte ihr jemand ein glühendes Eisen in den Magen gebohrt. Er wußte über die Wüstenväter Bescheid? Wußte er, daß sie dort gewesen war? Und was wußte er sonst noch? Daß sie vorhatten, seine Regierung zu stürzen? Und daß sie ihn …? Sie umklammerte ihren Weinkelch, um das Zittern ihrer Finger zu verbergen. »Warum?«
»Weil du dort in Gefahr bist. Ich … ich weiß nicht genau, um was für eine Gefahr es sich handelt. Er hat es mir nicht gesagt. Aber er hat befohlen, dich hier zu behalten, bis er zu dir kommt.«
»Zu mir kommt?«
»Er sagte, wenn es an der Zeit wäre, würde er dir den Weg zum Fluß des Feuers zeigen.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Weißt du, wo das ist?«
»Nein.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Er wird es dir zeigen. Er hat mir schon viele Orte und Dinge gezeigt, die ich nie für möglich gehalten hätte.«
Sie nickte kurz und bemühte sich verzweifelt, gleichmäßig zu atmen. Ein Fluß aus Feuer und ein blauer Globus, der von irgendeiner mysteriösen Energiequelle gespeist wurde? »Adom, was weißt du über die Wüstenväter?«
Er zuckte desinteressiert die Achseln. »Ach, nicht viel. Nur daß sie Teil einer geheimen religiösen Sekte sind und sich in den Höhlen unter der Wüste verbergen.«
»Kennst du dort jemanden?« Sie versuchte, beiläufig zu klingen, war sich aber nicht sicher, ob es ihr gelang.
»Nein, nicht direkt. Zumindest glaube ich das nicht. Manchmal kommt allerdings einer der Mönche in den Palast …«
»Weshalb?« Panik drohte sie zu überfluten. Wußte Jeremiel, daß jemand unter den Wüstenvätern Verbindung zum Palast hatte?
»Meist kommt er, um einige unserer Diener zu besuchen. Ich glaube, sie gehören zu seiner Familie. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich habe auch schon einmal mit ihm geredet. Er schien mir ganz nett zu sein.«
»Du weißt, daß sie an Epagael glauben?«
»Ja, sicher.«
»Warum hast du dann nicht versucht, sie zu vernichten?«
Er lächelte verwirrt. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil sie nicht konvertieren werden.«
»Das werden sie, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte er sanft. »Sobald Milcom beschließt, sie der Herde zuzuführen.«
»Was meinst du damit?« Rachel hatte das Gefühl, als hätte sich in ihrem Innern ein Abgrund aufgetan, an dessen Rand sie schwankend stand und in die ewige Finsternis hinabblickte. Laute, die sie auf jenem Platz gehört hatte, lähmten sie: Vögel, die an totem Fleisch zerrten; Babys, die an ihren eigenen Tränen erstickten; das Klagen von Menschen, die sich nie wieder aus eigener Kraft erheben würden.
»Warum …?« stöhnte sie mit erstickter Stimme.
»Was ist los, Rachel?«
»Ich … ich kann nicht …«
»Sag mir, was los ist«, flüsterte er und umklammerte sanft ihre Hand, die sie zu einer Faust verkrampft hatte. »Sag es mir. Wenn ich kann, werde ich es ändern.«
Sie starrte ihn an. Wer war dieser Mann mit den unschuldigen blauen Augen? Ein Mashiah, der es vorzog, sich mit schmutzigem Geschirr und gebrauchten Laken zu umgeben? Konnte dies der gleiche Tyrann sein, der ihr Volk zu Tausenden hingeschlachtet hatte, nur weil sie ihren Glauben an den alten Gott nicht aufgeben wollten?
»Warum strafst du einige, und andere nicht?«
Beschämt ließ er ihre Hand los und senkte den Blick. »Du meinst die Rebellen, die du angeführt hast?«
»Ja.«
»Manchmal müssen die Menschen wieder auf den rechten Weg gebracht werden, und das geht nicht immer schmerzlos ab. Wir …«
»Du hast Tausende umgebracht!«
Sein Kopf zuckte hoch, und er blickte sie direkt an. »Wovon redest du da?«
»Treib … treib keine Spielchen mit mir, Adom. Du hast den Tod von Tausenden der Alten Gläubigen befohlen. Den Tod meiner Familie und meiner Freunde!« Irgendwo in einem Winkel ihres Verstandes hörte sie Jeremiels warnende Stimme: Um glaubwürdig zu erscheinen, müssen Sie alles verleugnen, woran Sie je geglaubt haben … Sie müssen jeden preisgeben, dem Sie je vertraut haben. Lieber Gott, was hatte sie gerade getan?
Sein Gesicht wurde grau, sein Mund stand halb offen. »Ich erinnere mich, daß du damals im Tempel etwas Ähnliches gesagt hast. Aber ich weiß nicht, wovon du redest. Ich hätte so etwas niemals befohlen. Oh, sicher, es ist schon vorgekommen, daß ich einen Rebellen zur Arbeit in den Salzminen oder auf einer der staatlichen Farmen verurteilt habe, aber ich habe noch nie ein Todesurteil ausgesprochen.«
»Ich habe gesehen, wie sie starben – ich war mitten unter ihnen, um Himmels willen!« rief sie und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Vor einem Monat, auf dem Versammlungsplatz. Ornias kam in einem Samael und trug uns auf, deine Macht zu bezeugen. Dann befahl er den Marines, in die Menge zu feuern.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Rachel«, flüsterte er entsetzt. »Ich war die ganze Woche mit Milcom zusammen. Ich habe nichts davon gewußt … aber ich kann es auch nicht glauben.«
»Du hast es getan! Versuch nicht, mich zu täuschen!«
»Nein.«
»Ich glaube dir nicht.«
Sie hob den Kopf und starrte ihn an wie ein Adler, der eine Maus ins Visier nimmt. Er schaute flehend zurück. Seine Brust hob und senkte sich heftig.
»Rachel, so etwas würde ich nie tun.«
»Wer hat es dann getan?«
»Ich weiß nicht … Bitte, erzähl mir genau, was in den letzten Wochen geschehen ist.«
Wie in einer Sturzflut berichtete sie von den Schlägen, Vergewaltigungen, Überfällen, Beschlagnahmungen, von dem ganzen Grauen, unter seiner Herrschaft leben zu müssen. Während sie sprach, wurde sein Gesicht bleicher und bleicher, bis er fast wie ein Geist aussah.
Als sie geendet hatte, blickte sie ihn schweigend an. Er hatte die Augen niedergeschlagen, und sein Kinn zitterte. Hatte sie sich geirrt? Zielten ihre Mordpläne auf den falschen Mann? Es war immer Ornias gewesen, in dessen Anwesenheit die Befehle ausgeführt worden waren. Was war, wenn Adom von allem nichts gewußt hatte? Wenn Ornias der wahre Dämon war?
Adom hob langsam den Kopf. »Wenn du mich für so ein Ungeheuer gehalten hast, weshalb bist du dann in den Palast gekommen?«
»Um dich zu bitten, damit aufzuhören.«
Er spielte nervös mit den Zierborten an seiner Kleidung. »Dann geh davon aus, daß es aufhört. Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen, das verspreche ich dir.«
Lügen! Alles Lügen! Verzweiflung und Verwirrung schlugen wie eine Flutwelle über ihr zusammen. Doch seine ganze Haltung drückte Aufrichtigkeit aus. Sie unterdrückte ein Schluchzen und schlug die Hände vor die Brust.
»Rachel«, sagte er mit sanfter Stimme. Als sie nicht reagierte, erhob er sich und beugte sich über sie. »Rachel? Bitte, schau mich an.«
Sie ließ die Hände sinken und stellte fest, daß er neben ihr auf dem Boden kniete.
»Adom, was ist mit Ornias? Ist es möglich, daß er ohne dein Wissen gehandelt hat?«
Er senkte den Blick. »Falls ja, warum hat Milcom mir nichts davon gesagt? Er hat mir immer alles erzählt.«
»Vielleicht wußte er auch nichts davon?«
»Gott weiß alles.«
»Warum sollte er es dir dann nicht sagen?«
»Vielleicht hatte er Angst, ich könnte etwas Dummes tun. Manchmal … tue ich das.« Beschämt schaute er zu ihr auf, erhob sich dann und schritt auf und ab.
»Warum könnte Ornias befehlen, daß die Alten Gläubigen vernichtet werden?«
»Ich weiß es nicht. Aber er hat immer behauptet, seine Methoden, die Rebellion einzudämmen, wären ›sauber‹. Ich habe ihn nie gefragt, was er damit meint. Die Welt dort draußen ist seine Angelegenheit, verstehst du. Ich kümmere mich um die spirituellen Belange und er sich um die weltlichen.«
»Er kümmert sich sehr gut darum«, erklärte sie aufgebracht. »Auf der anderen Seite der Stadt flüchten die Menschen noch immer vor seinen Marines.«
Sie betrachtete seine vom Schein der Kerzen beleuchteten Züge. Jede Linie seines betroffenen Gesichts schien zu beweisen, daß er wirklich nichts gewußt hatte. Doch welchen Unterschied machte das schon? Ornias war offensichtlich die wahre Macht auf Horeb. Konnte Adom überhaupt etwas tun, um die Befehle zu weiteren Massenmorden zu widerrufen, die der Hohe Ratsherr bereits erteilt haben mochte?
»Rachel, bist du noch hungrig?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie war viel zu erregt, um jetzt etwas zu essen.
»Könntest du … würdest du mit mir in den Garten gehen? Wenn du mir erzählst, was in den letzten Monaten in deinem Stadtviertel geschehen ist, bin ich vielleicht eher in der Lage, alles zu verstehen.«
Sie erhob sich unsicher. »Ja, das … das kann ich tun.« Allerdings wußte sich nicht, welchen Nutzen es haben sollte, ihm von den Schrecknissen der letzten Zeit zu berichten. »Laß mich nur meinen Mantel holen. Ich treffe dich dann …«
»Nein, nicht nötig«, sagte er und holte schnell einen prachtvollen elfenbeinfarbenen Umhang aus seinem Schrank. »Bitte, nimm meinen.«
»Danke.«
Er legte ihr das Kleidungsstück um die Schultern und fragte: »Wird dir auch warm genug sein?«
Sie schaute nach unten und sah, daß der Rand des Umhangs über den Boden schleifte. »Ich werde den Saum im taunassen Gras ruinieren.«
»Das ist mir gleich.«
Er holte einen schwarzen Samtumhang aus dem Schrank und legte ihn sich selbst um. »Komm. Wir können unser Abendessen auf dem Weg nach unten in der Küche abbestellen.«
Sybil saß auf dem braunen Teppich in Avels Zimmer. Das Feuer im Kamin knisterte und wärmte ihr den Rücken. Avel stand neben seiner Schlafmatte und wühlte in einer Kiste nach einem Buch mit alten Märchen.
»Avel?«
»Hm?« brummte er, ohne aufzublicken.
»Eines Tages werde ich eine hübsche Halskette haben.«
Er entdeckte das gesuchte Buch und kam zu ihr zurück. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen neben sie und legte ihr das Buch in den Schoß. »Hier ist es. Grimlins Märchen. Es wird dir gefallen.«
»Hast du jemals eine Halskette gesehen, die wie eine leuchtende Kugel aussieht, Avel?«
Er runzelte die Stirn. »Nein. Aber das berüchtigte Mea sieht so aus. Wo hast du davon gehört?«
Sybil ließ ihre Finger über das Buch gleiten. Das Titelbild zeigte einen Jungen und ein Mädchen, die am Ufer eines Flusses spielten. »Ach, ich habe letzte Nacht davon geträumt. Meine Mom wird es mir geben, wenn ich alt genug bin.«
»Ich hoffe, du hast recht. Denn das würde bedeuten, daß noch immer ein Mea existiert.«
»Wie ist es im Innern des Palastes, Avel? In meinem Traum habe ich meine Mom dort gesehen, wie sie die Halskette trug.«
»Tut mir leid, Sybil, ich bin nie im Palast gewesen. Ich weiß nicht, wie es dort aussieht.«
»Ich glaube, es gibt dort rosa Wände und große Statuen.«
Er zog die Knie an, schlang die Arme darum und blickte Sybil forschend an. »Nach allem, was ich gehört habe, stimmt das. Was hast du noch geträumt?«
Sie scheute sich, ihm noch mehr von ihren »komischen« Träumen zu erzählen. »Ach, das war fast schon alles.«
»Fast?«
»Ja, es ging eigentlich nur um die Kette und den Palast.« Doch in ihrer Erinnerung sah sie noch das Bild des jungen Mannes mit dem lockigen schwarzen Haar, der die Kette auf seine Stirn gelegt hatte. Sie selbst hatte ihre Stirn von der anderen Seite dagegen gepreßt, und dann hatten sie sich geküßt. Seine Lippen hatten sich warm und weich angefühlt und sonderbare Empfindungen in ihr hervorgerufen. Und die Halskette zwischen ihnen hatte so hell aufgeleuchtet, daß sie die Augen schließen mußte.
»Liest du mir jetzt ein Märchen vor, Avel?«
Er nickte nachdenklich. »Sicher. Und vielleicht reden wir hinterher noch ein bißchen über deinen Traum?«
»Vielleicht.«
Sie gab ihm das Buch und wich dabei seinem Blick aus.