KAPITEL
5

 

 

Die Höhlen von Kayan bildeten ein verwirrendes Labyrinth unter der üppig bewachsenen Oberfläche des Planeten. Schmale Gänge wanden sich auf einer Länge von vielen tausend Meilen durch den harten, zimtfarbenen Fels. In den finstersten Tiefen des Irrgartens gab es Höhlen, die nur Zadok bekannt waren.

Während er den Tunnel entlanghumpelte, zählte er die Abbiegungen. »Hunderteinundzwanzig.« Seine Lampe erleuchtete einen noch engeren Schacht.

Wenn Rathanial seine Anweisungen exakt befolgt hatte, sollte er jetzt in der kleinen Nische warten, die Zadok liebevoll das Sanctum nannte. Falls nicht, würden sie ihn hoffentlich ein paar Tage später verwirrt und verängstigt auf einer der höheren Ebenen wiederfinden. In den vergangenen zweihundert Jahren hatte er lediglich einen Besucher verloren. Und wenn er genauer darüber nachdachte, war das auch ganz gut so gewesen. Er hatte den starken Verdacht gehabt, daß es sich bei dem Mann um einen Spion der Magistraten gehandelt hatte, der ausgeschickt worden war, um ihn zu ermorden – auch wenn dieser Bursche natürlich die besten Referenzen hatte vorweisen können.

Zadok nahm die letzte Abzweigung, »hundertzweiundzwanzig«, und marschierte die Wendeltreppe hinab, die aus dem Gestein herausgehauen worden war.

In diesem tief gelegenen Teil der Höhlen roch der Fels trocken, und in der Luft hing ein Hauch von Gewürz. Jeder Schritt hallte von den Wänden wieder. Selbst seine Atemzüge wurden in dem engen Korridor vervielfacht, bis sie aus jeder Pore des Steins zu dringen schienen. Kein Fremder konnte sich dem Sanctum nähern, ohne gehört zu werden.

Zadok betrat die innere Höhle und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr benutzt. Die runde Höhle durchmaß etwa zehn Fuß und die Decke war so niedrig, daß große Besucher gebückt stehen mußten. Kerzenlicht tanzte auf den glatten Wänden und auf Rathanials faltigem Gesicht.

»Du hast gesagt, du willst einen abgeschiedenen Raum haben. Ich hoffe, der hier genügt deinen Bedürfnissen.«

»Das hoffe ich auch«, murmelte Rathanial unsicher.

Zadok betrachtete seinen Freund forschend. Was konnte er hier in dieser einsamen und von Milliarden Tonnen Fels geschützten Kammer noch fürchten? »Es tut mir leid, daß ich zu spät komme. Ich mußte noch …«

»Keine Entschuldigungen«, sagte Rathanial rasch und erhob sich. Seine mit goldenen Stickereien verzierte Robe schimmerte im Licht.

»Beerdigungen brauchen ihre Vorbereitungszeit«, erklärte Zadok nichtsdestotrotz. »Alle Verwandten müssen unterrichtet werden. Mein Bruder Yosef und sein Freund Ari Funk kommen her.«

»Von Tikkun?«

»Ja. Es ist zwar eine große Entfernung, aber er hat versprochen, eine schnelle Transportmöglichkeit zu suchen, damit er schon übermorgen hier sein kann.«

»Ich bin dir dankbar, daß du bereit warst, dich in dieser Zeit der Trauer mit mir zu treffen.«

Zadok zwang sich zu einem Lächeln, das so warm ausfiel, wie es ihm eben möglich war. »Ich besorge uns Wein. Du hast einen weiten Weg hinter dir und bist, wie ich weiß, schon viel länger als geplant geblieben.«

Rathanial nickte respektvoll und nahm wieder Platz. Zadok holte Zinnbecher und eine Flasche cassopianischen Rotwein aus einer Nische in der Felswand und blies den Staub ohne große Umstände einfach aus den Trinkgefäßen heraus.

Als er sich umdrehte, um zu dem kleinen Tisch zu gehen, fiel ihm die spärliche Ausstattung des Raums auf. Nur ein Tisch und zwei Stühle, die auf einem alten, handgewebten braunen Teppich standen, befanden sich in der Höhle. Er erinnerte sich daran, wie orange- und lohfarbene Muster den Stoff geschmückt hatten, doch sie waren schon längst verblichen. War alles auf der Welt zu Braun verblaßt? Hatte das ganze Universum beschlossen, sich in sich selbst zurückzufalten? Obwohl er gebadet und die Kleidung gewechselt hatte, drang ihm immer noch der Geruch von Blut in die Nase. Ezarin … ein scharfer Schmerz durchfuhr seine Brust.

Er stellte die Becher auf den Tisch, füllte sie, ließ sich dann auf den harten Stuhl fallen und schaute seinen Besucher müde an. Rathanials weißes Haupt- und Barthaar leuchtete in dem sanften Licht. Ängstlich erwiderte er Zadoks Blick.

»Erzähl mir von deinem neuen Mashiah. Du wärest nicht zu mir gekommen, wenn du es nicht zumindest für möglich hieltest, daß er …«

»Ich bin nicht sicher, Abba. Wir brauchen dich, um ihn zu prüfen.«

»Ihn zu prüfen«, wiederholte Zadok und lehnte sich zurück. Das bedeutete, Kayan und seine Familie zu verlassen. Allerdings war jetzt kaum die richtige Zeit, sich auf anderen Welten herumzutreiben. Außerdem war er nicht nur diese Parade der Scharlatane leid – er bezweifelte auch, daß er eine weitere Prüfung durchstehen konnte.

»Ich werde nicht …«

»Du bist der einzige, der den geheimen Pfad zum Schleier Gottes kennt!«

Zadok stieß einen ungehaltenen Seufzer aus. »Natürlich.« Der Weg durch die sieben Himmel zum Schleier, wo die Taten aller Generationen und auch der wahre Mashiah verzeichnet waren, war ein Geheimnis, das er erst bei seinem Tod weitergeben konnte – der, wie er befürchtete, nicht mehr allzu fern sein mochte.

»Abba, ich sorge mich, daß wir ohne deine Hilfe nicht überleben werden. Wir brauchen …« Er hielt plötzlich inne und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen im Raum um. Dann beugte er sich so weit über den Tisch, daß Zadok den Geruch von schalem Parfüm und Schweiß wahrnehmen konnte.

»Sag mir, was ihr braucht.«

Furcht loderte in Rathanials dunklen Augen. »Schreckliche Dinge geschehen.«

»Zum Beispiel?«

Rathanial holte tief Luft, und ein kurzer Schauder überlief ihn. »Abba, ich schwöre, ich habe getan, was ich konnte. Ich habe Pamphlete über die Bösartigkeit des Mashiah verteilt. Ich habe in der Wüste geheime Treffen mit den politischen Führern von Seir abgehalten …« Er schluckte. »Doch nicht einer hat auf mich gehört. Es liegt daran, daß Adom so ungeheures Charisma besitzt! Niemand sieht ihn so, wie er wirklich ist! Er wirkt so unschuldig und rein, daß die Menschen getäuscht werden! Und ich habe versucht …«

»Rathanial, sag mir Einzelheiten!«

Der weißhaarige Mann erhob sich und ging ein paar Schritte auf und ab. Seine Robe glitzerte wie Maisfasern bei Sonnenaufgang. Zadok bemerkte, wie sein Mund zitterte. Dann, als hätte man ihn überrascht, preßte Rathanial seine Finger fest auf die Lippen, um sie ruhig zu halten. »Es gibt … Lauscher bei all unseren Treffen, Abba.«

»Lauscher? Du meinst Verräter?«

»Nein, nein, ich meine … außerweltliche ›Zuhörer‹.«

Zadok saß bewegungslos da, während das gelbflackernde Licht über seine verwitterten Züge spielte. »Erkläre mir das.«

»Ich wünschte, ich könnte es, Abba. Ehrlich, wenn ich wüßte …«

»Versuch es.«

»Einige in unserer Gemeinschaft glauben, die Zuhörer sind Adoms Schutzengel. Der Mashiah behauptet, wundersame Dinge hätten sich bei seiner Geburt abgespielt, und er hat Zeugen, die das bestätigen.«

»Ist das nicht bei allen so?« Zadok rieb sich über den Nasenrücken und lächelte schwach. »Ständig tauchen Erlöser auf, wie Unkraut im Garten. Es ist unsere Pflicht, sie auszurupfen und unser gewohntes Leben weiterzuführen.«

»Dieser Erlöser ist anders.«

»Ach?«

Rathanial fuhr sich nervös durch das weiße Haar und nahm wieder Platz. »Es heißt, ein Mann von blendend weißer Gestalt sei an seiner Wiege aufgetaucht. Der Mann wickelte Adom Kemar Tartarus in eine Windel aus Feuer und gab ihm Flammen zu essen.«

»Demnach kennt er die alten Geschichten über Elijahs Geburt. Offenbar ist er gebildeter als die meisten anderen Scharlatane.«

»Seit er an der Macht ist, verdorrt das Gras.«

»Horeb ist eine Wüstenwelt. Dort gibt es so oder so kaum Gras. Ein paar Regentropfen mehr oder weniger, und schon …«

»Es ist kein natürliches Phänomen. Selbst in schlechten Jahren hatten wir immer genug Gras, um die Herden zu füttern.«

»Ach.« Zadok hob skeptisch die buschigen grauen Augenbrauen. Offenbar schien bereits jeder zu glauben, daß dieser Erlöser entweder der wahre Retter war oder der angekündigte Antimashiah, der dem wahren Erretter vorausgehen sollte. Und anscheinend wollte niemand an Kapriolen der Natur glauben.

»Und welche Antwort hast du auf die Seuche, die siebzig Prozent unserer Bevölkerung dahingerafft hat?« fragte Rathanial scharf.

»Was für eine Seuche?«

»Die Bergtäler sind voll von unseren Toten! Wir haben keinen Platz, um die vielen Leichen zu beerdigen …«

»Warum hat der Rat von Horeb mir nicht geschrieben?«

»Zadok«, flüsterte Rathanial eindringlich, während seine Augen den Raum überprüften, als suchte er nach ›Lauschern‹, »das haben wir getan. Sehr oft sogar. Du hast nie geantwortet. Deshalb habe ich mein Leben riskiert und bin hergekommen, um selbst mit dir zu sprechen.«

»Ich habe nie ein Schreiben bekommen.«

»Das weiß ich jetzt. Aber zuerst dachte ich … Nun, du weißt, wie abgelegen Horeb ist, und wir haben kaum solche Probleme mit der Regierung wie andere gamantische Welten. Es gibt keine Einmischung, was unsere Schulen oder unsere Staatsführung angeht.«

Zadok senkte den Blick und beobachtete, wie das Licht den rotbraunen Wein in seinem Becher funkeln ließ. Irgend etwas an dieser ganzen Geschichte stank zum Himmel. Weshalb waren seine eigenen geheimen Quellen innerhalb Rathanials Gemeinde nicht in der Lage gewesen, diese Nachrichten weiterzuleiten? Lebten diese Informanten überhaupt noch? Und falls nicht, wieso nicht? Wer war der Verräter? »Berichte mir von der Seuche.«

»Scheußliche Wunden, die verstümmeln und töten. Es heißt … man sagt, unsichtbare Dämonen nagen am Fleisch unseres Volkes. Gott weiß, daß ich das nicht glaube. Aber das spielt im Grunde keine Rolle mehr, denn die Seuche ist fast vorüber, jetzt, wo jeder tot ist, der zum Hause Ephraim gehört.«

»Der Zweig des Volkes, aus dem der letzte Mashiah hervorgehen soll?« Zadok rekapitulierte die alten Prophezeiungen, während sein Blick über die staubbedeckten Weinflaschen in der Nische wanderte. Der erste Mashiah stammte von Yosef ab, der zweite aus dem Hause David. Wie die Geschichte lehrte, waren beide im Kampf um das Überleben der Gamanten gestorben. Und der dritte Mashiah sollte aus dem Hause Ephraim kommen. Dieser Erlöser würde das Volk endgültig befreien, besagte die Legende. Zadok wandte seine müden Gedanken dem zu, was Rathanial ihm gerade berichtet hatte. Ein Punkt in dieser Geschichte hatte etwas in ihm zum Klingen gebracht. »Wie war doch gleich der volle Name dieses Mashiah?«

»Adom Kemar Tartarus.«

»Diese Anfangsbuchstaben bedeuten irgend etwas«, grübelte Zadok. »Weißt du vielleicht …?«

»A-K-T? Sie sind auch auf seiner Stirn eingebrannt. Angeblich hat dieser Mann aus Feuer sie bei seiner Geburt dort hinterlassen.«

»Hm.« Wo hatte er schon einmal von diesen Buchstaben gehört? Der weitaus größte Teil der alten Schriften war während der letzten gamantischen Revolte – einer Revolte, die er selbst angeführt hatte – von den Magistraten verbrannt worden. Diese Buchstaben jedoch rührten eine tief in seinem Innern schlummernde Furcht an. »Du hast nicht vielleicht eine Ausgabe der Apokalypse von Daniel? Möglicherweise war es aber auch die Apokalypse von Ezra …«

Rathanial schüttelte den Kopf. »Keines von beiden, fürchte ich. Die Magistraten haben unsere Bibliothek vor hundert Jahren ›gesäubert‹, wie sie es genannt haben. Warum fragst du?«

»Ach, es war nichts von Bedeutung.«

»Vielleicht gibt es auf Tikkun eine Ausgabe. Du könntest deinen Bruder bitten, die Archive zu überprüfen.«

»Das habe ich selbst schon vor ein paar Jahren getan. Vielleicht gibt es überhaupt kein Exemplar dieser Bücher mehr. Ein Jammer, denn gerade sie erzählen eine Menge über die Ankunft des Mashiah und seine Aufgaben.« Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen. »Erzähl mir mehr von Tartarus. Woher kommt er? Was für ein Mensch ist er?«

»Ein eigenartiger Bursche … geboren auf Horeb. Vor vierzehn Jahren, als er gerade fünfzehn war, kamen seine Eltern bei einem merkwürdigen Unfall in den Bergen ums Leben. Die ganze Familie wollte dort picknicken, doch irgendwie lösten sich ein paar Felsen, und die Eltern wurden von einem Erdrutsch verschüttet.«

»Aber der Junge überlebte?«

»Ja. Er behauptet, Milcom, sein Gott, sei direkt vor dem Erdrutsch zu ihm gekommen und habe ihn in die Hügel geführt, wo er ihm eine Reihe von Visionen eingab.«

»Welchen Inhalts waren diese Visionen?«

Rathanial zuckte die Achseln. »Das weiß niemand genau, doch Wochen später kam er aus den Bergen herab und predigte, Epagael sei böse und Milcom gut. Wie er sagt, stehen die beiden in einem ständigen Kampf um die Existenz des Universums.«

»Hat er seit jenem Unfall ständig gepredigt?«

»Ja. Doch erst in letzter Zeit hat er tatsächlich Anhänger gewonnen. Du mußt wissen, Adom war unser Äquivalent des ›stadtbekannten Trunkenboldes‹. Er torkelte in stinkende Lumpen gekleidet durch die Straßen und verkündete pathetisch seine frohe Botschaft, während er in den Abfällen nach Nahrung suchte.«

»Wie traurig«, murmelte Zadok. Was war auf Horeb aus der gamantischen Fürsorge geworden? Der Junge hätte von jemand aufgenommen und vor sich selbst geschützt werden müssen. Zadok rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Hat er den Verstand verloren?«

»Manchmal scheint es so. Die Diener in seinem Palast berichten, daß er stundenlang umherwandert, wenn Milcom zu ihm gesprochen hat, mit sich selbst redet und dabei wie ein Verrückter mit den Armen rudert. Doch zu anderen Zeiten scheint er vollkommen normal zu sein. Und genau dann wendet er sich an die Massen.«

»Und beeinflußt sie in seinem Sinne? Interessant. Sein Irresein muß ihm eine magnetische Ausstrahlung verleihen. Derartiges habe ich schon früher bei Geisteskranken erlebt. Dank ihrer Wahnvorstellungen besitzen sie ein so großes Selbstvertrauen, daß sie charismatisch und unbesiegbar erscheinen.«

»Ja, aber er hat kein Gespür für die Bedürfnisse seiner ständig wachsenden Herde. Er …«

»Das hat keiner dieser Propheten. Jeder lebt irgendwo in einer dunklen Ecke seines eigenen Verstandes, ohne Verbindung zur Wirklichkeit. Es ist eine erschütternde Krankheit.«

Rathanial nickte kurz, hielt den Blick jedoch auf die zernarbte Oberfläche des Tischs gerichtet. »Wahnsinn ist nicht gleichbedeutend mit Schwachsinn, vor allem dann nicht, wenn einem ein böser Genius zur Seite steht, der die religiöse Bewegung in die entsprechenden Bahnen lenkt.«

»Tartarus hat so einen Genius?«

»Ja, ein Fremdweltler namens Ornias.« Rathanials Stimme senkte sich zu einem Flüstern, während er argwöhnisch die Schatten im Raum beäugte.

»Ein Fremdweltler? Woher?«

»Seit vier Jahren versuche ich das herauszufinden, Zadok, doch es gibt praktisch keine Aufzeichnungen über ihn. Ich bin jedoch ziemlich sicher, daß er auf Palaia Station geboren wurde …«

»Palaia?« Ein Adrenalinstoß durchfuhr Zadok. »Der Sitz der galaktischen Magistraten?« Die möglichen Implikationen ließen ihn schwindeln. Ein Spitzel? Ein Agent, der die gamantische Kultur und Religion unterminieren sollte?

»Ja, aber nicht einmal das kann ich positiv bestätigen. Er muß mehrmals seinen Namen geändert haben und wie ein Glühwürmchen durch die Galaxis gehuscht sein. Denn gäbe es nicht ein paar vereinzelte Daten über ihn, könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, er wäre erst vor ein paar Jahren geboren worden, als er auf Horeb auftauchte.«

»Ich verstehe. Und was geschah, als er dorthin kam?«

»Er holte Adom sofort von der Straße, kaufte ihm Kleidung und kümmerte sich auch sonst um ihn. Für ein paar Monate hielt er ihn im Verborgenen. Dann startete er eine großangelegte Kampagne, in der er die Ankunft des ›verheißenen Mashiah‹ ankündigte. Als nächstes organisierte er eine Predigtreise über ganz Horeb, wobei er nicht einmal die kleinen Nomadendörfer in den Wüstengebieten ausließ.«

»Er hat ihn vermarktet, hm?«

»Ja.«

»Sieht so aus, als hätte es funktioniert.«

»Offensichtlich«, erwiderte Rathanial bitter. »Zur Zeit betreibt Ornias eine Kampagne, die alle Alten Gläubigen vernichten soll, indem er sie als Verräter oder Dämonen bezeichnet, die ausgeschickt wurden, um die Rechtgläubigen zu täuschen.«

»Was geschieht, wenn meine Prüfung Tartarus als Betrüger entlarvt und seine Anhänger mir nicht glauben? Fanatiker sind notorisch eigensinnig. Wie willst du mit ihnen umgehen?«

Rathanial hielt einen Moment den Atem an; dann platzte er heraus: »Ich habe versucht, es dir zu sagen.« Er rang die Hände.

»Was?«

»Ich habe Jeremiel Baruch gerufen. Er wird sich bei dir melden, ehe …«

»Warum?« Zadok beugte sich so schnell vor, daß er seinen Becher umstieß. Wein spritzte über den Tisch und lief in einem Rinnsal auf den Steinboden. Rasch zog er ein Taschentuch hervor, wischte die Flüssigkeit auf und ließ das vollgesogene Tuch dann an der Wand in der Nähe der Kerze liegen. »Baruch hat schon genug Sorgen, auch ohne deine Forderungen! Warum stellst du nicht eine eigene Truppe auf?«

»Adom und Ornias sind zu mächtig! Wir brauchen Hilfe!«

»Und wieso hast du das alles in die Wege geleitet, ohne mich zu fragen?«

Rathanials Lippen zitterten. »Ich dachte, ich hätte bereits deutlich gemacht, daß ich keinerlei Nachrichten an dich durchbekommen habe, Zadok. Baruch war der einzige, der auf meine Hilferufe geantwortet hat.«

»Ich dachte immer, du wärst gegen Gewalt?«

»Manchmal liegt in der Gewalt die einzige Rettung.«

Zadok preßte die Lippen zusammen und starrte lange zu Boden. Baruch wurde seiner subversiven Aktionen wegen von jedem galaktischen Beamten in diesem Sektor gesucht. Gerüchten zufolge hatten ihn die Magistraten im Akiba-System eingeschlossen. Falls er herkam, würde er nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, sondern zugleich auch seine ganze Armee. Wenn die Magistraten herausfanden, daß er seine Truppen verlassen hatte, würden sie mit Sicherheit angreifen, weil sie sich ausrechnen konnten, wie gefährlich schwach die Streitmacht ohne seine brillante Führung sein mußte.

»Deine Tochter«, kehrte Rathanial zögernd zum Thema zurück, »stammte von Ephraim ab?«

»Natürlich.«

Die Stille lastete schwer in der trockenen Höhlenluft. Rathanial betrachtete angelegentlich seinen Wein und wartete. Als Zadok nichts weiter sagte, fragte er düster: »Wie viele Frauen aus dem Hause Ephraim gibt es noch im gamantischen Volk?«

Zadok, der noch immer verärgert darüber war, daß Rathanial Baruch von seinen Truppen fortgezerrt hatte, antwortete scharf: »Meine Tochter Sarah und eine Cousine sechsten oder siebenten Grades. Vielleicht gibt es noch mehr, ich habe keine Ahnung.«

»Eine Cousine?«

»Ja, soviel ich weiß, lebt sie noch auf Horeb.«

»Wie heißt sie?«

Zadok zuckte die Achseln. »Das weiß ich wirklich nicht. Mein Vater mochte diesen Zweig der Familie nicht. Wir durften ihnen nicht einmal schreiben. ›Halunken und Wilde‹, so nannte er sie.«

Rathanial starrte ins Leere, während er alle Namen, die in Frage kommen mochten, vor seinem inneren Auge Revue passieren ließ. »Könnte es …«

»Versuch es gar nicht erst. Ich würde den Namen doch nicht erkennen, selbst wenn du ihn nennst.«

Nachdenklich blickten die beiden sich an. Rathanial war sichtlich bekümmert, bemühte sich aber, dies zu verbergen.

»Abba, ich weiß, daß ich dich verärgert habe, und das tut mir leid. Aber sicher verstehst du, daß ich keine andere Wahl hatte.«

»Du hättest herkommen sollen, bevor du dich an Baruch gewandt hast. Du hast uns alle in eine gefährliche Lage gebracht. Ohne den Untergrund sind wir mit Sicherheit verloren. Und die beste Möglichkeit, den Untergrund zu vernichten, besteht darin, seinen Anführer zu töten.«

Rathanial nickte betreten. »Ich habe einfach keinen anderen Weg gesehen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen. Trotzdem«, Zadok beugte sich vor und richtete einen Finger auf Rathanial, »trotzdem solltest du ihn nach besten Kräften schützen. Wenn ich herausfinde, daß du ihm nicht genug Deckung gegeben hast …«

»Bestimmt nicht. Ich habe ihm schon die besten Sicherheitsmaßnahmen garantiert, die ich aufbieten kann.«

Zadok ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken, streckte die Beine von sich und überkreuzte sie an den Knöcheln. »Gibt es sonst noch etwas, das du brauchst?«

»Nur eines.«

»Und das wäre?«

»Mir ist klar, daß es nicht der richtige Zeitpunkt ist und du hier gebraucht wirst, aber du mußt sofort kommen, um Tartarus zu prüfen. Bevor es zu spät ist und wir feststellen, daß er der Antimashiah der Prophezeiung ist. Wir können nicht zulassen …«

»Das ist eine andere Geschichte. Wieso glaubst du, er würde sich meiner Prüfung unterwerfen?«

»Weil er sich das Vertrauen seiner Anhänger erhalten muß. Du bist der Führer des gamantischen Volkes, und wenn du ihn aufforderst, sich der Prüfung zu unterziehen, wird er gehorchen müssen.«

»Ja, ja«, murmelte Zadok erschöpft. »Druck könnte funktionieren.« Er schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein, nahm einen Schluck und wischte sich die Lippen mit dem Aufschlag seines Ärmels ab. Das Getränk schmeckte stark harzig. »Laß mich erst einmal hier alles erledigen. Ich muß Yosef am Raumhafen abholen und mich um … die Beerdigung kümmern. Außerdem müssen wir auf Baruch warten. Anschließend kehre ich mit dir nach Horeb zurück.«

»Danke«, sagte Rathanial mit zaghafter Erleichterung und schloß für einen Moment die Augen. »Ich danke dir, Abba.« Er trank rasch seinen Wein aus, erhob sich und gab Zadok einen flüchtigen Kuß auf die Wange, bevor er zur Tür schritt. »Ich packe schon mal meine Sachen für die Reise.«

Zadok nickte müde und lauschte den schweren Schritten, die sich durch den Irrgarten aus gewundenen Korridoren entfernten.

Er hob seinen Becher, ließ die Flüssigkeit darin kreisen und betrachtete die feinen kastanienbraunen Wellen, die an der Zinnwand entlang liefen. Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, als würden die Wogen des Schicksals an ihm zerren. Er kannte Rathanial nun schon seit hundert Jahren, doch noch nie hatte er ihn so verängstigt und hilflos gesehen. Möglicherweise standen die Dinge auf Horeb schlimmer, als er erzählt hatte, und vielleicht hatte er sich deswegen in seiner Verzweiflung an Baruch gewandt. Trotzdem war Zadok verärgert darüber. Er schnaubte wütend und schlug sich mit der Faust auf den Schenkel, während er sich bemühte, die beunruhigende Folge von Ereignissen zu analysieren: Auf Horeb war unter einem neuen Mashiah, der von sich behauptete, der verheißene Erlöser zu sein, ein Bürgerkrieg entbrannt; Rathanial war nicht in der Lage gewesen, ihm auch nur eine einzige Nachricht darüber zukommen zu lassen; Baruch riskierte seinen Hals bei dem Versuch, die Probleme des Planeten zu lösen, und … Ezarin war brutal ermordet worden. Standen diese Ereignisse miteinander in Verbindung?

Wieder tauchten Bilder des schrecklichen Schattens vor ihm auf. Zadok spürte ein Prickeln auf seiner Haut und setzte sich aufrecht hin. »Ein außerweltlicher Eindringling? Oder doch nur deine Einbildungskraft, du alter Narr?«

Er lehnte seinen kahlen Kopf gegen die körnige Wand und betrachtete lange die zimtfarbene Decke. Innerlich fühlte er sich genauso hohl und kalt wie diese Höhle. »Denk nach! Das Volk erwartet von dir, daß du nachdenkst.«

Seine Gedanken wandten sich in dem Versuch, scheinbar Unvereinbares miteinander in Beziehung zu setzen, der Vergangenheit zu. Die Gamanten hatten stets in Schwierigkeiten gesteckt. Die Legenden behaupteten, ihre Begabung, sich Feinde zu machen, reiche bis zur alten Erde zurück, wo ihre fernen Vorfahren die alten Gebräuche geschützt hatten, indem sie sich verbargen und jeden töteten, der drohte, sie zu verraten. Die Geheimsekte, die aufgrund dieses Verhaltens entstanden war, gelangte in Abessinien und Shoa, dem Hochland von Äthiopien, zu einer gewissen Blüte. Doch mit der Sicherheit der Sekte war es vorbei gewesen, als die Erde die erste außerirdische Invasion erlebte. Die giclasianischen Militärgouverneure hatten alle »mystischen Kulte«, wie sie sie nannten, verboten, da sie argwöhnten, bei den Gottesdiensten handle es sich in Wirklichkeit um geheime Treffen von Widerstandsgruppen. Zudem wurden die Menschen umgesiedelt und unterschiedliche Kulturen und Religionen miteinander vermischt, um Konflikte zu fördern und Bündnisse zu erschweren. Dann zwang man die Bevölkerung, die eigenen Bodenschätze auszubeuten. Ein Teil der Erdbewohner wurde auf andere Planeten gebracht, ihre Familien mutwillig auseinandergerissen. Krieg folgte auf Krieg, und schließlich kam es zur Großen Kristallnacht. Die Gamanten fingen an, die alten Lehren zu vergessen. Langsam, aber sicher verwässerten andere Philosophien den ursprünglichen Glauben – oder bereicherten ihn, je nachdem, welche Sichtweise man bevorzugte. Tausend Jahre später, als Edom Middoth die Erde überfiel, um sein Heer von Sklaven zu vergrößern, wurden die alten Gebräuche durch das Exil endgültig ausgelöscht. Nach Jekutiels Sieg zerstreute sich das Volk und siedelte auf fernen Planeten. Die einzelnen Gruppen besaßen unterschiedliche Erinnerungen an Mythen, Legenden und Rituale, die zudem oft nur unvollständig überliefert worden waren. In ihrem Bestreben, ihre ursprüngliche Identität wieder herzustellen, suchten sie überall und übernahmen dabei auch fremde Traditionen, sofern sie ihnen nur einigermaßen vertraut erschienen. Heute wußte niemand mehr, in welchem Maß die derzeitigen Rituale den noch ursprünglichen glichen. Zadok störte das nicht. Die gamantische Kultur mochte sich verändert haben – aber sie hatte überlebt.

Seine Gedanken wanderten weiter, verharrten wahllos mal hier, mal dort, bis er schließlich den Faden verlor. Vielleicht war er zu erschöpft, um heute abend noch länger über diese Sache nachzudenken. Doch wieviel Zeit blieb ihm? Er schüttelte müde den Kopf und ließ das Kinn auf die Brust sinken.

So saß er bis tief in die Nacht in der Höhle, den Blick starr auf den Boden gerichtet.