KAPITEL
10

 

 

Ein dunkler Wirbelwind tobte rings um Zadok. Seine Nackenhaare hatten sich auch früher immer gesträubt, wenn er sich im »Auge« befand, doch diesmal kam es ihm besonders erschreckend vor, als ob eine böse Macht in der Nähe lauerte, ihn beobachtete und hoffte, er würde scheitern. Leise, undeutliche Stimmen drangen von allen Seiten auf ihn ein. Sie klangen gedämpft, als kämen sie aus großer Ferne. Er holte tief Luft und schleppte sich blindlings weiter den Tunnel entlang in Richtung des grauen Waberns, das weit voraus schwach sichtbar war.

»Sonderbar«, murmelte er zu sich selbst und fühlte sich ein wenig wie ein verirrter Wanderer. »Sonst hat immer das Leuchten des Mea meinen Weg erhellt. Doch jetzt habe ich gar nichts.«

Ein Gesicht blitzte in der wirbelnden Dunkelheit auf; er stolperte zurück und atmete schwer. Die blonde Frau schüttelte eine Faust und wütete in einer unbekannten Sprache. Ihre Augen glitzerten wie polierter Bernstein. Zadok raffte die rauhe Wolle vor seiner Brust zusammen und unterdrückte ein Schlucken. Auf seinen Reisen zu Epagael hatte er schon tausend Gesichter gesehen. Warum erschreckten sie ihn diesmal so sehr?

»Weil du nichts anderes als ihr Licht hast, um deinen Weg zu erkennen, du alter Narr.« Ein Anflug schmerzlichen Bedauerns streifte ihn, und er senkte den Blick auf die wirbelnde Schwärze zu seinen Füßen. »Nun ja«, seufzte er. »Das hier wird die letzte Reise sein. Also benutze alles, was verfügbar ist, um an dein Ziel zu kommen.« Er hob das Gesicht, um einen Blick auf das Grau in der Ferne zu werfen. »Sedriel?« rief er den Namen des Engels, der das Tor zum ersten Himmel bewachte. »Du arrogante Dienstmagd Aktariels, ich bin es. Zadok! Ich komme, um dich noch einmal zu sehen. Also mach dich bereit, das Tor zu öffnen!«

Es kam keine Antwort, doch Zadok wußte, daß ihn das riesige Biest gehört hatte. Er und Sedriel hatten dieses Spiel schon hundert Mal getrieben, sich gegenseitig gereizt und gnadenlos gehänselt. Von allen Torwächtern war Sedriel die am wenigsten Hochnäsige; sie benahm sich etwa so wie ein Feldarbeiter, der unversehens zum Leiter eines ganzen Erntetrupps ernannt worden ist. Zadok hatte stets das Bedürfnis, den überlegenen Ausdruck aus dem Gesicht der geflügelten Kreatur zu schlagen, hielt sich jedoch angesichts ihrer gewaltigen Größe und Kraft klugerweise zurück.

Zu seiner Rechten erschien die Gestalt einer Frau mit langem schwarzem Haar. Sie krabbelte auf Händen und Füßen, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Epagael!« heulte sie. »Milcom! Laßt mich doch heimgehen. Bitte, ich flehe euch an. Mein kleines Mädchen braucht mich. Nehmt mich jetzt nicht von ihr fort!«

Sedriel rückte in den Hintergrund seines Bewußtseins, als sich ein stählernes Band um Zadoks Herz legte und die Erinnerung an seine erste Reise durch den zeitlosen Tunnel zu ihm zurückkehrte. Er war völlig kopflos und vor Angst schreiend immer im Kreis gelaufen. Dann hatte er das Licht weit voraus entdeckt und war ihm gefolgt.

»Epagael!« schluchzte die Frau. »Ich glaube … Ich glaube! Es tut mir leid, daß ich je gezweifelt habe.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Laß mich heimgehen.«

»Folge dem Licht«, drängte Zadok sanft und deutete nach vorn. »Das ist der Weg zu Gott.«

Sie schien ihn zu hören, denn sie drehte den Kopf und suchte die Schwärze nach ihm ab, ohne ihn jedoch zu sehen. »Wer bist du?«

»Ein erfahrener Freund.« Zadok streckte die Hand aus, um ihr beruhigend über das Haar zu streichen, doch sie verschwand im Nichts. Nur ein tiefer Strudel aus Dunkelheit zeigte die Stelle an, wo sie gestanden hatte. Er schloß die Hand um die leere Luft; dann aber wurde sein Blick nach vorn gezogen, wo eine weitere Gestalt zu leuchtendem Leben erwachte. Es war ein großer Mann, der ein Schwert schwang. Zadok schaute einen Moment zu, wie der Krieger die Dunkelheit zu zerschneiden versuchte.

»Hör auf, deine Zeit zu verschwenden, du alter Dummkopf«, schalt Zadok sich selbst. »Die ganze Galaxis muß den Willen Epagaels erfahren. Warum stehst du also wie ein Trottel hier herum? Die einzige Möglichkeit, zum Schleier zu gelangen, besteht darin, weiterzugehen.« Er strich sich müde über den kahlen Schädel, preßte die Lippen furchtsam zusammen und meinte dann zu sich selbst: »Natürlich wissen wir beide, warum du zögerst. Das Schlimmste kommt erst noch.«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und warf einen schrägen Blick auf den grauen Fleck. Er glitt näher heran und schien ihn niederdrücken zu wollen. »Ich komme ja schon«, murmelte er. »Dräng mich nicht, Sedriel! Ich …«

»Zadok?« erklang eine himmlisch schöne Stimme. »Bist du das?«

Zadok machte ein finsteres Gesicht und stemmte die Hände in die knochigen Hüften. »Ich habe doch gesagt, daß ich es bin. Bist du in den vergangenen drei Jahren taub geworden? Oder nur senil?«

»Oh, Zadok«, dröhnte Sedriels Gelächter durch den schwarzen Tunnel. »Ich habe dich so vermißt. Komm. Komm her, du kleinmütiger Sterblicher. Du bedeutungsloser, aus einem weißen Tropfen geborener Lump. Komm und laß mich …«

»Ich komme ja! Der Teufel soll dich holen, du flammendes Biest!« Zadok marschierte schwerfällig den Tunnel empor und beobachtete, wie mitten im Grau ein strahlend goldener Punkt aufleuchtete.

 

Kaltes Mondlicht strömte durch das Dachfenster und überzog Sybils mahagonifarbenes Haar mit silbernem Frost. Sie kniete auf dem trockenen goldgelben Stroh und zerknüllte mit ihren kleinen Fingern ängstlich den Saum ihrer blauen Robe. Sie befanden sich in einer baufälligen, aus Planken zusammengezimmerten Scheune. Nur durch Seile gehaltene Balken hingen von dem halbzerstörten Dach herab. Sternenlicht fiel durch fußbreite Löcher und beleuchtete Heugabeln und Hufnägel, die unten in den Ställen herumlagen. Der Geruch von Tierdung und altem Leder hing in der Luft.

»Mommy, kannst du etwas sehen? Kommen sie hinter uns her?«

»Bis jetzt sehe ich sie nicht.« Rachel rückte näher an das Fenster heran und schaute auf die unfruchtbaren Felder, welche die verlassene Farm umgaben. In der Ferne funkelte Seir wie eine umgestürzte Piratenschatztruhe. Gold und weiße Brillanten blitzten an den Rändern der hellen, rubinroten Flamme, die das Zentrum der Stadt erleuchtete. Beim Anblick der tobenden Flammen wurde Rachel das Herz leicht – und zugleich schwer. Wie viele waren gestorben? Hatte sie Freunde getötet, die zusammen mit ihr im Garten gespielt hatten, als sie noch ein Kind war? Die Cousinen, die sie immer davor gewarnt hatten, sich in Shadrach zu verlieben, einen wohlbekannten »Aufrührer«? Die alten Leute, die sie haßerfüllt angeschaut und angespuckt hatten, nur weil sie zu bedenken gegeben hatte, der Mashiah sei vielleicht nicht der verheißene Erlöser, auf den sie ihr Leben lang gewartet hatten? Rachel ballte ihre Hand zu einer Faust. Sie hatte nie vorgehabt, irgend jemanden zu töten … niemals. Doch manchmal ließen sich Tote nicht vermeiden.

»Wer hat auf dieser Farm gewohnt, Mommy?«

Rachel schob die Gedanken an den Tod beiseite. »Ich glaube, sie hießen Mahn.«

»Wo sind sie hingegangen?«

»Wahrscheinlich sind sie fortgezogen, als die Dürre all ihre Tiere getötet hat. Vielleicht sind sie aber auch Opfer der Seuche geworden.«

Sybil zögerte und schaute ein wenig verloren drein. »Oder vielleicht ist der Mashiah gekommen, um sie zu töten, weil sie noch immer an Epagael glaubten?«

Rachel drehte sich um und sah den angsterfüllten Blick ihrer Tochter, doch sie hatte weder die Kraft noch die Absicht, sich eine beruhigendere Geschichte auszudenken. Davon abgesehen machte Sybils finsteres Gesicht deutlich, daß sie Rachel sowieso nicht geglaubt hätte. »Vielleicht.«

Sybil zog nachdenklich einen Strohhalm aus ihren braunen Locken, bevor sie fragte: »Mommy, der Mashiah wird jetzt erst recht versuchen, uns umzubringen, nicht war?«

Als Rachel die Angst in dieser zarten Stimme hörte, rollte sie sich herum und streckte die Arme aus. Sybil krabbelte schnell in die angebotene Geborgenheit. »Das wird er doch, oder, Mommy?«

Rachel strich ein paar Haarlocken aus Sybils hübschem Gesicht. »Ich werde dich jetzt wie ein großes Mädchen behandeln, in Ordnung?«

Sybil nickte. Sie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. »Das bedeutet ja, nicht wahr?«

»Ja. Ich glaube, uns bleibt vielleicht noch eine Stunde, bis der Mashiah seine Samaels ausschickt, um uns zu suchen.« Allein der Gedanke an die schrecklichen schwarzen Schiffe ließ ihr einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Sie wußte nur in Grundzügen über die schrecklichen Möglichkeiten dieser Einheiten Bescheid. Shadrach hatte ihr geduldig alles gesagt, was er darüber wußte, doch niemand war genau darüber im Bilde. Konnten die Samaels sie selbst in den Höhlen aufspüren? Sie warf einen Blick auf Sybils hoffnungsvolles Gesicht und betete insgeheim, ihre Tochter würde nicht ausgerechnet diese Frage stellen.

»Können wir nicht weglaufen und uns in den Bergen verstecken? Du hast mal gesagt, er könnte uns nicht finden, wenn wir …«

»Wir werden es versuchen, Kleines.« Rachel küßte Sybil auf die Stirn und zog sie enger an sich. Die kleinen Hände auf ihrem Rücken zu spüren, war so tröstlich wie eine warme Decke in einer kalten Winternacht. Sie gab sich einige Sekunden ganz diesem Gefühl hin und sagte dann: »Sybil, ich möchte, daß du etwas für mich tust. Willst du es versuchen?«

»Was denn?«

»Erinnerst du dich an den zweiten Vornamen deiner Großmutter?«

Sybil runzelte die Stirn, ihr Blick wanderte nachdenklich über die verrottenden Bretter der Scheune. »Nein.«

»Mekilta. Kannst du das wiederholen?«

»Mekilta.«

Rachel atmete tief die nach Heu duftende Luft ein und ließ den Blick auf den hellen Flecken des Mondlichts ruhen, das durch das geborstene Dach über ihrem Kopf hereindrang. »Wenn irgend etwas passiert, Sybil, und wir getrennt werden, dann möchte ich …«

»Aber wir werden nicht getrennt, Mommy«, flüsterte sie beschwörend. »Du würdest doch nicht zulassen, daß sie mich fangen!«

»Nein, nein, Liebes, das würde ich nicht. Aber wenn etwas passiert, wenn … der Mashiah mich vielleicht fängt, dann möchte ich, daß du zurück in die Stadt läufst, am ersten Haus, an dem du vorbeikommst, anhältst und dort an die Tür klopfst. Wenn die Leute dir öffnen, sagst du ihnen, du bist Sybil Mekilta, ja? Wirst du dir merken, nicht Eloel zu sagen?«

»Ich merke es mir. Aber ich will bei dir bleiben! Selbst wenn der Mashiah …«

»Nachdem du den Leuten dort erzählt hast, daß du Sybil Mekilta bist, sagst du ihnen, deine Mommy und dein Daddy sind an der Seuche gestorben, und du brauchst ein neues Zuhause, verstehst du?«

Tränen schimmerten in den Augen ihrer Tochter, und ihr Mund zitterte. Sie krallte ihre Finger in Rachels Haar und zog unabsichtlich daran. »Mommy, ich will nicht …«

»Hast du verstanden?«

Sybil preßte beide Hände auf den Mund und fing an zu weinen. Ihr leises Schluchzen klang wie das Klagen einer Katze. »Mommy!« stieß sie unter Tränen hervor. »Wo ist Daddy? Warum kann ich nicht zu ihm gehen, wenn der Mashiah dich fängt?«

Rachel schloß die Augen. Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Irgendwann in den letzten Tagen war ihr eigener, unerträglicher Kummer einer resignierten Hinnahme gewichen. Sie hatte vergessen, daß ihre Tochter die Wahrheit noch nicht kannte. Dann aber tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß ihnen auch dann nicht die Zeit geblieben wäre, über Shadrachs Tod zu sprechen, wenn sie daran gedacht hätte. Und jetzt … jetzt kam es ihr so vor, als wäre das die schwierigste Aufgabe, die sie in ihrem ganzen Leben gehabt hatte.

»Mommy? Mommy, es ist schon in Ordnung.« Rachel spürte, wie die Hand des Mädchens die Träne von ihrer Wange strich, und dann legten sich die Arme um ihren Hals. »Daddy versteckt sich irgendwo. Das weiß ich genau. Ich habe geträumt, daß Daddy in einem alten Keller saß und Suppe aß. Er konnte nicht zu uns kommen, weil er krank war, aber er wird wieder gesund, Mommy. Und dann hat er …«

»Sybil«, flüsterte Rachel unsicher, »Mommy möchte, daß du jetzt tapfer bist. Versprichst du das?«

Das Mondlicht fiel über Sybils Gesicht, als sie aufschaute und schwer schluckte. »Ja.«

Rachel wappnete sich, um sich nicht von den Erinnerungen überwältigen zu lassen. »Erinnerst du dich, wie die bösen Männer während der Sighet-Feier in den Tempel kamen?«

Sybil erschauerte unwillkürlich, und Stille senkte sich wie ein Leichentuch über die beiden. Rachel versuchte die Fassung zu bewahren, während sie um die richtigen Worten rang.

»Geht … geht es Daddy gut? Mommy …?«

Rachel setzte sich auf und zog Sybil an sich. Ihr eigener Kummer drohte sie zu ersticken. »Nein.«

»Haben die Soldaten des Mashiah Daddy verletzt?«

»Daddy ist tot, Kleines.« Der Schmerz schlug erneut zu, und sie fing an zu weinen. Ihre Schultern zuckten, und die Tränen fielen auf das Haar ihrer Tochter.

»Nein, Mommy«, sagte Sybil fest und wischte sich mit der Hand die Nase ab. »Er lebt. Ich habe ihn in meinem Traum gesehen. Er …«

»Er ist tot, Kleines!«

»Du wirst schon sehen, Mommy«, flüsterte Sybil ruhig. »Ehrlich!«

»Nein«, erwiderte Rachel unter Tränen. »Ich kann nicht erklären, wieso, aber ich weiß, daß er tot ist. Ich spüre einen leeren Platz in meiner Seele, wo er immer gewesen ist. Er ist gestorben.« Und Ornias hat das auch gesagt.

»Nicht weinen, Mommy.« Sybil stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Wange an die ihrer Mutter legen zu können, und streichelte ihr mit einer Hand das Haar. »Nicht weinen. Selbst wenn Daddy tot wäre, sehen wir ihn doch im Himmel wieder.«

Rachel drückte das Mädchen so fest an sich, daß ihr das Atmen schwer fiel. Ihre Gedanken wanderten zu den langen Jahren, die vor ihr lagen. Das kleine Mädchen glaubte nicht an den Tod des Vaters. Schützte sich ihr junger Verstand so vor dem Schock? Doch wie würde das Kind reagieren, wenn ihr die Wahrheit dämmerte? Und wie sollte sie selbst ohne Shadrachs Stärke und Sanftmut überleben? Als er starb, hatte er alle Freude aus ihrem Leben genommen. Und der Himmel? Gott hatte all ihre Träume in Staub verwandelt. Selbst wenn sie so alt wurde wie Gott selbst, nie würde sie jene Tage auf dem Platz vergessen, als die violetten Strahlenlanzen ihren Glauben für immer zerstört hatten.

Rachel schlug die Augen auf und versicherte ihrer Tochter: »Du hast recht, Kleines. Daddy wird im Himmel auf uns warten.«

Sybil nickte und reckte ihre kleinen Schultern, als wäre sie bereit, auch die unerträglichste Last auf sich zu nehmen. Sie küßte Rachels nasse Wange und wisperte: »Laß uns gehen, Mommy. Wir verstecken uns in den Bergen. Dort werden sie uns nicht finden. Wir können Grashühner mit Steinen erlegen, so wie Daddy es uns gezeigt hat. Erinnerst du dich?«

»Ich erinnere mich.« Gedanken an Frühlingstage und Picknicks in den Bergen überfluteten ihren Geist und verstärkten den Schmerz so sehr, daß sie glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.

»Und wir können die Wurzeln ausgraben, die bei den Wasserlöchern wachsen. Auf diese Weise haben wir dann auch Gemüse. Ja, Mommy?«

»Ja …«

»Dann komm jetzt. Wir müssen gehen, bevor der Mashiah seine schwarzen Schiffe schickt, um uns zu suchen.«

Rachel schaute lange aus dem Fenster. Wolkenfetzen trieben durch den bleiernen Himmel über den schroffen Bergspitzen und leuchteten wie poliertes Zinn. Als der Mond langsam herabsank, wanderten die schwarzen Schatten der Berge über die Wüste und schienen den Duft von Salbei und kargen Dornbüschen mitzuführen. Von ihrem Standort aus wirkten die Bergspitzen so nah, als brauche sie nur die Hand auszustrecken, um den kalten Stein zu berühren. Doch sie wußte, allein bis zum Vorgebirge waren es fünf Meilen, und bis zur Sicherheit der Höhlen mindestens zehn.

»Zuerst gehen wir nach unten ins Haus und schauen nach, ob die Leute, die früher hier wohnten, etwas Eßbares in den Schränken zurückgelassen haben. Und dann …«

»Ich helfe dir, Mommy. Wir können aus unseren Schleiern Beutel machen, um die Sachen darin zu tragen.« Sybil krabbelte auf Händen und Füßen über das braungelbe Stroh zur Leiter hinüber.

Rachel folgte langsam, und das Herz klopfte dumpf in ihrer Brust.

 

Der perlmuttfarbene Glanz der Morgendämmerung wurde vom Nebel reflektiert, der wie ein schimmernder Schleier in der eiskalten Luft zwischen Bäumen und Weinreben hing.

Jeremiel fröstelte leicht, als er zum Höhleneingang schritt und sich mit der Schulter gegen den rauhen Stein lehnte. Der Himmel hatte eine stumpfgraue Färbung angenommen, und ein leichter Regen fiel über dem Wald. Die Kiefern bogen sich knarrend in der kühlen Brise; ihr stechender Geruch mischte sich mit dem Duft feuchter Erde.

Seine Furcht hatte ein wenig nachgelassen und war einer schrecklichen Müdigkeit gewichen, die alles wie einen Traum erscheinen ließ. Doch er konnte sich nicht selbst darüber hinwegtäuschen, daß sie im Moment bestenfalls eine Atempause hatten.

Vielleicht sorgte aber auch seine Erschöpfung dafür, daß alles, was er wahrnahm, von Hoffnungslosigkeit gezeichnet schien. Zwei Monate lang hatte er eine gefährliche Charade gespielt, Schlachtpläne für seine Truppen entworfen, nur dann mit anderen Menschen gesprochen, wenn es unumgänglich war, und sich nachts mit dem Wissen in seine Kabine zurückgezogen, daß er schon eine Stunde später schweißgebadet wieder hochschrecken würde. Zum Glück wußten seine Offiziere genug, um ihn in Ruhe zu lassen. Sympathie oder Mitleid hätte er nicht ertragen. Dann wäre es ihm unmöglich geworden, die Fassade der Härte aufrecht zu erhalten, die er im Umgang mit seinen Streitkräften brauchte. Kündigte diese neue Gelassenheit eine Linderung des Schmerzes an? Würde er jetzt verstehen und akzeptieren, was geschehen war?

»Akzeptieren?« flüsterte er zu sich selbst. Würde er das je können, selbst wenn der furchtbare Schmerz nachließ?

»Nach deinem Gesicht zu urteilen«, sagte Rathanial mit leiser Stimme irgendwo hinter ihm, »würde ich sagen, daß du zutiefst besorgt bist. Machst du dir Gedanken wegen Horeb?«

Jeremiel holte tief Luft und meinte dann: »Nein, ich habe nur ganz allgemein nachgedacht.«

»Worüber?« Der alte Mann machte ein paar Schritte vorwärts und stellte sich neben Jeremiel in den Höhleneingang. Seine braune Robe sah frisch gewaschen aus und duftete nach Rauch, als wäre sie über einem Feuer getrocknet worden. Das weiße Haar und der Bart sahen in dem trüben Licht schiefergrau aus. »Entschuldige, aber du hast ausgesehen, als hättest du ein ernstes Gespräch mit dem Tod geführt.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Den gleichen Gesichtsausdruck habe ich bei Soldaten auf dem Schlachtfeld erlebt, wenn sie so erschöpft waren, daß sie jegliche Hoffnung verloren hatten.« Er blickte Jeremiel scharf an. »So geht es dir doch nicht, oder? Ich weiß ja, daß du in den letzten Monaten eine Reihe schwerer Schlachten ausgetragen hast.«

»Es geht mir gut.« Er erwiderte den Blick des alten Mannes mit ausdrucksloser Miene. Rathanials schmale Schultern versteiften sich, als hätte er gerade mehr gesehen als er sollte. Jeremiel verfluchte sich innerlich. War seine Verletzlichkeit so offensichtlich?

»Jeremiel, vor uns liegt ein sehr schwerer Weg. Wenn du dich dem zur Zeit nicht gewachsen fühlst, sollten wir vielleicht warten.«

»Ich bin mehr als fähig dazu, alles zu tun, was nötig ist, um unsere Leute auf Horeb zu retten.«

Rathanial verschränkte die Arme und nickte, wenn auch ein wenig ungläubig. »Ich weiß, du warst in der Vergangenheit stets zuverlässig, Jeremiel. Doch jeder von uns durchläuft Zeiten der Unsicherheit. Ich könnte verstehen, wenn du warten möchtest.«

»Dräng mich nicht, Rathanial. Ich habe gesagt, es geht mir gut.« Er hörte den schrillen Ton, der sich in seine Stimme geschlichen hatte, doch es war ihm gleichgültig. Warum war der alte Mann so hartnäckig? Verdammt! Wußte er von Syene? Das Infragestellen seiner Fähigkeiten machte ihn nur noch entschlossener, sich nach Horeb zu begeben. Wußte Rathanial das?

»In Ordnung. Nun, dann sollten wir jetzt unsere Pläne besprechen.«

»Wir nehmen getrennte Schiffe«, erklärte Jeremiel, der froh war, daß ihr Gespräch sich jetzt auf einem so sicheren Feld wie dem der Strategie bewegte.

Rathanial schüttelte den Kopf. »Was? Warum? Ich hatte vorausgesetzt, wir reisen zusammen.«

»Getrennte Schiffe erhöhen unsere Chancen, daß zumindest einer von uns durchkommt. Hast du schon etwas arrangiert?«

»Ja, ein kleines Shuttle holt mich morgen ab. Es ist alles vorbereitet. Ich … ich dachte, du kommst mit mir?«

»Nein.«

»Hast du schon eine Transportmöglichkeit?«

»Noch nicht.«

»Jeremiel«, sagte Rathanial zögernd, »ich möchte nicht, daß du unnötige Risiken eingehst. Besonders dann nicht, wenn du …« Jeremiels harter Blick brachte ihn zu Schweigen. »Vielleicht sollte ich Kontakt zu meinen Leuten aufnehmen und dafür sorgen, daß sie ein weiteres Schiff schicken. Das wird nur ein paar Tage dauern.«

»Es würde aber Verdacht erregen. Mach dir um mich keine Sorgen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich schon vor dir auf Horeb eintreffen.« Ein ironisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Rathanials runzlige Lippen preßten sich zusammen. Er richtete seinen Blick auf den opalisierenden Nebel, der sich um die Bäume wand. Die Wolken am nördlichen Horizont hatten durch den Widerschein der aufgehenden Sonne fahlgoldene Ränder. »Also gut. Wenn du es sagst. Dann treffe ich dich ja dort.«

»Erzählst mir, wie ich deine geheimen Höhlen finde?«

Als Rathanial ihm seine Instruktionen gab, spürte Jeremiel einen scharfen Schmerz in der Brust. Wieder würde eine Schlacht zum Besten des Volkes geführt und noch mehr Leben verschwendet werden in einem immer nutzloser erscheinenden Krieg, der das gamantische Erbe bewahren sollte.

»… und du mußt daran denken, der Schieber befindet sich unter dem überhängenden Kamm aus braunem Sandstein.«

»Ich werde es mir merken.«

»Es kann sein, daß du dich auf den Rücken legen und danach tasten mußt, um es zu finden. Wenn man es noch nie gesehen hat, kann man es kaum entdecken …«

War eine Kultur es wert, daß soviel Blut vergossen wurde? Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, da hätte eine derartige Frage ihn wütend gemacht. Damals hatte er geglaubt, sie müßten bis zum letzten Atemzug kämpfen, um die alte Lebensweise zu erhalten, doch jetzt …? Und insbesondere auf Horeb, wo auf beiden Seiten Gamanten sterben würden? Die »Kultur« spreizte ihre Klauen wie ein amorphes, blutrünstiges Monster. Eine im Käfig gehaltene Bestie, die immer mehr und mehr von ihren Wärtern forderte. Und gerade jetzt kam es ihm so vor, als würden die Krallen der Bestie sich fest um seine Kehle schließen. Er wollte ihr entkommen und fortlaufen.

Irgendwo in den Tiefen seines Bewußtseins hörte er seinen Vater rufen und sah wieder den Schnee aufstieben, den der Mann von seinen Stiefeln abstreifte, bevor er ihr Haus in Tikkun betrat. Der dreizehnjährige Jeremiel rannte barfuß durch den Flur, um seinen Vater zu umarmen. »Wie ist es gelaufen?« Es war ein heikles Treffen gewesen.

Menachem Baruch tätschelte ihn sanft, nahm dann den blauweißen Gebetsschal von seinen Schultern, faltete ihn und küßte den Stoff. »Nicht gut, mein Sohn«, sagte er leise.

»Wieso? Was ist passiert?«

»Wir … wir haben keine Kraft mehr. Kein Geld. Keine Hoffnung. Jeder macht sich Sorgen wegen der Zukunft.« Langsam ging er zum Wandschrank hinüber, um den Schal in die dafür bestimmte Schachtel zu legen. Als er sich umdrehte, flüsterte er: »Die alte Ruth ist krank. Wir waren nicht genug, um eine Entscheidung zu treffen.«

»Papa! Ihr konntet kein Minyan bilden? Nicht einmal zehn sind gekommen? Nicht einmal zehn?«

Sein Vater schien damit beschäftigt, den fadenscheinigen schwarzen Anzug zu glätten, und sein gesenkter Blick verbarg die tränenerfüllten Augen. »In den alten Zeiten lebten so viele Gamanten auf Tikkun, daß man sie nicht zählen konnte.« Er hob eine kräftige Hand, die Hand eines Zimmermanns, und fuhr damit durch die Luft. »Wenn man durch die Straßen ging, klopften einem die Menschen freundlich auf die Schulter. Und am Shabbat ruhte der ganze Planet. Nicht einmal der Wind strich draußen um die Häuser. Straßauf, straßab leuchteten die Kerzen. Heilige Gesänge erhoben sich wie die segnende Hand Gottes, wanden sich zwischen den Häusern hindurch und drangen durch jedes Fenster.« Er blickte düster zu Boden. »Nicht einmal zehn. Ich … ich glaube, es dauert nicht mehr lange, bis es keinen Sinn mehr hat, überhaupt noch hinzugehen.«

»Keinen Sinn? Papa, so etwas darfst du nicht sagen! Niemals!«

»Jeremiel? Jere …«

»Ich höre ja, Rathanial.« Er rieb sich die Nase und verdrängte die Erinnerung. Dann lehnte er sich erneut gegen den Felsen und erwiderte offen den Blick des alten Mannes. »Ich hoffe, gegen Ende der Woche dort zu sein. Ist das schnell genug?«

Rathanial beäugte ihn unbehaglich. »Schneller, als ich von irgend jemand erwartet hätte. Von jemand menschlichem jedenfalls. Doch deine übermenschlichen Taten sind ja legendär.«

Jeremiel spürte, daß kein Vertrauen hinter diesem Lob steckte. »Wirst du deinen Leuten mitteilen, daß ich möglicherweise vor dir eintreffe?«

»Ja, sie werden dich erwarten.«

»Gut.«

Rathanial runzelte die Stirn und zögerte unbeholfen. »Äh, Jeremiel, darf ich dich etwas fragen? Ich möchte nicht indiskret sein, aber du planst doch nicht etwas Illegales, um nach Horeb zu gelangen? Ich meine, du wirst doch keinen Diebstahl riskieren?«

»Kommt drauf an.«

Der alte Mann blickte gequält auf. »Nun, das ist natürlich deine Sache. Aber wenn du diese ›Methode‹ wählst, dann denk daran, daß die galaktischen Marines überall auf Kayan herumschwirren. Über Capitol haben sie den Ausnahmezustand verhängt. Wir vermuten, daß du ihr Ziel bist. Der Raumhafen wird schwer bewacht.«

»Ich danke dir für diese Information. Gibt es sonst noch etwas?«

»Nein. Ich dachte eigentlich, das würde reichen.«

»Ich wünsche dir eine sichere Reise, Rathanial.«

Der geistliche Führer verneigte sich. »Möge der Segen Epagaels dich begleiten.«

»Danke, Vater.«

Rathanial umarmte Jeremiel kurz, bevor er sich umwandte, um in die Dunkelheit der Kavernen zurückzukehren. Jeremiel lauschte den sich entfernenden Schritten und blickte dann wieder zu den feuchten Wäldern Kayans hinüber. Die Wolkendecke war aufgerissen und hatte ein Schlupfloch für die Sonne geschaffen. Ein goldener Strahl drang herab und schuf blitzende Reflexe auf den Flügeln der kreisenden Vögel.

Jeremiel holte die Kapuze aus seinem Kragen, zog sie über den Kopf und trat aus der Höhle heraus. Schon bald würde er wieder unterwegs sein. Doch zuerst wollte er durch den Nebel wandern, bis die Feuchtigkeit ihn bis auf die Knochen durchtränkt hätte. Vielleicht wäre er dann, wenn sein Fleisch sich genauso kalt anfühlte wie seine Seele, auch wieder in der Lage, geradlinig zu denken. Wenn er auf Horeb ankam, mußte er wieder im Vollbesitz seiner Fähigkeiten sein.

Er wanderte am Fuß der hohen Klippen entlang und sog den Geruch der nassen Bäume und Steine ein.