KAPITEL
14
Wehe, Wehe, ihr braven Menschen … Auf seiner Stirn stehen drei Buchstaben: AKT. Und er wird herrschen für drei Jahre. Und in seinem ersten Jahr wird alles Gras auf Erden verdorren. Dann wird eine große Seuche kommen … Die Menschen werden den Tod anrufen und Gräber ausheben und sagen: »Gesegnet und dreimal gesegnet seien jene, die schon gestorben sind, denn sie müssen diese Zeit nicht mehr erleben.«
Die Griechische Apokalypse nach Daniel
Datiert auf: 800 Alter-Erdstandard
Rachel und Sybil kämpften sich über den steilen Pfad den dunklen Berghang hinauf. Große Steinblöcke lagen über den Hang verstreut wie eine Lawine aus monströsen, vom Wind bearbeiteten Skulpturen. Im kalten Sternenlicht wirkte der Hang wie ein zerstörter Garten der Götter: Emporgereckte Fäuste und grimme prometheische Gesichter drohten in stummem Trotz, doch ihre Wut war schon vor langer Zeit von den Sandstürmen Horebs ihrer Kraft beraubt worden.
»Mommy?« keuchte Sybil. »Hilfst du mir?«
Rachel drehte sich um und sah, wie ihre Tochter vergeblich am ausgefransten Saum ihres blauen Gewandes zerrte. Der Stoff hatte sich in den unnachgiebigen Zweigen eines Dornbuschs verfangen und wollte nicht freikommen. Dichtes Buschwerk sproß aus jedem Riß im Fels, und die Dunkelheit machte es praktisch unmöglich, den dornbewehrten Fallen zu entgehen.
»Ich komme schon, Kleines.« Müde kehrte sie um und arbeitete sich den steilen Pfad wieder hinab. Sie packte den Saum und zog kräftig daran. Das Geräusch reißenden Stoffes schien die Stille zu zerteilen. Ein flatterndes blaues Band hing jetzt an dem Strauch.
Sybil strich sich die braunen Locken aus der Stirn und blickte auf. Ihr schmutziges Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet. »Danke, Mommy. Komm, gehen wir weiter. Es tut mir leid, daß ich …«
»Sybil?« Mit vor Schwäche zitternden Knien stützte sich Rachel gegen einen Felsen und ließ sich von den Wüstenwinden streicheln. »Laß uns einfach für einen Moment hier stehenbleiben.«
»Ist alles in Ordnung, Mom?«
»Ja, ich brauche nur eine Pause.«
»Soll ich schon ein bißchen vorgehen? Ich kann noch ein wenig klettern.«
Das Mädchen wischte sich die laufende Nase mit dem Ärmel ab und streckte den Rücken durch. Im Licht der Sterne leuchteten ihre Augen graublau, als wären sie mit Stahlstaub besetzt. Das kleine Päckchen mit Lebensmitteln auf ihrem Rücken pendelte bei jeder Bewegung. Mein armes Baby. Du möchtest weiter klettern, weil die Angst dir keine Ruhe läßt, bis wir in Sicherheit sind. Lieber Gott, welche Schrecken hast du schon durchlitten. Wirst du jemals fähig sein, nach alledem wieder normal zu leben? Werden die Narben in deiner Seele jemals verheilen?
»Geh aber nur ein kleines Stück weiter, Sybil. Bleib in Sichtweite.«
»Mach ich.« Das Mädchen stapfte vorwärts und streichelte im Vorbeigehen kurz das Bein der Mutter.
Rachel ließ sich müde gegen den Felsen sinken. Ihr eigenes kleines Päckchen zerrte schmerzhaft an ihren Schultern. Ihr Blick wanderte zurück nach Seir. Nur ein kleiner Teil der Stadt war zwischen den hochaufragenden Felsen zu sehen, und die Lichter glühten hinter einem Schleier aus Staub.
»Mashiah, bist du schon unterwegs?« fragte sie stumm, während die Angst ihr die Brust eng machte.
Ein Meteor strich durch den nächtlichen Himmel und hinterließ eine leuchtende Silberspur über den Spitzen der Berge. Rachel blinzelte und schüttelte den Kopf, weil es ihr so vorkam, als hätte er sich ungleichmäßig bewegt. Ein Schiff? Doch es war verschwunden, bevor sie genauer hinsehen konnte. Irgendwo im Gehölz sägte ein Buschbock; das Lied des Insekts hörte sich an wie eine rostige Türangel. Sie lauschte eine Weile und ließ den Klang in ihre gequälte Seele eindringen.
»Adom … du sollst verdammt sein. Laß uns doch laufen.« Doch sie wußte, das würde er nicht tun. Sie mußte in Bewegung bleiben. Genau in diesem Augenblick mochte der Samael auf der Suche nach ihnen Seir verlassen – wenn er nicht sogar schon unterwegs war. Sie wandte sich um und stieg den Pfad abermals empor. Ihre Füße stampften schwer auf den Stein.
»Sybil? Wo bist du?«
»Ich bin hier. Auf dem Felsen.«
»Wo? Ich kann dich nicht sehen.«
»Hier drüben.«
Rachel spähte durch die Dunkelheit, konnte Sybil jedoch nicht ausmachen. Sie bohrte die Finger in Risse im Fels und benutzte den Stein als Hebel, um ihren müden Körper nach oben zu ziehen. Als sie die Biegung erreichte, fand sie Sybil zusammengerollt auf der flachen Oberseite eines roten Sandsteins. Sie hob schwach den Kopf und wirkte schrecklich müde. Rachels Seele krümmte sich voller Schmerz bei dem Anblick. Wie lange konnte das Kind dieses Tempo noch durchhalten?
»Wo sind die Höhlen, Mommy?«
»Nicht mehr sehr weit. Vielleicht noch eine Meile.«
»Ist der Weg dorthin genauso steil?«
»Ja, Kleines, ich fürchte schon. Kannst du…« Rachel schwankte innerlich. Sybil brauchte unbedingt Schlaf, und ihr selbst ging es auch nicht besser. Aber konnten sie sich das leisten? »Möchtest du ein kleines Nickerchen machen?«
»Nein, Mommy. Wir dürfen nicht ausruhen. Der Mashiah könnte uns finden und töten.« Sybil wollte vom Felsen herabrutschen. Ihre Beine zitterten.
»Bleib dort, Liebes. Wir nehmen uns ein paar Minuten Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Ich glaube, das können wir uns erlauben.«
»Ist das nicht gefährlich? Warum gehen wir nicht …«
»Überlaß mir das Denken. Ich bin viermal so alt wie du.«
»Manchmal spielt das keine Rolle«, meinte ihre Tochter skeptisch und wackelte in einer Weise mit dem Kopf, daß Rachel lächeln mußte.
»Vertrau mir diesmal.«
Sybil biß sich auf die Unterlippe und betrachtete unbehaglich den roten Sandstein zu ihren Füßen. »Du gehst nicht weg?«
»Nein, ich bleibe hier bei dir.«
»Und du läßt auch nicht zu, daß der Mashiah mich holt?« Die Angst ließ ihre Stimme zittern.
»Niemals. Ruh dich aus, Liebes.«
»Vielleicht … vielleicht schließe ich meine Augen einfach für einen Moment.«
»Tu das ruhig. Ich halte Wacht.«
Rachel ließ sich auf den Rand des Steins sinken und legte die schmutzigen Hände in den Schoß. Ihr pfirsichfarbenes Gewand hing in Fetzen. Die noch übriggebliebenen Opalperlen reflektierten das Sternenlicht in unregelmäßigen Mustern. Das hüftlange Haar hing ihr in stumpfen Strähnen über die Schultern herab.
Rachel richtete den Blick auf Sybil. Das silberne Licht zeichnete sanft die Konturen ihres Gesichts nach. Rachel wollte die Hand ausstrecken und sie liebevoll streicheln, fürchtete aber, die dringend benötigte Ruhe des Mädchens zu stören.
»Shadrach, Shadrach…«, flüsterte sie kaum hörbar und gewann Kraft aus seinem Namen, als könne er immer noch ihr Bitten hören und spüren, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. »Wir haben es versucht, nicht wahr? Aber wir haben versagt. Die Traditionen, die wir bewahren wollten, sind für immer fort. Niemand kümmert sich mehr darum. Vergib mir … vergib mir, daß ich nicht zurückgekommen bin, um nach dir zu suchen. Ich hatte Angst, Sybil könnte in das Feuer geraten.«
Ein plötzlicher Windstoß pfiff über den Weg. Rachel schloß die tränenfeuchten Augen und spürte, wie der vom Wind getriebene Sand ihr Gesicht traf. In Gedanken hörte sie Shadrach sagen, sie hätte alles richtig gemacht; etwas anderes wäre ihr gar nicht übriggeblieben. Irgendwo über ihr in der Dunkelheit vermeinte sie das Rauschen von Schwingen zu vernehmen. Nachtvögel?
Geistesabwesend schaute sie hoch und erstarrte.
Das langsam über dem Pfad schwebende Schiff sah aus wie ein krabbelnder Käfer. Schwärzer als die Nacht rückte der Samuel vor und verdunkelte die Sterne.
Die Furcht nahm Rachel den Atem. Zitternd streckte sie die Hand aus und schüttelte sanft ihre Tochter.
»Ist es Zeit, Mom?«
»Pst!«
»Was ist?« fragte Sybil ängstlich und blieb reglos liegen.
»Sie sind da.« Rachel deutete mit dem Kinn zum schwebenden Schiff hinüber. Sybil rührte sich nicht. Als der Samael näher kam, übertönte sein Zischen das Geräusch des Windes. Die Marines suchten offenbar jede einzelne Felsspalte ab und hatten wohl zu diesem Zweck Hitzesucher und Bewegungsmelder auf kürzeste Reichweite eingestellt, denn andernfalls hätten sie die beiden längst entdeckt.
»Wir haben immer noch eine Chance«, flüsterte Rachel hastig. »Sybil, ich möchte, daß du ganz langsam von diesem Stein herunterrutschst und dir ein Loch in den Felsen suchst. Eine kleine Höhle unter einem Felsüberhang oder so etwas. Wenn sie mich fangen, läufst du weg, so schnell du kannst!«
»Nein, Mommy, ich will …«
»Widersprich mir jetzt nicht. Geh!«
Sie hörte ein schabendes Geräusch, als Sybil auf der anderen Seite des Felsens herabrutschte. Dann erklangen leise Schritte, und das Mädchen entfernte sich.
Rachel saß vollkommen reglos da, um Sybil genug Zeit zu geben, sich zu verstecken, bevor sie selbst in die entgegengesetzte Richtung zu flüchten versuchte. Wenn es ihr gelang, die Marines weit genug fortzulocken, mochte Sybil entkommen.
Rachel leckte sich über die trockenen Lippen, schaute zum Schiff hinüber und versuchte, ihren betäubten Verstand zum Denken zu zwingen. In der Ferne ging der erste Mond auf. Die unscheinbare helle Scheibe zeichnete die Umrisse der dunklen Bergspitzen nach und warf einen Teppich aus blassem Silber über das Land. Die Schatten der hochaufragenden Felsen streckten sich wie lange Finger nach ihr aus. Sie zuckte zusammen, als plötzlich ein Stein aus dem Nichts heranflog und gegen einen fünfzig Fuß entfernten Felsblock prallte. Der Samael änderte sofort seine Flugrichtung. Seine Seite leuchtete im Mondlicht wie poliertes Zinn, als er drehte und den Weg verließ, um die Quelle der Bewegung ausfindig zu machen.
Rachel hörte ein leises Flüstern hinter sich. Eine tiefe männliche Stimme befahl: »Schnell, schwingen Sie Ihre Beine über den Rand, und lassen Sie sich auf den Pfad fallen. Zwischen den Steinen ist ein enger Durchgang, der nach links führt. Benutzen Sie ihn.«
»Wer …«
»Machen Sie schon!«
Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen. Einer der Männer des Mashiah? Ihr blieb nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln. Sie ließ sich hinabgleiten, entdeckte den winzigen Tunnel unter dem Felsabsturz und rutschte auf dem Bauch hindurch. Der Geruch von trockenem Gras und dem Dung kleiner Nagetiere drang ihr in die Nase. Abgerissene Zweige, vertrocknete Beeren und seltsam geformte Steine hatten sich am Fuß der Felsen gesammelt. Staub wirbelte hoch und reizte ihre Lungen, als sie sich durch diese Ablagerungen schob. Sie verspürte den beinahe unwiderstehlichen Drang zu husten, unterdrückte ihn und hatte dabei das Gefühl, ihre Brust würde gleich bersten. Als sie auf der anderen Seite herauskam, entdeckte sie Sybil, die neben einem großen blonden Mann mit rötlichem Bart kauerte. Mondlicht drang in das Versteck und erhellte ihre Gesichter. Der Mann hatte eine gerade Nase und hohe Wangenknochen. Seine verwirrend blauen Augen fingen ihren Blick auf und hielten ihn fest. Der schwarze Anzug betonte die breiten Schultern und die schlanke Taille. Er zielte mit einer Pistole auf ihren Kopf.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern wissen, auf welcher Seite Sie stehen. Ich vermute, Sie fliehen vor dem Mashiah?« flüsterte er, während seine Augen den Sternenhimmel absuchten, der durch eine schmale Lücke im Fels sichtbar war.
Rachel nickte, weil sie Angst hatte zu sprechen, solange der Hustenreiz sie noch quälte.
»Gut, dann folgen Sie mir.« Er senkte die Pistole, ließ sich auf Hände und Knie nieder und führte sie durch eine Reihe enger Tunnel, die sich schließlich zu einer kleinen runden Höhle erweiterten. Völlige Dunkelheit umgab sie. Rachel vergrub das Gesicht in den Falten ihres Gewandes und hustete ausgiebig. Sie hörte, wie der Fremde sich zurücklehnte, zog Sybil zu sich heran und ließ sich ebenfalls an der Wand nieder.
Mehr als eine Stunde lang saßen sie dort und lauschten ihren Atemzügen, bis der Mann schließlich sagte: »Bleiben Sie hier. Ich bin gleich wieder zurück.« Das Schaben von Stiefeln auf Stein erklang, als er hinauskroch.
»Es ist alles in Ordnung, Kleines.« Rachel zog Sybil näher an sich und streichelte ihr das schmutzige Haar.
»Wer ist er, Mommy?«
»Ich weiß nicht, aber laß uns jetzt noch ein Weilchen still sein, ja?«
Sybil nickte, streckte sich aus und legte den Kopf in Rachels Schoß. Es schien nur Sekunden zu dauern, bis das Atmen ihrer Tochter in die tiefen, gleichmäßigen Züge des Schlafs überging. Erschöpft lehnte Rachel den Kopf gegen die rauhe Steinwand, tätschelte sanft Sybils Bein und ließ ihre Gedanken schweifen. Wer mochte er sein? Nach seiner Frage zu urteilen und der Art, wie er mit der Pistole auf sie gezielt hatte, bis sie die richtige Antwort gab, konnte er nicht zu den Truppen des Mashiah gehören. In Seir hatte sie ihn noch nie gesehen. Ein so gutaussehender und offenbar auch kompetenter Mann hätte zweifellos ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Konnte er aus einem anderen Teil Horebs stammen? Es gab winzige Dörfer, die über die Wüsten verstreut waren; aber die dort lebenden Nomaden empfanden für die Stadt in der Regel nichts als Verachtung. Außerdem wirkte er nicht wie ein gewöhnlicher Hirte. Ein Fremdweltler? Doch warum sollte jemand von einem anderen Planeten, der vom Mashiah wußte und gegen ihn eingestellt war, hierher kommen? In den vergangenen drei Jahren waren viele, die Adom unterstützten, nach Horeb gekommen, doch deren Gründe waren offensichtlich: Sie wollten dem gesegneten Erlöser nahe sein. In diesen schweren Zeiten suchte jeder nach Errettung. Doch dieser Mann war anders, seine Anwesenheit ein Rätsel, und Rätsel machten Rachel Angst. Sie ließ sich so viele verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen, daß sie von tiefem Mißtrauen erfüllt war, als der Fremde etwa eine Stunde später zurückkehrte.
»Ich glaube, wir sind jetzt sicher«, flüsterte er. Ein Rascheln ertönte, als er irgend etwas über den Boden zog. Ein paar Sekunden später flammte Licht auf. Rachel zuckte zusammen, als die handgroße Lampe strahlend weiße Helligkeit auf Wänden und Decke verbreitete. Die dicke Rußschicht über ihren Köpfen zeugte davon, daß sie nicht die ersten waren, die hier Zuflucht gesucht hatten. In der Mitte des Bodens bezeichnete ein kleiner Steinhaufen die Stelle, an der schon Dutzende von Feuern gebrannt hatten.
»Wer sind Sie?« erkundigte der Fremde sich beiläufig, während er zwei mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllte Flaschen aus seinem Rucksack holte. Er reichte Rachel eine und erklärte: »Energiekonzentrat. Ist ziemlich klebrig, wird Ihnen aber gut tun. Trinken Sie.«
Ihre Blicke verschränkten sich für einen Moment ineinander; dann schaute Rachel auf seine am Gürtel befestigte Pistole und murmelte: »Können Sie auch mit Menschen reden, ohne ihnen Befehle zu erteilen?«
Er senkte den Blick. »Nicht besonders gut. Versuchen wir es noch einmal. Ich bin der Mann, der Ihnen gerade das Leben gerettet hat. Und wer mögen Sie wohl sein?«
»Wie heißen Sie?«
Er zögerte, nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Da ich es war, der Sie gerettet hat, steht es mir wohl zu, zunächst zu erfahren, wer Sie sind.«
Ärger wallte in ihr auf, und sie schlug mit der Faust auf den Boden. »Ich bin seit einer Woche auf der Flucht und versuche, dem Mashiah und den speziellen Foltern zu entkommen, die er für mich vorgesehen hat. Ich werde Ihnen nicht sagen, wer ich bin, so lange ich nicht weiß, ob Sie nicht einer seiner Männer in Verkleidung sind! Also, wer sind Sie?«
Er zog die Augenbrauen hoch und stieß einen mürrischen Seufzer aus. »Jeremiel.«
»Jeremiel …?«
»Jeremiel. Und Sie sind?«
»Rachel.«
Er blickte sie wissend an. »War mir eine Ehre, Ihnen zu Diensten gewesen zu sein… Rachel.« Er deutete auf Sybil, die in ihrem Schoß lag. »Und wer ist das?«
»Meine Tochter, Sybil.«
»Ja, das ist mir schon eine. Sie hat mich gebissen, als ich sie tiefer zwischen die Felsen ziehen wollte.« Er schob den Ärmel hoch, um ihr die geröteten Zahnabdrücke zu zeigen.
»Sie hat es nicht so gemeint. Sie war nur …«
»Oh, sie hat es durchaus so gemeint. Sie hätten das zufriedene Leuchten in ihren Augen sehen sollen, als mein Blut floß.«
»Sie hatte Angst.«
»Ich auch.« Er lehnte die breiten Schultern wieder gegen die rote Wand und nickte bekräftigend. »Dieses Schiff hat auch nicht gerade einen freundlichen Eindruck auf mich gemacht. Warum will der Mashiah Sie töten? Ich nehme doch an, das war eines seiner Schiffe?«
Sie nickte. »Ja, ein Samael. Er benutzt sie, um die Bevölkerung zu terrorisieren.«
»Samael? Nennt er so seine Schiffe?«
»Ja, aber ich weiß nicht, was der Name bedeuten soll.«
»Spielt auch keine Rolle. Mir war nur gerade so, als brächte diese Bezeichnung irgend etwas in meiner Erinnerung zum Klingeln. Warum hat er Sie verfolgt?«
Sie warf einen forschenden Blick auf sein Gesicht und verschränkte die Arme schützend vor der Brust, während wilde Verdächtigungen durch ihren übermüdeten Verstand schossen. »Sie stammen offensichtlich nicht von Horeb. Was machen Sie hier?«
»Lassen Sie uns eine Frage nach der anderen abhandeln. Meine zuerst, ja?«
Sybil hob den Kopf und blickte Jeremiel feindselig an. »Ich mag ihn nicht, Mommy. Er traut dir nicht.«
»Ist schon in Ordnung, Kleines. Ich traue ihm auch nicht. Schlaf jetzt. Es kann sein, daß wir schon bald wieder weitermüssen.«
Sybil warf Jeremiel einen wenig schmeichelhaften Blick zu und vergrub dann ihr Gesicht in Rachels zerrissenem Gewand. Ihre Ängste quälten Rachel, doch als sie aufschaute, entdeckte sie ein unterdrücktes Lächeln um Jeremiels Mundwinkel, und das löste ihre Anspannung ein wenig. Zumindest schien er menschlich zu sein.
»Sie ist einfühlsam.«
»Sehr.«
»Will der Mashiah sie auch töten? Oder ist er nur …«
»Ja.«
»Und Ihr Mann? Wo ist der?«
»Er…« Rachels Herz wurde plötzlich schwer. Sie versuchte, einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, doch ihre Hand zitterte so sehr, daß sie einen Teil der Flüssigkeit über ihre Kleidung verschüttete. Schließlich benutzte sie beide Hände, um die Flasche wieder sicher auf dem Boden abzusetzen. »Tot.«
»Das Werk des Mashiah?«
Sie nickte.
Er runzelte die Stirn und streifte methodisch das Kondenswasser von seiner Flasche ab. Seine Stimme klang sanft und überzeugend, als er sagte: »Das tut mir leid. Ich bete darum, daß Epagael gut für ihn sorgt.«
»Erzählen Sie mir nichts von Gebeten«, stieß sie hervor. »Wenn Gott bereit ist, uns so schrecklich zu strafen, dann kann er auch ohne unsere Gebete auskommen.«
»Sie sind eine Ungläubige?«
»Nur ein Narr würde noch an einen gütigen Gott glauben – nach allem, was er uns angetan hat.«
»Vielleicht, aber ich habe etwas für Narren übrig. Als loyales Mitglied ihrer Gilde glaube ich nicht, daß wir ohne Narren überlebt hätten.«
»Die Dummen werden noch unser aller Untergang sein.«
»Eher unsere Rettung. Sie und ihr sturer Sinn für Gerechtigkeit, der sie bis zum letzten Atemzug zur Verteidigung Gottes und ihres Volkes kämpfen läßt.«
Rachel warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »So, dann sind Sie also auch ein Narr?«
Er hob die buschigen Augenbrauen, und sein roter Bart zitterte leicht, als er die Zähne zusammenbiß. Tiefer Schmerz wurde plötzlich in seinen Augen sichtbar. »Meinen Sie damit, ob ich an einen Gott glaube, der über uns wacht und uns liebt? Nein. Ich glaube, der einzige Schutz, über den Gamanten verfügen, liegt in der Stärke ihrer Waffen, der Kraft ihrer Körper und der Schärfe ihres Verstandes.« Er erwiderte ihren harten Blick. »Aber nur, weil ich meinen Glauben verloren habe, heißt das nicht, daß ich den anderer Menschen verachte. Jeder, der fühlt, daß er Gott ein paar Augenblicke am Tag schuldig ist …«
»Gottes Aufgabe besteht darin, uns zu beschützen. Er selbst hat das in seinem Bündnis mit unseren Vorfahren versprochen. Trotzdem hat er den Vertrag wieder und wieder gebrochen. Wir schulden Gott nichts!« Die Leidenschaft und der Haß, die in ihrer Stimme mitschwangen, überraschten sie selbst ein wenig, doch er schien das ruhig hinzunehmen. Jedenfalls blickte er sie ohne Befremden an.
»Nun, das ist natürlich Ihre eigene Angelegenheit. Kehren wir zum ursprünglichen Thema zurück. Weshalb haßt der Mashiah Sie?«
»Was tun Sie hier auf Horeb?« konterte sie.
»Sind Sie allein? Oder sind Sie hergekommen, um jemanden zu treffen?«
»Wer sind Sie?«
Er rieb sich irritiert den Nasenrücken. »Dient dieses Spielchen einem besonderen Zweck?«
»Ja.«
»Nun, wie es aussieht, steht es unentschieden.«
»Dann beantworten Sie meine Fragen. Das sollte den Spielstand ändern.«
Er überkreuzte die Beine und streifte geistesabwesend ein wenig roten Schmutz von seinem schwarzen Anzug. »Versuchen wir, über ein neutrales Thema zu sprechen. Erzählen Sie mir, was hier vor sich geht?«
»Das wissen Sie nicht? Warum sind Sie dann hier?«
Er schaute sie für einen Moment an, als wollte er tief in ihre Seele blicken. Dann flüsterte er: »Ich bin hier, um eine Einheit aufzustellen und zu führen, die ihren verdammten Mashiah zum Teufel jagt.«
»Warum? Horeb ist eine karge Welt. Wir verfügen über keinerlei Reichtümer. Was kümmert es Sie, was sich hier auf dieser unbedeutenden Welt abspielt?«
»Passen Sie auf, Rachel.« Er beugte sich ärgerlich vor. »Den größten Teil meiner Zeit verbringe ich damit, die Galaxis zu durchstreifen, um das Leben von Gamanten zu retten. Von daher war ich wenig erfreut zu erfahren, daß die Bewohner von Horeb sich begeistert gegenseitig umbringen. Ich würde es auch vorziehen, gegen die Magistraten zu kämpfen, die die wirkliche Gefahr für unsere Existenz darstellen, aber Sie und Ihre Kameraden haben mir keine Wahl gelassen.«
»Der Mashiah gehört nicht zu meinen Kameraden.«
»Nein? Warum nicht?«
»Sie sind also hier, um Gamanten davon abzuhalten, Gamanten zu töten?«
»So in der Art, ja.« Er stieß den Kopf vor wie ein Falke, der eine Maus erspäht hat. »Weshalb will der Mashiah Sie umbringen?«
Bitterkeit würgte sie, und plötzlich spürte sie jeden müden Knochen in ihrem Körper. Sein Name erinnerte sie an irgend etwas. Jeremiel …? Der die Gamanten beschützt? Sie hielt den Atem an. »Jeremiel Baruch?«
Seine buschigen Augenbrauen hoben sich. »Das letzte Mal, als eine Frau meinen Namen so ausgesprochen hat, mußte ich in Deckung gehen.«
»Jeremiel Baruch, der Führer unserer Untergrund-Streitkräfte?«
»Warum will der Mashiah Sie töten?«
Wie um sich selbst Mut zu machen, tätschelte sie Sybils warmes Bein. »Ich … er hat einen neuen Tempel für Milcom gebaut. Am Tag der Einweihung habe ich diesen Tempel in die Luft gejagt.«
Er lehnte sich wieder an die Wand und betrachtete sie mit neuem Respekt. »Ich wette, er war nicht sehr begeistert darüber.«
»Das stimmt.«
»Da die Samuels noch immer unterwegs sind, nehme ich an, er hat überlebt?«
»Unglücklicherweise.«
»Nun, es kann nicht immer alles klappen. Beim nächsten Mal erwischen wir ihn.«
»Wir?«
»Sie haben doch Ihren Kampfgeist nicht verloren, oder?«
»Das war nie der Fall. Ich habe nur getan, was nötig war, um zu überleben.«
»Dann wollen Sie sich dem Kampf nicht anschließen?«
Angst durchzuckte sie. In ihrer Erinnerung schob sich Adoms heiteres Gesicht wie das Abbild eines geisterhaften Scharfrichters über die grausigen Szenen auf dem Platz. »Ich … ich möchte ihn tot sehen. Aber … eigentlich möchte ich nur einen Platz finden, wo ich mit meiner Tochter leben kann, ohne Angst haben zu müssen, daß wir im Schlaf ermordet werden.«
Jeremiels harter Blick wurde sanfter. Er blinzelte und schaute auf den staubigen Steinboden. »Ich verstehe. Nun, dann werden wir es ohne Sie tun.«
Rachel betrachtete unglücklich sein hübsches Gesicht und bemerkte zum ersten Mal die dunklen Ringe unter seinen Augen und die tiefen Linien, die seine Stirn durchfurchten. Eine sonderbare Wehmut lag in seinem Blick.
»Vielleicht kann ich …«, begann sie und versuchte, sich etwas auszudenken, wie sie helfen konnte, ohne sich direkt an den Kämpfen zu beteiligen. »Nein, dann würde er…« Plötzlich stiegen all ihre Ängste und ihre Erschöpfung in ihr empor, und ein Schluchzen bildete sich in ihrer Kehle. Sie zog ein Bein an und stützte die Stirn darauf.
»Was würde er tun, wenn Sie helfen?«
Tausende umbringen! dachte sie und war nicht in der Lage, die schrecklichen Worte laut auszusprechen. Sie konnte nicht einmal die Vorstellung ertragen, jetzt über Adom oder Ornias zu reden. Der Haß in ihr erstickte ihre Stärke.
»Was ist auf Horeb geschehen?« drängte Jeremiel sanft. »Offensichtlich haben Sie diesen Tempel doch nicht allein in die Luft gejagt. Gibt es hier eine organisierte Widerstandsbewegung?«
Sie schaffte es gerade noch, zu nicken.
»Wie viele Menschen sind daran beteiligt?«
»Verdammt!« platzte sie heraus. »Merken Sie nicht, wie… wie müde und zerschlagen ich bin? Hören Sie auf, Informationen aus mir herauszuquetschen! Ich brauche ein paar Stunden Ruhe und Schlaf.«
»Das geht uns allen so. Doch was glauben Sie, wie lange Ihre Kameraden in der Stadt ohne Sie durchhalten? Haben sie noch andere Anführer, oder waren Sie und Ihr Mann die einzigen …«
»Wir waren die einzigen, aber es wird andere geben. Dessen bin ich mir sicher.« Als sie die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme bemerkte, wuchs ein sonderbares Gefühl, stärker als der Kummer, ja, sogar stärker als der Haß in ihrer Brust. Der Mashiah wollte sie alle töten, alle Anhänger des alten Glaubens auf Horeb vernichten. Wie konnte sie da nur an sich selbst denken? Sie erinnerte sich an die Gesichter von Freunden und Angehörigen, an die Gläubigen, die sich noch immer in den ausgebrannten Gebäuden überall in Seir verbargen, und ihr Herz wurde kalt und schwer.
»Besser?« fragte er.
»Es könnte nicht besser sein.«
»Wie viele?«
Sie hob ärgerlich den Kopf und begegnete seinem Blick. »Vor oder nach dem Holocaust?«
»Was meinen Sie mit Holocaust?«
»Er hat in dieser Woche rund tausend der Alten Gläubigen zusammengetrieben, uns auf den Platz gesperrt und…« Ihre Stimme versagte, als die Erinnerungen sie überfluteten: Das kleine Mädchen, das ihren Bruder hinter sich herzog, der Junge, der die Hand seiner toten Mutter streichelte. »Und dann … dann hat er die Marines rings um den Platz auf den Mauern postiert, und sie fingen an zu schießen und schossen immer weiter, bis sich nichts mehr rührte. Außer … den Nachtvögeln … die nach Futter suchten.«
Durch tränenumflorte Augen sah sie, daß er still dasaß, während Haß und Kummer über sein Gesicht huschten.
Er hob die Flasche und leerte sie. Rachel bemerkte, wie fest sein Griff war, wie sich seine Finger weiß verfärbten. »Ich verspreche Ihnen, Rachel, er wird dafür mit seinem Leben bezahlen.«
»Machen Sie keine Versprechungen, die Sie nicht halten können. Ich habe drei Jahre lang versucht, ihn zu töten, und …«
»Wir werden meine Fähigkeit, Versprechen zu halten, später diskutieren. Da wir schon lange vor Beginn der Dämmerung unterwegs sein müssen, sollten wir versuchen, jetzt etwas zu schlafen.« Er drehte sich um und griff nach der Lampe.
»Ja, in Ordnung.« Ohne ein weiteres Wort schob Rachel ihre Tochter in eine neue Position und streckte sich auf dem Boden zwischen Sybil und Jeremiel aus. Das Licht erlosch, und kurz darauf hörte sie, wie Jeremiel sich ebenfalls hinlegte.
Rachel dachte darüber nach, was er gesagt und was sie preisgegeben hatte. Je mehr sie nachdachte, desto unsicherer und furchtsamer wurde sie. Warum hatte sie ihm all diese Dinge erzählt? Sie wußte ja nicht einmal, ob er tatsächlich Baruch war! Es war schon gefährlich, überhaupt jemandem zu vertrauen, aber einem Fremden? Panik drohte sie zu übermannen. Sie versuchte sich selbst davon zu überzeugen, daß er wirklich gekommen war, um sie zu retten – aber sie schaffte es nicht. Gerüchte erzählten von einer großen Schlacht, die Baruch im Akiba System gegen die Magistraten führte – und das war Monate entfernt. Die Furcht bäumte sich wie ein wilder Hengst in ihrer Seele auf und trampelte all ihre Hoffnungen in den Staub.
Lieber Gott, was habe ich getan?
Sie preßte das Gesicht gegen ihren Ärmel, um das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihrer Kehle lauerte. Tu etwas! schrie sie sich selbst an, doch sie war zu müde, um sich auch nur zu bewegen. Sie wartete, bis sein Atem ruhiger und tiefer geworden war. Dann rutschte sie lautlos wie Flußnebel zu ihm hinüber, so nah, daß sie die Wärme spürte, die von seinem Körper aufstieg, und seinen männlichen Geruch wahrnahm. Sie fand Trost darin, doch ihr erschöpfter Verstand verweigerte ihr dieses Gefühl. Wenn sie jetzt an Shadrach dachte, würden sich die Schleusentore ihres Kummers weit öffnen. Sie streckte die Hand aus und tastete den Boden neben ihm nach seiner Pistole ab, doch sie fühlte nur Sand und Kies. Ob er schlief, während sie an seinem Gürtel befestigt war? Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, rückte noch näher und berührte seine Hüfte.
Ein stählerner Griff umklammerte ihr Handgelenk. »Ich hoffe, das war ein Annäherungsversuch, Rachel«, flüsterte er. »Andernfalls könnte ich mich versucht fühlen, Sie zu erschießen.«
Sie wollte ihren Arm zurückziehen, doch seine Finger bohrten sich unerbittlich in ihr Fleisch.
»Sie tun mir weh!«
»Das hoffe ich. Finden Sie nicht auch, daß es von schlechten Manieren zeugt, jemanden zu bestehlen, der einem das Leben gerettet hat? Mir kommt das ein wenig undankbar vor.«
»Lassen Sie mich los!«
Er setzte sich aufrecht hin. »Rachel, ich habe seit Wochen keinen richtigen Schlaf mehr gefunden. Heute brauche ich wirklich Ruhe, denn ich habe den Verdacht, daß morgen ein sehr langer Tag auf uns wartet. Aber wie es aussieht, bekomme ich nur Ruhe, wenn wir ein wenig näher rücken.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich rede von einem Kompromiß.« Er legte einen muskulösen Arm um sie und zog sie mit sich auf den Boden. Für ein paar Sekunden kämpfte sie vergeblich dagegen an, während Angst und Empörung in ihr tobten. »Lassen Sie mich los, Sie…«
»Hören Sie genau zu«, murmelte er. Sie spürte, wie er sich vorbeugte, und hörte ein leises Klappern, als die Pistole den Boden hinter ihm berührte. »Keiner von uns kann die Waffe jetzt erreichen, ohne den anderen durch seine Bewegung zu wecken.«
»Warum lassen Sie mich nicht einfach mit der Waffe schlafen? Ich würde Ihnen nichts tun«, schlug sie treuherzig vor. »Dann bräuchten wir uns beide keine Sorgen zu machen.«
»Das gilt vielleicht für Sie, aber nicht für mich. Diebe machen mich nervös.«
»Ich stehe zu meinem Wort.«
»Ja, das mag stimmen. Aber ich kann dessen nicht sicher sein, oder? Ich kann es mir nicht erlauben, Ihnen weiter zu trauen als Sie mir. Das hier ist eine viel bessere Lösung, denke ich. Auf diese Weise …«
»Sie können die Pistole immer noch erreichen«, behauptete Rachel. Sie sah zwar die Logik seiner Argumentation ein, fürchtete ihn aber dennoch.
»Also schön«, seufzte er. »Rutschen Sie ein paar Schritt zurück, ich folge Ihnen dann.«
Sie tat wie geheißen und rückte so weit, bis er mehr als eine Armeslänge von der Waffe entfernt war. Ihr Herz klopfte, als er sie grob wieder an sich zog und sich hinlegte. Kälte kroch durch den Boden und ließ sie zittern.
»Wir sollten jetzt wirklich versuchen, ein bißchen Schlaf zu bekommen, meinen Sie nicht auch?«
»Ich kann nicht schlafen, wenn Sie mir die Luft aus den Lungen quetschen.«
Er rückte ein wenig zur Seite, um ihr mehr Platz zu verschaffen, hielt ihre Hände aber immer noch fest. »Wie ist es so?«
»Es geht«, brummelte sie mürrisch. Sie ließ den Kopf auf seinen Arm sinken, kämpfte jedoch gegen den Schlaf an, weil sie fürchtete, der Versuchung zu unterliegen. Sie hatte Angst, ihre Erschöpfung könnte so stark sein, daß sie nicht aufwachte, wenn er nach der Pistole griff. Andererseits war er ein sehr großer Mann, fast doppelt so schwer wie sie. Er würde gar keine Pistole brauchen, um sie zu töten. Ein quer über ihre Kehle gelegter Arm würde schon reichen.
Doch bis jetzt hatte er nichts unternommen, was ihr hätte schaden können, und langsam sank sie in den Schlaf.
Die ganze Nacht über wechselte sie zwischen erschreckenden Träumen und wachen Momenten hin und her, in denen sie seinen schweren Arm neben sich spürte. Einmal befand sie sich wieder auf dem Platz, und die Schwärze des Samael verdunkelte den Himmel, als er über ihr kreiste. Ornias’ freundliche Stimme übertönte die heulende Menge: »Bezeuget die Macht des Mashiah, gegen den ihr euch erhoben habt.« Und ihr Herz schlug wieder schnell und hart, als sie sah, wie die Wachen ihre Gewehre hoben und die Menge von einem Meer aus Blut weggeschwemmt wurde.
Sie schrak hoch und tastete blind in der Dunkelheit umher. Angst und ein Gefühl der Nutzlosigkeit peinigten sie, und sie weinte still vor sich hin. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht und durchtränkten seinen Ärmel.
Sie spürte, wie Baruch sich spannte, dann zögernd eine Hand hob, abermals einen Moment zu überlegen schien, sie dann senkte, um ihr sanft über das Haar zu streichen.
Sybil starrte zur schwarzen Höhlendecke empor und tat so, als würde sie schlafen. In der vergangenen Woche war sie oft durch das Weinen ihrer Mutter aufgeweckt worden. Doch in dieser Nacht rief ihr leises Schluchzen sonderbare Gefühle in Sybil hervor. Als sie aufwachte, hatte sie sich mitten in einem Traum befunden, und das letzte Bild geisterte noch immer durch ihr Bewußtsein. Sie war ein Gutteil älter gewesen als jetzt, hatte oben auf einem grasbewachsenen Hügel gestanden und auf eine blutige Schlacht hinabgeblickt. Männer und Frauen hatten vor Schmerz geschrien und sich sterbend zusammengekrümmt. Neben ihr stand ein junger Mann, der ihre Hand so fest hielt, daß es schmerzte. Sein schwarzes lockiges Haar flatterte im frostigen Wind. In seinen Augen konnte sie Liebe und Verzweiflung erkennen.
»Sybil«, hatte er über den Donner der Kanonen hinweg gesagt, »ich kann Jeremiel nicht finden, und ich … ich weiß nicht, wie ich das hier allein beenden soll. Du kennst die Magistraten besser als ich. Wo sind sie verwundbar?«
»Indras Netz«, hatte sie geflüstert. »Wir müssen es zurück in den Himmel schaffen.«
Er hatte sich ihr mit leuchtenden Augen zugewandt, und dann hatte das Weinen ihrer Mutter die Szene unterbrochen und sie nach Horeb zurückgeholt. Sie wußte nicht, was Indras Netz war, aber mitunter hatte sie solche sonderbaren Träume. Ihr Vater hatte ihr zwar erklärt, daß die Gehirne der Menschen nachts Bilder produzierten, die nicht viel Sinn ergaben, doch sie glaubte, daß mehr daran war. Die Träume waren so wirklich. Und dieser hatte ihr mehr Schrecken eingejagt als alle, die sie je zuvor gehabt hatte. Der scharfe Geruch des Blutes hing noch immer in ihrer Nase.
Sie rieb über ihren verkrampften Bauch und blickte besorgt zu dem großen Mann hinüber, der ihre Mutter im Arm hielt.