KAPITEL
44
Yosef und Ari gingen durch den mit Schutt übersäten Gang. Die Lampe in Aris Hand zitterte und warf verzerrte Schatten über zerborstene Statuen und zerbrochene Möbel.
»Eine Todesfalle ist das«, murrte Ari und schaute zur Decke empor. »Jeden Moment könnte etwas von dort oben auf uns herabstürzen.«
Er tastete nervös nach der Pistole in seinem Gürtel. Yosef trug ebenfalls eine Waffe, auch wenn ihm das im Grunde zuwider war. Sie hatten sie gestern getöteten Palastwachen weggenommen – »für den Fall, daß wir uns den Weg freischießen müssen«, wie Ari bemerkt hatte.
»Es ist eine Schande. Das Bauwerk war so schön.«
»Ich frage mich, warum die Kanonen nicht mehr schießen. Glaubst du, der Krieg ist vorbei?«
Yosef zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es auch nur eine Feuerpause, damit Jeremiel die Stellungen verlegen kann.«
»Ja, vielleicht.«
»Sehen wir zu, daß wir die unteren Stockwerke erreichen, bevor es wieder losgeht.«
Sie stiegen die Treppe zum Erdgeschoß hinab und gelangten in einen unbeschädigten Gang. Yosef atmete auf. Vielleicht gelang es ihnen ja, hier einen Unterschlupf zu finden, wo sie für die nächsten Tage sicher wären.
»Glaubst du, Baruch wird siegen?« fragte Ari, als sie um eine Ecke bogen.
»Wer weiß. Mir kommt es so vor, als wäre in den letzten Stunden die ganze Welt in Flammen aufgegangen. Niemand gewinnt einen Krieg. Jeder verliert.«
»Aber wir müssen kämpfen. Nur so können wir unseren Feinden beweisen, daß wir nicht bereit sind, einfach aufzugeben und zu sterben, nur weil sie es wünschen.«
Yosef preßte die Lippen zusammen und blickte zu Boden. Zadok hatte nach der ersten gamantischen Revolte etwas Ähnliches gesagt. Er konnte noch die Stimme seines Bruders hören: »Wenn sie glauben, sie könnten uns mit Füßen treten, dann werden sie das auch tun! Wir müssen beweisen, daß wir zurückschlagen können. Denn sonst wird unser Volk aufhören zu existieren!«
Ari packte Yosefs Arm, um ihn zurückzuziehen. Er hatte nicht bemerkt, daß hinter der nächsten Ecke der Schein von Lampen zu sehen war.
»Kannst du sie verstehen?« flüsterte Ari.
Yosef lauschte angestrengt und vernahm eine Stimme, die sagte: »Ich weiß nicht. Einige behaupten ja, es wäre Baruch, der Führer der Untergrundbewegung, aber ich glaube das nicht so recht.«
»Baruch?« meinte eine andere Stimme ungläubig. »Gefangen von einem alten Mann mit einem Gewehr? Kann ich mir auch nicht vorstellen. Außerdem hast du ja gesehen, wie der Ratsherr ihn behandelt hat. Ein Schlag wie der hätte mich glatt für eine Stunde ins Reich der Träume geschickt. Wenn es wirklich Baruch war, warum hat Ornias dann nicht versucht, sich mit ihm zu verbünden? Wir sind doch schließlich alle Gamanten!«
Ari schaute Yosef besorgt an und schüttelte den Kopf. »Der Verräter?« flüsterte er.
Yosef nickte. War Jeremiel in die Höhlen zurückgekehrt, nur um dort von dem Verräter gefangen zu werden, den er eigentlich entlarven wollte? Er legte eine Hand ans Ohr, um noch mehr zu erfahren.
»Aber wenn es nun doch Baruch ist?«
»Was macht das jetzt noch aus?«
»Sehr viel, vielleicht. Nimm einmal an, diese Burschen, die wir eben in Ketten gelegt haben, gehören zu seinen Leuten. Vielleicht wartet seine Armee ja schon oben in den Hügeln darauf, über uns herzufallen.«
»Baruch, der Gamanten überfällt? Das glaube ich nicht.«
»Eigentlich sind wir ja gar keine richtigen Gamanten. Wir glauben an einen anderen Gott. Milcom …«
»Rede jetzt nicht davon, Sam! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß der Mashiah tot ist. Es … es bereitet mir Magenschmerzen.«
Yosef schloß die Augen. War das der Grund, warum der Beschuß aufgehört hatte? Hatte Rachel Adoms Anhänger entmutigt? Befanden sich Ornias’ Truppen auf der Flucht? Doch zu welchem Preis?
Ari schaute Yosef an und wisperte: »Wir müssen dort hinein und diese Männer befreien.«
»Aber wenn sie nicht zu Jeremiels Leuten gehören? Wenn …«
»Spielt keine Rolle. Jeder, den dieser häßliche Ratsherr in seinem Schreckenskabinett anketten läßt, verdient es, gerettet zu werden.«
»Aber wie?« fragte Yosef.
Aris Gesicht verdüsterte sich. Wortlos zog er die Pistole aus dem Gürtel.
Yosef tastete nach seiner eigenen Waffe, zuckte jedoch vor der Berührung zurück. »Ari, ich … ich weiß nicht, ob ich das …«
»Du mußt das auch nicht tun, Yosef. Bleib einfach hier und deck’ mir den Rücken.«
»Nein«, sagte Yosef leise. »Ich lasse dich nicht allein gehen.« Er zog ungeschickt die Pistole, rückte die Brille zurecht und meinte: »Also los, gehen wir.«
Gemeinsam bogen sie um die Ecke. Die Wachen sprangen auf und griffen nach ihren Waffen.
»Nicht!« rief Ari und zielte auf den Magen des Korporals. Die Männer hoben die Hände.
»Seid ihr nicht die Assistenten des Mashiah?« fragte der Korporal und leckte sich nervös über die Lippen.
»Ja. Öffnet die Tür.«
»Ich begreife das nicht, alter Mann. Habt ihr euch entschlossen, die Seiten zu wechseln, als ihr von seinem Tod gehört habt? Verdammt, gerade jetzt müssen wir doch zusammenhalten. Der Ratsherr sagt, der Mashiah hätte von jenseits des Grabes zu ihm gesprochen.«
»Öffnet die Tür!«
»In Ordnung. Nur nicht nervös werden.« Der Korporal nahm seinen Schlüsselbund und öffnete die Tür. Der andere Soldat blieb stocksteif stehen und ließ die Augen nicht von Aris Waffe.
»Yosef«, sagte Ari, »sieh nach, wer dort drin ist. Ich bleibe an der Tür und behalte die beiden hier im Auge.«
Yosef ging an Ari vorbei durch die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Vier Männer hingen angekettet an der Wand, ihre Füße schwebten ein Stück über dem Boden. Einer von ihnen mußte schon seit Wochen tot sein. Das eingefallene Gesicht war schmerzverzerrt, der Mund stand offen, und die toten Augen starrten blicklos zur Decke. Yosef schaute ihn erschüttert an. Er schien ein gutaussehender Mann gewesen zu sein. Handelte es sich bei ihm um ein weiteres unschuldiges Opfer dieses schrecklichen Krieges? Könnte er vielleicht heute noch leben, wenn er und Ari damals wie geplant hier heruntergekommen wären? In jener Nacht, als sie beobachtet hatten, wie Jeremiel von den Soldaten die Treppen hinaufgezerrt worden war?
Er richtete seinen Blick auf die Lebenden. »Gehört ihr zu Jeremiels Truppen?«
»Ja«, erklärte einer der Gefangenen, ein grauhaariger Mann. »Hat er Sie geschickt, um uns zu retten?«
»Nein, wir …«
Draußen auf dem Gang erklang das schrille Sirren eines Gewehrs. Ari stolperte in den Raum hinein und stieß Yosef zu Boden. Weitere Schüsse heulten, Schreie ertönten … und dann herrschte plötzlich Stille. Yosef rappelte sich auf und lief zur Tür. Die Wachen lagen tot auf dem Boden und zwei Männer in grauen Uniformen näherten sich.
»Kommt aus dem Raum heraus!« befahl der große, schwarzhäutige Mann.
Yosef hob die Hände und trat auf den Korridor hinaus, doch Ari blieb zurück.
»Wer sind Sie?«
Mit zitternden Knien antwortete Yosef: »Wir sind loyale Anhänger des Mashiah und wir …«
»Harper?« rief der Grauhaarige in der Schreckenskammer. »Harper, um Gottes willen, holen Sie uns hier ’raus!«
»Bromy?« Der schwarzhäutige Mann stürmte vorwärts. »Wie hat man Sie gefangen, zum Teufel?«
»Jeremiels Plan hat wunderbar funktioniert. Jedenfalls solange, bis wir falsch abgebogen und einem Trupp Wachen in die Hände gelaufen sind.«
Yosef lächelte den blonden Mann an, der noch immer die Pistole auf seinen Bauch gerichtet hielt. »Sie gehören zu Jeremiels Streitmacht?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
»Ich bin Yosef Calas. Mein Freund Ari Funk ist …«
»Genau hier«, sagte Ari. Er sprang vor und drückte Harper seine Pistole gegen die Brust. »Woher sollen wir wissen, daß diese Burschen wirklich für Baruch arbeiten?« fragte er argwöhnisch.
Yosef schaute beunruhigt zwischen den beiden Waffen hin und her. Wenn Ari Harper erschoß, würde der Blonde sicher ihn töten. Das sah gar nicht gut aus. »Nun … wir können sie ja prüfen«, schlug er vor. »Von welchem Planeten stammt Baruch?«
Harper blinzelte ungläubig. »Tikkun.«
»Wie lautete der Mädchenname seiner Mutter?«
»Ich … ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber wie war nochmal Ihr Name?«
»Calas.«
Harper lächelte plötzlich. »Zadoks Bruder von Tikkun. Ja, ich erinnere mich. Er hat oft von Ihnen erzählt. Ich bin Avel Harper.«
»Sie kannten meinen Bruder?«
»Ja, Mister Calas. Zadok hat mich vor Jahren angeheuert, um für ihn hier auf Horeb Augen und Ohren offenzuhalten. Ich muß den Ratsherrn Ornias finden. Wir sind alle in großer Gefahr.«
»Wenn Sie meinen Bruder kannten, sollten Sie auch den Namen seiner Frau wissen.«
»Nelda. Sie starb bei der letzten gamantischen Revolte, nachdem die Magistraten sie gefangen genommen hatten. Sie …«
»Ich glaube, das reicht. Wir müssen es jedenfalls darauf ankommen lassen. Jeremiel ist in Schwierigkeiten und braucht dringend Hilfe.«
Harper zuckte zusammen. »Er ist hier?«
»Jedenfalls sprachen die Wachen darüber, als wir uns anschlichen. Er wurde gefangen und ist jetzt beim Ratsherrn.«
»Befreit uns endlich von unseren Ketten!« riefen die Männer in der Kammer.
Harper drängte sich an Ari vorbei. Der Klang von Metall, das unter Gewehrfeuer zerspringt, war zu hören; dann kamen alle vier Männer aus dem Raum.
»Wo wird Baruch gefangen gehalten?« erkundigte sich Harper.
»In den alten Gärten. Wir müssen diesen Gang entlang, dann die Treppe hinunter und weiter geradeaus bis zur Elfenbeinstatue von Milcom. Es ist die erste Tür auf der rechten Seite, aber sie wird schwer bewacht. Es wäre …«
Ari unterbrach ihn. »Wir gehen zuerst. Wir kennen den Weg und waren überdies die persönlichen Assistenten des Mashiah. Viele der Wachen kennen uns.« Er zog Yosef mit sich, drängte sich zwischen den graugekleideten Männern hindurch und marschierte den Flur hinunter.
Zadok lehnte sich gegen die Wand des siebenten Kristallpalasts Gottes und beobachtete gähnend eine Elchkuh samt ihrem Kalb, die auf der chromgrünen Wiese neben dem Pfad weidete, der zurück zum sechsten Himmel führte. Der kühle Wind trug den Geruch von Wildblumen und Kiefern heran.
»Zadok?« erklang Anapiels himmlische Stimme.
Zadok eilte zum Eingang des Palasts, wo der mächtige Engel erschien, dessen dunkelblaue Robe im Licht des Sonnenuntergangs schimmerte.
»Will Epagael mich jetzt sehen?«
»Ja. Komm herein.«
Zadok trat ein und hielt angesichts der funkelnden orangefarbenen Kristallwände den Atem an.
»So schön habe ich den Palast noch nie gesehen«, murmelte er, während er den langen Flur entlangeilte. Weit voraus konnte er das Hitzewabern erkennen, das vom Fluß des Feuers emporstieg.
Anapiel hielt mit ihm Schritt. »Vielleicht ist das alles für dich so schön, Zadok?«
»Warum sollte es so sein, Herr?«
»Um dich zu beeindrucken, natürlich.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, daß Epagael so etwas nötig hat.«
Anapiel lachte und warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Tatsächlich?«
»Gibt es etwas, das du mir zu sagen versuchst?«
»Ich? Nein. Ich doch nicht. Eines der Ziele meines Lebens besteht darin, dir so wenig wie möglich zu erzählen, Zadok.«
»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«
Anapiel lächelte. »Nun, darüber wirst du dir keine Gedanken mehr machen müssen. Allerdings frage mich mich, wie Epagael dich hier wieder herausschaffen will. Jetzt, wo du tot bist, meine ich.«
»Für Gott eine Kleinigkeit, würde ich sagen.«
»O nein, keineswegs, das kann ich dir versichern, Zadok. Während die Energie, die dein Ich repräsentiert, zwar ungehindert das Tor passiert, besitzt du kein Gefäß, in das du zurückkehren könntest. Ich wüßte wirklich gern, wo Epagael dich unterbringt.« Er kicherte fröhlich. »Vielleicht läßt er dich ja einfach im ›Dazwischen‹, hm? In deiner eigenen, ganz privaten Vorhölle? Ich gäbe was drum, das zu sehen.«
»Du erschreckst mich zu Tode, Anapiel, wußtest du das? Du bist fast so bösartig wie Sedriel.«
Der Engel flatterte indigniert mit den Flügeln. »Werde nicht beleidigend, Patriarch.«
Zadok zwang sich, schneller zu gehen. Das Tosen des Feuerflusses wurde lauter, und er konnte bereits einen Blick auf das schimmernde Weiß des Schleiers erhaschen.
»Anapiel, warum suchst du dir nicht eine produktivere Aufgabe? Es muß doch irgendwo eine Latrine geben, die deiner persönlichen Aufmerksamkeit bedarf.«
Der Engel schnitt ein finsteres Gesicht. »Du kannst froh sein, daß ich nicht Gott bin, Zadok.«
»Wir alle sind froh, daß du nicht Gott bist.«
Anapiel seufzte und deutete eine Verbeugung an. »Na schön. Ich lasse dich allein zum Berg Moriah gehen. Avram nahm allerdings Gefährten mit, wie du dich gewiß erinnerst.«
»Er hatte auch Leute um sich, denen er vertrauen konnte.«
Anapiel kicherte. »Nun gut, also …« Er wandte sich um und ging zum Eingang das Palastes zurück. Sein leises Gelächter hallte unheimlich von den orangefarbenen Wänden wider.
Zadok ballte die Fäuste und humpelte so schnell wie möglich weiter. Moriah? Der Ort, an dem Epagael Avrams Glauben geprüft hatte? Der Vater des Volkes hatte sich in seinem Leben vier großen Krisen gegenüber gesehen, und jedesmal war es um die Preisgabe von etwas Wertvollem gegangen.
Zadok wappnete sich für das Schlimmste – den Verlust seines Volkes. Seine Knie zitterten, als er den Fluß des Feuers erreichte.
»Herr? Herr, ich bin gekommen. Bitte, darf ich den Schleier sehen?«
Aus dem schwarzen Wirbel erklang Gottes ruhige Stimme. »Zadok, du gesegneter Diener, natürlich. Komm herüber.«
Die sengende Hitze des Flusses verwandelte sich in eine kühle Brise, und Zadok eilte über die Brücke. Auf den weißen Kacheln vor dem Schleier, der den Thron Gottes beschirmte, blieb er stehen. Die Energie von Gottes Gegenwart ließ seine Haut kribbeln.
»Der Schleier.« Er wirkte wie ein langes Seidentuch und flatterte leicht im kühlen Wind, der den Palast durchzog. Zadok eilte zum Ende des Schleiers.
»Die Zeit ist gekommen, Zadok. Der endgültige Kampf zwischen Licht und Dunkelheit droht in diesem Augenblick. Aktariels Streitkräfte sind bereit zum Angriff.«
»Soviel habe ich schon von deinen arroganten Engeln aufgeschnappt, Herr.« Zadok ließ sich auf die Knie sinken, um die winzigen Worte zu lesen, die am unteren Rand des Schleiers geschrieben standen. Seine Augen weiteten sich, als er den Sinn der Schrift erfaßte. »Nein. Epagael, nein! Du darfst das nicht geschehen lassen!«
»Vielleicht bist du in der Lage, es abzuwenden, Zadok. Ich weiß es nicht.«
Zadok richtete sich auf und hielt sich dabei mit einer Hand am Schleier fest. »Sag mir, was ich tun muß.«
»Zadok, Zadok, es wird eines großen Opfers von dir bedürfen. Denn ich kann dich nicht in dein Universum zurückschicken.«
Mein Berg Moriah. »Wie kann ich also helfen, Herr?« Er breitete die Arme aus. »Gewiß willst du mein Volk nicht sterben lassen, weil ich nicht mehr heimkehren kann?«
Der schwarze Wirbel rotierte schneller, und Gottes Stimme erklang wie Donner. »Was willst du hingeben, um dein Universum zu retten – dein Volk?«
»Alles!«
»Tatsächlich, Patriarch? Gut.«