KAPITEL
9

 

 

Jeremiel mußte sich tief ducken, um Rathanial und Sarah durch den engen Tunnel folgen zu können, der in die dunklen Tiefen des Berges führte. Der schützende Stoff seines schwarzen Druckanzugs kratzte schrill über den Stein. In der trockenen Kühle wurde ihm der Duft des frischgebackenen Brotes, das Sarah in ihrem Korb trug, besonders schmerzlich bewußt. Es war drei Tage her, daß er feste Nahrung zu sich genommen hatte. Seit er gezwungen gewesen war, sich zu Fuß einen Weg durch Weinranken und nasse Wälder zu suchen, hatte seine einzige Nahrung aus Energieriegeln bestanden, und die waren ein sehr armseliger Ersatz für richtiges Essen.

Rathanial blieb stehen und blinzelte verwirrt in einen der vielen kleinen Tunnel, die vom Hauptgang abzweigten, in dem sie sich befanden. »Sarah? Ist das hier nicht die Abkürzung?« Sie schüttelte den Kopf, und ihr langes schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern. Die pummelige Frau mit dem runden Gesicht und den großen Augen erinnerte Jeremiel an eine furchtsame Eule, jene Art Vogel, der in den hohen Berghängen der alten Erde hauste und sich nicht sehen ließ, bevor die schützende Nacht das Land bedeckte.

»Nein, nein, es ist noch weiter.« Doch ihre Stimme klang derart unsicher, daß Rathanial einen besorgten Blick mit Jeremiel tauschte.

»Bist du sicher?« erkundigte Rathanial sich sanft. Die Lampe in seiner Hand flackerte und warf unsichere Schatten über die braunen Wände.

»Nein. Vielleicht haben wir …«

Jeremiel lehnte sich mit einer Schulter gegen den Stein und rieb sich die Stirn, während er desinteressiert zuhörte, wie die beiden mit leiser Stimme darüber diskutierten, ob sie die richtige Abzweigung bereits verpaßt hatten oder nicht. Der scharfe Duft von Kiefernnadeln haftete noch immer an seinem Sprunganzug und breitete sich jetzt in dem engen Tunnel aus. In den weiter oben gelegenen Höhlen waren sie ein paar Arbeitern begegnet, doch hier unten tauchte niemand auf, obwohl man Fußspuren im dunkelbraunen Sand erkennen konnte.

»Aber meine liebe Sarah, ich war erst einmal hier unten …«

Jeremiel schloß die Augen. Er fühlte sich furchtbar einsam und müde. Der Abgrund des Schreckens in seiner Brust klaffte weiter auf, bis eine traurige, furchterregende Dunkelheit alles wie ein mitternächtlicher Wind zu durchdringen schien. Zadoks Tod bildete einen Teil davon. Jeremiel fragte sich, was die Zukunft noch bereithalten mochte, jetzt, wo der alte Bewahrer von Kraft und Güte von ihnen gegangen war. Seine Gedanken durchstreiften kurz die vergangenen fünfzehn Jahre. Ganz gleich, wie risikoreich seine Ideen auch gewesen waren, sich den Magistraten entgegenzustellen, Zadok hatte ihm stets seine Unterstützung angeboten, sowohl in finanzieller wie in moralischer Hinsicht. Doch jetzt, nach seinem Tod, würde es zu einem internen Machtkampf kommen, und damit saß der Karren für einige Zeit fest. Machthungrige aus seinen eigenen Reihen würden die Köpfe erheben, und mit Sicherheit würde die Regierung ihn jetzt als verwundbar einstufen. Seine Streitkräfte mußten in den nächsten Monaten eine ganze Reihe von Angriffen erwarten. Vielleicht hatte Rudy doch recht gehabt. Er hätte diese ganze Geschichte mit Horeb besser vergessen.

Er verschränkte die Arme und betrachtete stirnrunzelnd das Flackern des Lichts auf den zimtfarbenen Wänden. In letzter Zeit schien er sehr oft die falsche Entscheidung zu treffen. Syene … Syene. Ihr süßer Name marterte ihn.

»Nur noch ein kleines Stück weiter«, sagte Sarah. »Wenn wir es in einer Viertelstunde nicht gefunden haben, kehren wir um.«

»Einverstanden.« Rathanial nickte und zuckte entschuldigend die Achseln in Jeremiels Richtung. Jeremiel wiederholte das Achselzucken und grinste verständnisvoll.

Sie machten sich wieder auf den Weg, und ihre Schritte hallten unheimlich durch den Tunnel. Kurz darauf erreichten sie eine in den Stein gehauene Wendeltreppe, die abwärts führte.

»Ah, du hast recht gehabt«, sagte Rathanial erleichtert und klopfte Rachel auf die Schulter. »Ich hätte nicht darüber streiten sollen.«

»Ist schon gut. Ich war mir selbst nicht sicher.« Sarah führte die anderen jetzt, ohne zu zögern. Immer tiefer ging es hinab, bis sie schließlich einen kleinen runden Raum betraten, in dem lediglich ein Tisch und zwei Stühle standen. Jeremiel zog angesichts der niedrigen Decke den Kopf ein und beäugte die staubigen Weinflaschen in der Nische.

»Was ist das für ein Ort?« fragte er, während er den Staub von seiner schwarzen Hose abklopfte. Es roch nach altem Wachs und trockenem Papier.

Sarah machte ein paar unsichere Schritte vorwärts. Das sanfte Licht fing sich in den gelben Schleifen an ihren Ärmeln. »Das war Papas Sanctum. Hierher kam er, um zu lesen und zu studieren. Es war der einzige Platz, den er für wirklich sicher hielt.« Ihre Stimme erstarb, und sie fuhr mit ihrer zitternden Hand zum Mund.

Jeremiel senkte mitfühlend den Blick. Die Doppelbeerdigung im strömenden Regen an diesem Morgen hatte bei ihnen allen die Gefühle bloßgelegt.

»Sarah«, flüsterte Rathanial, »komm her und setz dich, dann geht es dir gleich besser.«

Sie strich sich die Röcke glatt, ließ sich wie geheißen auf einen der Stühle sinken und stellte ihren Korb auf den Tisch. Jeremiel setzte sich auf den Boden, streckte die langen Beine aus und lehnte sich mit dem Rücken gegen den kalten Stein. Ein eisiger Hauch schien durch die Wand zu dringen und seine Schultern zu berühren.

Rathanial schritt nervös auf und ab. Er hatte eine Hand unter sein bärtiges Kinn gelegt, und seine alten Augen waren von tiefem Kummer erfüllt. Die rubinroten Zierfäden in seiner silbernen Robe glühten dunkel im Kerzenschein.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Jeremiel, »aber bevor wir anfangen, würde ich dich gern um ein Stück von diesem wunderbar duftenden Brot bitten, Sarah. Weiß du, ich habe seit …«

»Oh, natürlich«, antwortete sie schuldbewußt und schob ihm den ganzen Korb hin. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich es überhaupt mitgebracht habe.«

Jeremiel nahm sich eine dicke Scheibe und bot dann Rathanial den Korb an, der jedoch den Kopf schüttelte. Jeremiel stellte den Korb neben sich, biß herzhaft von seinem Brot ab und ließ sich dankbar gegen die Wand sinken.

»Nun«, seufzte Rathanial, »ich schlage vor, wir kümmern uns jetzt ums Geschäft. Niemand hat die Veränderungen erwartet, deren Zeuge wir in den vergangenen Tagen geworden sind, doch zweifellos haben diese Veränderungen ernste Bedeutung für die Zukunft der gamantischen Zivilisation.« Er blickte von Jeremiel zu Sarah und wieder zurück.

Sarah schaute ihn aus großen, angsterfüllten Augen an und spielte nervös mit dem Stoff ihres Rocks. »Was für ein Geschäft?«

»Das Geschäft, die gamantischen Interessen in der ganzen Galaxis zu wahren, meine Liebe.«

»Zum Beispiel?«

»Viele Dinge«, sagte Rathanial. »Zum Beispiel, was wir gegen den Mashiah auf Horeb unternehmen. Wie wir am besten den Einfluß der Magistraten eindämmen. Wie wir Streitigkeiten innerhalb unseres eigenen Volkes beilegen.«

Jeremiel runzelte die Stirn. Hatte Zadok sie über seine Führerschaft so sehr im Dunkeln gelassen, daß sie die vor ihnen liegenden ernsten Herausforderungen gar nicht erkannte? Und was sagte das über das Vertrauen des alten Mannes in seine jüngste Tochter aus?

»Rathanial«, warf er ein und schluckte hastig einen Bissen Brot hinunter, »bevor wir zum ›Geschäft‹ kommen, sollten wir über die letzten paar Tage reden. Wer war der Mann, den du am Raumhafen getötet hast?«

»Ich weiß nicht. Ich habe ihn nie zuvor gesehen.«

»Aber du hast einen Verdacht.«

»Vermutlich war er einer von den gedungenen Mördern des Mashiah.«

»Jener Mashiah, über den du mir geschrieben hast?«

»Genau der.«

»Warum sollte er Zadok töten wollen?«

Rathanial wischte sich die schweißnassen Hände an seiner Robe ab. »Dadurch wird der Weg für ihn frei, sich selbst zum Führer der gamantischen Zivilisation zu erklären. Ich glaube, so hat er das schon seit Monaten geplant.«

»Aber ich dachte, diese Bürde fiele Zadoks jüngerem Bruder zu?«

»Ja, nur haben wir stundenlang versucht, Yosef zu erreichen. Er scheint irgendwo zwischen Tikkun und hier verschwunden zu sein.«

»Verschwunden?«

»Offensichtlich. Er verließ Kayan vor ein paar Tagen, und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Ich fürchte, wir müssen davon ausgehen, daß er tot ist.«

Jeremiel nickte. »Angesichts der letzten Tage erscheint das glaubhaft. Dann geht die Führerschaft jetzt also auf Sarah über?«

»Gesetzmäßigerweise, ja.«

»Nur gesetzmäßig? Nicht auch rechtmäßig?«

Rathanial warf einen Blick auf Sarah, die erschrocken zu ihm aufsah. Sie wirkte wie ein verängstigtes Kind. »Doch, auch rechtmäßigerweise. Nur schrecken mächtige Männer höchst selten vor ein paar schwachen moralischen Einwänden zurück. Adom schert sich nicht um unsere Tradition. Er versucht, einen neuen Zweig der gamantischen Zivilisation zu schaffen.«

»Dann müssen wir sofort eine Wachtruppe für Sarah aufstellen.«

»Ach, was«, sagte Rathanial fest, »Sarah wird hier gut geschützt sein.«

Jeremiels Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wie kannst du nach dem, was Zadok und Ezarin widerfahren ist, so sicher sein?«

»Also gut«, gab Rathanial mit sichtlichem Zögern nach. »Wir werden für mehr Wachen sorgen. Wie hört sich das an, meine Liebe? Wirst du dich dann besser fühlen?«

Jeremiels Nackenhaare richteten sich angesichts des ein wenig abfälligen Tonfalls auf. Diese Frau hatte gerade zwei Mitglieder ihrer Familie verloren, und ein drittes teilte vermutlich das gleiche Schicksal. Natürlich würde sie sich mit einer verstärkten Wache sicherer fühlen; sie hatte allen Grund dazu.

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Sarah mit ruhiger Stimme. »Wenn Horebs Mashiah weiß, daß er nicht der nächste in der Linie ist, würde es ihm doch gar nichts nützen, Papa, Ezarin und Onkel Yosef zu töten.«

Jeremiel blinzelte ungläubig. »Ich würde sagen, er plant als nächstes dich und deinen Sohn umzubringen.«

Sie schaute ihn so angsterfüllt an, daß er seinen Blick senkte. »Papa hat etwas in der Art erwähnt … an dem Tag, als wir Ezarin fanden.«

»Nun ja, es wäre allerdings auch möglich, daß Ezarins Tod und der von Zadok zwei Ereignisse waren, die nicht miteinander in Verbindung standen. Es könnte sein …«

»Es könnte sein«, sagte Rathanial müde, »daß Zadok getötet wurde, weil der Mashiah herausgefunden hatte, weshalb ich nach Kayan gereist bin. Ich wollte Zadok bitten, Adoms Echtheit zu überprüfen.«

»Deshalb bist du hergekommen?« fragte Sarah.

Rathanial befeuchtete seine Lippen und schaute sich nervös in der Höhle um, als fürchte er, der ferne Prophet könne ihn hören. »Wir müssen vorsichtig sein. In diesen schlimmen Zeiten gibt es überall ›Ohren‹.«

»Willst du sagen, der Mashiah hat Papa ermorden lassen, damit er ihn nicht prüfen kann?«

»Er ist ein sehr grausamer Mann und fürchtet, als der Betrüger entlarvt zu werden, der er ist.«

»Aber das beweist noch nicht …«

»Ich bin auch nicht sicher. Wie du weißt, hatte Zadok tausend Feinde. Es könnte auch ein Plan der Magistraten dahinter stecken. Oder ein paar der Energiehändler haben endlich herausgefunden …«

»Aber du glaubst, es war der Mashiah.« Sie beugte sich nachdenklich vor. Das Licht drang durch ihr schwarzes Haargeflecht und warf ein Muster aus spitzen Schatten auf ihre runden Wangen. »Du hast auch an dem Tag, als wir Ezarin fanden, gesagt, er sei dafür verantwortlich.«

»Ja, aber da kann ich mich auch geirrt haben. Meine Wahrnehmung ist zur Zeit stark eingeschränkt. Ich mache Adom für alles Böse verantwortlich, das geschieht.«

»Nach deinen Briefen zu urteilen«, meinte Jeremiel und holte tief Luft, »würde ich sagen, daß deine Reaktion ganz natürlich ist.« Er nahm einen weiteren Bissen von dem wohlschmeckenden Brot und betrachtete nachdenklich die Spitzen seiner schwarzen Stiefel, während er kaute.

»Ja, aber genau das erschreckt mich.«

»Dann muß ihn eben jemand prüfen«, sagte Sarah.

Rathanial blinzelte. »Weißt du denn wie?«

Sarah griff in ihre Rocktasche, zog das Mea Shearim hervor und hielt es an der Kette auf Armeslänge von sich weg. Ihre Stimme zitterte leicht. »Papa starb, bevor er es mir sagen konnte.«

»Das habe ich befürchtet. Das bedeutet, der Weg durch den Schleier ist für immer verloren. Wir müssen eine andere Möglichkeit …«

»Vielleicht.«

Der alte Mann fuhr herum und blickte sie scharf an. »Was meinst du? Ich dachte, Zadok wäre der einzige gewesen, der gewußt hat, wie …«

»Das stimmt. Aber er hat auch immer gesagt, jeder könnte es herausfinden, wenn er nur lange genug die alten Bücher durchforscht.«

»Welche alten Bücher?«

Ihre dünnen schwarzen Brauen zogen sich über der Nase zusammen und sie öffnete den Mund, als wollte sie antworten, zögerte dann aber. Jeremiels Blick wanderte von ihr zu Rathanial. Wie es aussah, hielt keiner den anderen für vertrauenswürdig, obwohl beide das nicht offen zugeben wollten. Das bot Stoff zum Nachdenken. Was sah Sarah in Rathanial, das sie zweifeln ließ? Und umgekehrt?

»Sarah!« rief Rathanial scharf. »Sag es mir!«

»Er … er hat sich nie genauer darüber geäußert«, erklärte sie, bewegte dabei jedoch die Augen so unstet, daß Jeremiel diese Aussage, anders als offenbar Rathanial, kaum für glaubhaft hielt. Eine kalte Maske senkte sich über die Züge des alten Mannes.

»Ich verstehe. Nun, dann werden wir unsere Schriftgelehrten sofort an die Arbeit schicken.« Er nahm seine ruhelose Wanderung wieder auf, wobei er mit den Fingern auf seine Unterarme trommelte.

Während er die beiden beobachtete, überkam Jeremiel ein Gefühl, als würde jede Hoffnung aus ihm herauslaufen, ungefähr so, als könnte sich der harte Stein unter ihm jederzeit in Treibsand verwandeln. Gamanten mißtrauten Gamanten – und das zu einem Zeitpunkt, da ihre Gemeinschaft alles war, das ihnen in dieser Galaxis noch blieb. Ein leises Klicken ertönte draußen auf dem Korridor. Jeremiel stieß sich von der Wand ab, richtete sich auf und lauschte konzentriert in die Stille.

»Was ist los?« fragte Rathanial. Seine Augen leuchteten ängstlich auf. Er machte einen Schritt vorwärts. »Hast du etwas gehört?«

»Nur ein … Nein, nichts. Ich … ich bin einfach nur übermüdet, nehme ich an.« Er zwang sich zu einem Lächeln, doch das Gefühl der Gefahr blieb bestehen.

Rathanials Blick schweifte immer wieder zur Tür; dann wandte er sich an Zadoks Tochter. »Es war sehr freundlich von dir, uns den Weg zu zeigen, Sarah. Aber würde es dir etwas ausmachen, wenn ich jetzt eine Weile mit Jeremiel allein rede?«

»Überhaupt nicht«, sagte sie, als wäre sie erleichtert. Ihre Röcke raschelten, als sie sich erhob. »Ich treffe euch im Hauptgang, wenn ihr fertig seid mit … wenn ihr fertig seid.«

»Ja, gut. Es wird nicht lange dauern. Vielleicht eine Stunde.«

»Gut, ich sehe euch dann dort.« Sie lächelte schwach und eilte in Richtung Treppe.

»Ach … meine Liebe«, rief Rathanial leise. »Würde es dir etwas ausmachen, das Mea Shearim hierzulassen? Wir versprechen auch, gut darauf aufzupassen.«

Sie betrachtete den blauen Ball am Ende der Kette und drückte ihn dann an ihre vollen Brüste. »Ich weiß nicht, ob das klug wäre.«

»Bitte, Sarah. Ich weiß ohnehin nicht, wie man es benutzt, das ist dir ja bekannt. Ich möchte es nur haben, weil Jeremiel in den alten Schriften bewandert ist. Wenn er es in seiner Hand hält, ist er vielleicht in der Lage, sich an ein paar Stellen aus den magischen Papyri zu erinnern. Davon abgesehen gehört es doch allen Gamanten, nicht wahr?«

Ihr dunkler Blick suchte den Jeremiels und hielt ihn prüfend für eine Weile fest. Jeremiel trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er spürte den wachen Verstand hinter diesen schwarzen Augen, scharf und furchtsam zugleich. Schließlich reichte Sarah ihm zögernd den Gegenstand und flüsterte: »Du darfst den Globus nicht berühren. Halte es nur an der Kette.«

Er nahm das Objekt und war überrascht, wie warm sich das Gold an seinen Fingern anfühlte. »Mache ich.«

Sie warf einen raschen Blick auf Rathanial und eilte dann zur Tür hinaus. Der weißhaarige Alte schien eine Ewigkeit dazustehen und zu lauschen, bis ihre Schritte endlich verklungen waren.

»Lieber Gott«, flüsterte er schließlich und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Was geschieht mit uns? Sie wagt es nicht, mir, ausgerechnet mir, die Geheimnisse der gamantischen Zivilisation anzuvertrauen.«

Jeremiel hob die Brauen und nickte. »Das war ziemlich offensichtlich. Aber was sollte die Bemerkung über meine ›Kenntnisse‹? Du weißt, daß ich die Texte nicht mehr studiert habe, seit ich ein Junge war. Mir blieb keine Zeit dafür.«

»Oh, das war nur eine List. Ich dachte, wenn Sarah das Stück nicht mir überlassen will, dann vielleicht dir.«

»Hm.«

»Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei, sie damit gehen zu lassen. Ich weiß selbst nicht, warum. Es war einfach so. Sie kommt mir so – schwach vor.«

Jeremiel warf ihm einen schrägen Blick zu. Schwach sollte wohl mit inkompetent gleichgesetzt werden, doch er ging nicht auf diese versteckte Anspielung ein. Statt dessen hob er das Mea Shearim, bis die Kugel vor seinen Augen schwang. Blaue Wirbel huschten über die Oberfläche. »Mein ganzes Leben habe ich von diesem heiligen Objekt gehört. Ich weiß, daß man ihm nachsagt, es diene als Tor zu Gott. Doch was ist es? Ich meine, was ist es wirklich?«

Rathanial richtete sich auf. »Was meinst du mit wirklich?«

»Ich meine, wissenschaftlich gesehen. Was tut es?«

»Es öffnet den Weg zu Gott«, beharrte Rathanial störrisch. Dann wechselte er das Thema. »Ich mache eine Flasche Wein auf. Möchtest du auch ein Glas?«

»Ja, gern.« Er betrachtete den alten Mann prüfend, der den Staub von einer Flasche blies, sie öffnete, zwei Zinnbecher füllte und einen davon Jeremiel reichte. Mit ein paar Schlucken leerte er das Glas und hielt es ihm wieder hin. Rathanial beäugte ihn neugierig, füllte es aber wieder auf. Sein Verhalten machte deutlich, daß er nicht beabsichtigte, weiter über die Halskette zu diskutieren.

Seine nächste Bemerkung war eindeutig ein Ablenkungsmanöver. »Jeremiel, ich danke dir für dein Kommen. Besonders jetzt, nach Zadoks … Tod. Die Menschen werden sich jetzt einsam und verloren vorkommen. Dadurch werden sie anfällig für jeden falschen Propheten, der göttliches Recht für sich beansprucht.«

»Deine Botschaft hat mir kaum eine Wahl gelassen, Vater. Deine genauen Worte lauteten: ›Das nackte Überleben der gamantischen Zivilisation steht auf dem Spiel. Wir brauchen dich dringendst hier‹.«

Rathanial preßte die Lippen zusammen und betrachtete den dunklen Wein. »Und ich habe jedes einzelne Wort auch so gemeint. Du hast keine Vorstellung von dem, was Adom tut. Er ermordet brutal jeden, der noch am alten Glauben festhält. Wie ich hörte, hat er sogar eine Folterkammer eingerichtet, um die Gefangenen zu zwingen, die Namen anderer ›Dämonenanbeter‹ preiszugeben.«

»Dämonenanbeter?«

»Oh, ja, er betrachtet jeden, der an Epagael glaubt, als Mitglied von Aktariels Kohorten.«

»Er selbst propagiert einen anderen Gott, nehme ich an?«

»Milcom. Ein Pseudo-Gott, den er sich aus irgendeinem obskuren alten Text herausgesucht hat.«

»Nach der Seuche und der Dürre finde ich es schwer verständlich, daß die Menschen diesem Milcom zulaufen. Sehen sie denn nicht, daß ihre Gesellschaft zerfällt, seit der Mashiah an die Macht gekommen ist?«

Rathanial nahm einen tiefen Schluck Wein und lehnte sich dann stirnrunzelnd auf seinem Stuhl zurück. Schließlich blickte er auf und sagte: »Ich verstehe es genauso wenig, außer das Adom eine derart überzeugende Ausstrahlung besitzt, daß die Menschen gar nicht anders können, als seinen Erklärungen Glauben zu schenken, was Horebs Zerstörung betrifft.«

Jeremiel trank den Wein in großen Zügen und wünschte sich, es wäre starker Whiskey aus Ngorora, der seinen inneren Schmerz rasch lindern würde. »Und wie lauten diese Erklärungen?«

»Irgendwelche lächerlichen Behauptungen, die Seuche und andere Übel würden beweisen, daß Epagael uns der Finsternis ausgeliefert hätte. Und daß eine mächtigere Gottheit erschienen sei, um uns die Erlösung anzubieten.«

»Milcom.«

»Natürlich.«

»Die Leute sollen also konvertieren und dann herrlich und in Freuden leben, richtig?«

»Ja.« Rathanial schloß für einen Moment die Augen und sagte dann mit zitternder Stimme: »Und für die, die konvertieren, trifft das auch zu.«

»Was soll das heißen?«

Rathanial beugte sich vor. »Es … es ist erschreckend, Jeremiel. Sobald Adom Menschen in sein geweihtes Wasser taucht, sind sie gegen die Krankheit immun und …«

»Dann hat er die Seuche vielleicht selbst hervorgerufen und besitzt als einziger das Gegenmittel? Und benutzt es bei seiner mysteriösen Taufzeremonie? Etwas ähnliches hatte ich nach deinen Berichten schon erwartet.«

»Ich danke Gott, daß du meine Botschaften erhalten hast. Zadok hat nichts von dem bekommen, was ich ihm geschickt habe. Er wußte nichts von unseren Problemen, bis ich …«

»Er hat nicht eine einzige deiner Botschaften erhalten?«

»Nein.«

»Wem hast du sie mitgegeben?«

»Unseren besten Kurieren. Loyale Gamanten. Keiner von ihnen ist je von seiner Mission zurückgekehrt.« Ein Ausdruck von Trauer huschte über sein Gesicht, und der Becher in seiner Hand zitterte leicht. »Wir haben natürlich Suchmannschaften ausgeschickt, doch man hat nicht einmal Spuren der Kuriere gefunden.«

Jeremiel zwang sich, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, doch seine Gedanken überschlugen sich. Wenn es sich so verhält, mein Freund, wieso konntest du dann so leicht herkommen? Haben sie dich gehen lassen? Und warum?

»Hattest du irgendwelche Probleme, nach Kayan zu kommen?«

»Nein. Aber ich habe auch außergewöhnliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Du kannst dir nicht vorstellen …«

»Sicher nicht.« Jeremiel seufzte müde und legte das Mea Shearim in seinen Schoß. Dann leerte er seinen Becher und hielt ihn Rathanial zum Nachfüllen hin. Der alte Mann gehorchte und schenkte das Gefäß voll. Jeremiel spürte leichte Wärme in sich aufsteigen und fühlte, wie der Alkohol sich angenehm in seinem leeren Magen ausbreitete. Zu schade, daß er nicht mehr Zeit hatte. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich eine ruhige Ecke gesucht, sich richtig betrunken und dabei selbst verflucht.

»Und nachdem du auf Kayan eingetroffen bist, wurde erst Ezarin getötet und dann Zadok?«

»Ja, aber ich … ich glaube nicht, daß da eine Verbindung besteht. Ich war auf Horeb sehr vorsichtig. Nur eine einzige andere Person wußte von meiner Abreise, ein vertrauenswürdiger Mönch, der schon seit hundert Jahren bei mir ist.«

»Trotzdem ist die Nachricht offensichtlich durchgesickert. Wer ist dieser vertrauenswürdige Mönch?«

»Er kann nicht dafür verantwortlich sein!« beharrte Rathanial heftig. »Ich vertraue Vater Harper mehr als mir selbst! Ich schwöre dir, er hätte es niemals jemandem erzählt.«

»Aber wir können die Tatsachen nicht leugnen. Ezarin und …«

Rathanial schlug mit der Faust auf den Tisch. »Du hast selbst gesagt, die Ereignisse müßten nicht unbedingt miteinander in Verbindung stehen! Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob meine Leute auf Horeb Schuld daran haben!«

»Sicherheit«, sagte Jeremiel und hob die buschigen blonden Augenbrauen, »ist kaum etwas, worauf wir warten können. Wir müssen unsere Entscheidungen aufgrund der Informationen treffen, die wir besitzen. Und die deuten im Moment auf Verrat hin.«

»Nun gut.« Rathanial preßte die Hände gegen die Schläfen und drückte so fest zu, als wollte er auf diese Weise einen Gedanken aus seinem Gehirn herausquetschen. »Aber es ist nicht mein Volk, das mich verraten hat! Aber … ja, ich glaube, ich wußte sofort, als Ezarin verschwand, daß der Mashiah irgendwie herausgefunden hatte, wohin ich gereist war. Aber es war nicht Vater Harper. Es … es sind die ›Lauscher‹. Sie sind überall.«

Das unheimliche Glühen, das kurz in den Augen des alten Mannes erschien, ließ Jeremiel aufmerken. »Lauscher?«

»Ja. Schreckliche Dinge. Sie kommen bei Nacht und sammeln sich in den Schatten.«

»Was sind sie?«

»Das wissen wir nicht. Sie sprechen nicht mit uns, und wir können nur selten miteinander reden, ohne daß einer von ihnen auftaucht.«

»Menschlich?«

»Nein … nein, ich glaube nicht.«

Jeremiel runzelte die Stirn und hoffte inbrünstig, der alte Mönch wollte ihm jetzt nicht erzählen, daß es tatsächlich Dämonen gab. Er konnte so ziemlich alles ertragen außer einem Rückzug ins Übernatürliche. »Was dann?«

Rathanial ließ unbehaglich den Wein in seinem Becher kreisen, als ahne er Jeremiels Gedankengänge. »Vielleicht eine Art Spektralprojektion mit sensorischen Fähigkeiten.«

»Eine Projektion?« Ein kaltes Prickeln überlief seinen Rücken, als er sich hektisch im Raum umsah. Die Magistraten verfügten über recht ausgefallene Hilfsmittel, und es wurde erzählt, sie hätten ein spezielles Projekt begonnen, um in die religiösen Systeme der Völker einzudringen, die sie auszuspionieren wünschten. »Hast du hier welche von diesen Lauschern gesehen?«

»Nein, nein, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Hier auf Kayan habe ich noch keine gesehen.«

»Dann hat also der Projektor, falls es sich um so etwas handelt, eine begrenze Reichweite.«

»Das vermute ich auch. Aber wie auch immer, es handelt sich zweifellos um Werkzeuge des Mashiah oder um Kundschafter, die er ausgeschickt hat, um über unsere Aktivitäten zu berichten.«

Jeremiel warf dem alten Mann einen schrägen Blick zu, trank seinen Wein aus und hob das Mea Shearim abermals hoch. Je näher er es an sein Gesicht brachte, desto heller strahlte der Globus. »Ist dieses ›Tor‹ das einzige, das existiert?«

»Soweit wir wissen, ja. Allerdings besagen die alten Texte, es hätte früher, in der Zeit des Exils, Tausende davon gegeben.«

»Und wie öffnet das Mea Shearim den Weg zu Gott?« Jeremiel wiederholte damit die Frage, die er schon vorher gestellt hatte. Rathanial wurde blaß und fuhr sich mit der runzligen Hand durchs weiße Haar.

»Das weiß niemand. Es ist Teil des Mysteriums von Epagael.«

»Aha«, sagte Jeremiel. Er wischte sich die Brotkrumen von den Händen, öffnete dann seine Gürtelschnalle und drückte auf einen an der Rückseite angebrachten Knopf. Ein leises Summen ertönte und zwei verborgene Schieber glitten an der Frontseite zurück. Er legte das Mea Shearim in die entstandene Öffnung.

»Was ist das?« fragte Rathanial erschrocken.

»Hm? Oh, ein Hand-Corder. Es …«

»Es ist ein Sakrileg, ein heiliges Objekt mit solchen Geräten zu untersuchen!«

»Ja, aber es ist auch faszinierend. Schau dir diese Daten an.« Er drehte den Corder so, daß der Vater die Werte auf dem winzigen Schirm erkennen konnte, und lächelte dann nachsichtig, als ihm klar wurde, daß der alte Mann nicht die geringste Ahnung von der Bedeutung der Symbole hatte und sich zudem auch noch für seine eigene Neugier verachtete. »Soll ich sie für dich interpretieren?«

Rathanials Augen verengten sich vor Aufregung. »Was besagen sie?«

Jeremiel lächelte. Immerhin bedeutete diese Frage einen Schritt in die richtige Richtung. »Die äußere Hülle, also der Globus selbst, besteht aus gekühlten Beryllium-Ionen. Sie scheinen eine Art magnetischer Falle zu bilden.«

»Falle?«

»Ja, die Ionen sind in einer Reihe konzentrischer, sphärischer Schalen angeordnet. Sie bewegen sich wie eine Flüssigkeit entlang ihrer jeweiligen Schale, wechseln dabei aber so gut wie nie zu einer anderen Schale über.« Er blinzelte nachdenklich. »Erinnert mich an Palaia Station.«

Er zögerte und wartete, ob Rathanial etwas sagen würde, doch der Mund des alten Mannes war so fest verschlossen wie eine Austernschale. Jeremiel seufzte und fuhr fort: »Ich glaube, wir …«

»Und was ist in diesen Schalen?«

»Das ist vermutlich die Preisfrage. Mit diesem kleinen Hand-Corder läßt sich das allerdings nicht feststellen. Eines aber ist klar: Was immer sich im Innern befindet, es emittiert Partikel in einer erstaunlich hohen Zahl.«

»Welche Art von Partikeln?«

»Jede Art.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ganz und gar nicht.« Er warf dem Wüstenvater ein müdes Lächeln zu. »Außerdem ist der Kern des Objekts extrem schwer.«

»Wie schwer?«

»Ungefähr«, murmelte er und überprüfte nochmals die Anzeige, »vier Milliarden Tonnen.«

Rathanials Gesicht verzog sich abschätzig. »Das ist lächerlich. Ich habe das Mea Shearim selbst schon gehalten. Es ist leicht wie eine Feder.«

»Ja … merkwürdig, nicht wahr?« Jeremiel betrachtete stirnrunzelnd den blauen Ball. »Ich frage mich, ob die Ionen von derselben Quelle gekühlt werden, die der Schwerkraft entgegen wirkt. Möglicherweise befindet sich das Objekt selbst aber auch gar nicht in unserem Raum. Vielleicht existiert die Masse in einem anderen Universum und wir sehen sie durch das ›Tor‹?«

»Gib es mir!« verlangte Rathanial, erhob sich von seinem Stuhl und streckte die Hand aus. »Bei der Ehrerbietung, die du dafür aufbringst, zerstörst du es noch.«

»Das würde ich bestimmt nicht versuchen«, sagte Jeremiel und gab es ihm. »Selbst in Anbetracht dieser unvollständigen Informationen bin ich ziemlich sicher, daß so ein Versuch katastrophal enden würde. Überdies hat Zadok mir aufgetragen, es seinem Enkelsohn Mikael zu geben. Denke also nicht, du könntest damit nach Horeb verschwinden …«

»Ich bin mit der Tradition durchaus vertraut.«

»Kennst du auch die Geschichte dieses Objekts? Mich würde interessieren, wann es aufgetaucht ist.«

Rathanial kehrte zu seinem Platz zurück und schob das Mea ehrfürchtig in seine Tasche. »Die Mythen, die sich darum gewoben haben, sind widersprüchlich. Einige Gelehrte behaupten, es könne bis zu den alten und inzwischen verlorenen Schriften Exodus und Deuteronomium zurückverfolgt werden. Dort wurden zwei heilige Steine, Urim und Thummim, erwähnt, die in die Brustplatte eines Priesters eingelassen waren. Wie es heißt, bedeuteten Urim und Thummim Erleuchtung und Vollkommenheit. Selbst damals wurden die heiligen Steine schon zur Erkundung des göttlichen Willens verwendet. Der einzige erhaltene Satz über sie lautet etwa folgendermaßen: ›Und du solltest einfügen in die Brustplatte der Gerechtigkeit das Urim und das Thummim, und sie sollen sein über Aarons Herz, wenn er vor den Herrn tritt‹.«

»Wer war Aaron?«

»Das weiß niemand mehr. Offenbar irgend ein Priester.«

»Seltsamerweise ist die Kette lang genug, um dafür zu sorgen, daß das Objekt immer über dem Herzen ruht«, sagte Jeremiel leise. »Welche Mythen berichten noch davon?«

»Oh, da gibt es Hunderte. Sinlayzans Volk nannte sie ›Donnersteine‹ und glaubte, sie seien mit dem Tor der Welt verbunden, dem loka-dvara, durch das eine Seele gehen muß, um ins Jenseits zu gelangen, wo immer das sein mag. Es gibt auch eine Geschichte, wonach Yacob, der Vater des Volkes, sich auf einem Stein schlafen legte, der sich an dem Ort befand, wo Himmel und Erde sich einander öffnen und Gott kam, um zu ihm zu sprechen.« Er hob achselzuckend die Hand. »Aber wer weiß schon, was wahr ist. Andere Gelehrte behaupten, die Existenz des Mea reiche nicht weiter zurück als bis zur Großen Kristallnacht.«

»Ich habe irgendwo im Hinterkopf einige Geschichten, die das Mea mit Indras Netz in Verbindung bringen. Kennst du eine dieser Erzählungen?«

»Nein, aber ich bin sicher, daß Zadok sie kannte. Erst kürzlich habe ich selbst gehört, wie er über Fragmente dieser Mythen sprach …«

Ein frostiger Windstoß fuhr durch die Tür in die kleine Höhle und löschte die Kerze. Dunkelheit senkte sich herab. Jeremiel war schon halb auf den Beinen, als vom Korridor her ein Schrei erklang, ein Schrei so voller Entsetzen, daß sein Herz für einen Schlag aussetzte.

»Lieber Gott«, flüsterte Rathanial. »Was …«

Jeremiels Hand glitt zu der Pistole, die an seiner Hüfte hing. Er zog sie, huschte zur Wendeltreppe und eilte die Stufen hinauf.

Ein zweiter Schrei folgte, eine Frau schrie in Panik auf. Dann erklangen Schritte, als ob jemand verzweifelt durch die Dunkelheit irrte.

»Sarah?« rief Jeremiel, und seine Stimme hallte hundertfach wider, als er weiterlief und dabei eine Hand gegen die Wand drückte, um sich in der pechschwarzen Finsternis orientieren zu können. »Sarah!« Entsprechend seiner Erinnerung bog er erst rechts, dann links ab.

Andere Stimmen wurden in den Gängen laut. Irgendwo weiter oben hörte man genagelte Stiefel über Stein kratzen.

»Sarah?«

»Hier«, antwortete eine schwache Stimme. Jeremiel fuhr herum.

»Wo?«

»Hier drüben, an der Wand.«

Jeremiel folgte ihrer Stimme und hielt dabei die Hand vor sich ausgestreckt. Immer wieder stieß er auf Stein; dann aber hörte er ihr heftiges Atmen und kniete nieder. Er tastete durch die kühle Luft, bis seine Finger schließlich ihr Gesicht berührten. Sie zuckte heftig zurück. Beruhigend streichelte er ihre Wange. »Es ist alles in Ordnung, Sarah.« Ihre Haut fühlte sich unter seinen Fingern schrecklich kalt an. »Warst du das, die geschrien hat?«

»Ja.«

»Warum?«

»Etwas Furchtbares ist in diesem Gang. Ich habe noch nie so etwas gesehen. Und es kam auf mich zu!«

»Was? Was war es? Kannst du …«

Er hielt inne, als der Schein von einem Dutzend Kerzen weiter hinten im Gang aufleuchtete. Stimmengewirr drang zu ihnen herüber. Menschen in bunten Roben drängten sich in dem engen Korridor und warfen sich fragende Blicke zu. Jetzt, wo es wieder Licht gab, bemerkte Jeremiel, daß Sarahs angstvoll aufgerissene Augen fest auf eine bestimmte Ecke gerichtet waren, und er folgte ihrem Blick.

Es stand dort, eine schreckliche Dunkelheit in der Form eines beobachtenden Mannes.

»Gesegnet sei Epagael«, flüsterte Jeremiel kaum hörbar. Er richtete seine Pistole auf den »Lauscher«. So viel also zur Theorie der begrenzten Reichweite. »Wer bist du? Was willst du hier?«

Menschen schnappten nach Luft, und die plötzlich zitternden Lampen warfen flackerndes Licht durch den Raum. Die Gestalt verschwand oder verschmolz mit den anderen Schatten. Jeremiel war nicht ganz sicher, was von beidem zutraf. Er streckte die Hand aus, packte Sarahs Arm und half ihr auf die Füße.

»Komm, laß uns zur Oberfläche gehen, wo Licht ist«, sagte er.

»Ja, nur schnell weg.« Sie riß sich von ihm los, drängte sich durch die Menge und lief den Gang empor. Jeremiel folgte ihr im gleichen Tempo und lauschte den flüsternden Stimmen hinter ihm, deren Echo bis zu ihm drang. Eine Minute später fiel ihm ein, daß er Rathanial nicht in der Menge gesehen hatte, und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er wirbelte herum, nahm einem der hinter ihm Gehenden die Lampe ab und rannte zu Zadoks privatem Sanctum zurück, wobei er laut »Rathanial? Rathanial!« rief.

Als er am unteren Ende der Wendeltreppe ankam, hörte er ein leises Klicken. Es klang etwa so, als ob Glas gegen Stein stößt. Jeremiel blieb wie angewurzelt stehen. »Rathanial?«

Niemand antwortete. Er schluckte schwer, stieg die letzten Stufen hinab und betrat die kleine Höhle. Als er die Lampe hob, sah er den alten Mann vor der Nische, in der die Weinflaschen untergebracht waren, auf dem Boden liegen. Die Flaschen waren zum Teil zerbrochen; Glassplitter und Zinnbecher lagen überall im Raum verstreut. Jeremiel konnte keine Wunden entdecken, doch Rathanial hatte eine Hand ausgestreckt und kratzte mit den Fingern Furchen in den sandigen Boden, als taste er nach etwas.

»Vater?« Er ging schnell zu Rathanial hinüber, kniete sich hin und drehte den alten Mann auf den Rücken. Ein schwaches Stöhnen kam von seinen Lippen, und seine Augenlider flatterten. »Was ist passiert?«

»Das Mea Shearim«, keuchte Rathanial. »Er … hat es genommen.«

»Wer?«

»Etwas, das … aus der Dunkelheit kam.« Rathanial versuchte sich aufzusetzen, doch er war zu schwach und sank wieder zurück.

Jeremiel durchsuchte furchtsam die Schatten, während sein Finger den Abzug der Pistole umklammerte. War der »Lauscher« die Treppen zum Sanctum hinabgestiegen? Er erhob sich und trug das Licht langsam durch die Höhle, wobei er jeden Schatten auslöschte. Als er sich der Tür nährte, wollte er schon erleichtert aufatmen, als er eine schwache Bewegung bemerkte. Die Dunkelheit in der Nähe der Tür schien für einen Moment zu erzittern. Er hob die Lampe und ließ den Lichtstrahl auf den Eingang fallen. Die Angst traf ihn wie eine Faust, und er stolperte rückwärts. Hinter ihm schnappte Rathanial nach Luft.

Die samtige Schwärze strich dicht an den Wänden entlang, während sie lautlos davonglitt.