KAPITEL
21

 

 

Sybil schlenderte mürrisch durch die Kaverne, hob hin und wieder Steine auf, nur um sie sogleich wieder auf die Erde zu schmettern, und beobachtete ihre Mutter und Jeremiel aus den Augenwinkeln. Sie beugten sich über einen von Karten bedeckten Tisch und sprachen leise miteinander. Jeremiel, der graue Kleidung trug, war gut einen Fuß größer als ihre Mutter, die sich mit dem Ellbogen auf den Tisch stützte und nachdenklich zu ihm aufblickte. Ihr jadefarbenes Gewand schimmerte im schwachen Kerzenschein stumpfgrün. Sybil knallte einen weiteren Stein auf den Fußboden und schaute hoffnungsvoll hoch. Doch keiner von beiden drehte sich zu ihr um. Niemand scherte sich um ihre Sorgen, die sie fast krank vor Angst machten. Ihre Mutter würde fortgehen!

Sybil schlich langsam zur gegenüberliegenden Wand, wo die Schatten wie kühle Schutzschilde auf den Steinen hafteten. Die Höhlen verbreiteten Kälte und Staub, obwohl es praktisch in jedem Raum eine Feuerstelle gab. Sie blickte zur hohen Decke empor, wo die Flammen geheimnisvoll flackernde Schatten auf den Stein warfen, und biß sich auf die Lippe. Warum durfte sie nicht mit ihrer Mutter gehen? Sie war noch nie ohne ihre Mutter gewesen, weder an jenem schrecklichen Tag in dem zerstörten Tempel, als ihr Vater getötet wurde, noch während der furchtbaren Zeit auf dem Platz. Warum mußte es gerade jetzt sein?

Sybil malte eine Reihe von Wellenlinien in den Sand neben ihrem Oberschenkel. Oh, sie hatten darüber gesprochen, daß ihre Mutter Jeremiel und den Wüstenvätern helfen mußte, den Krieg gegen den Mashiah zu gewinnen, doch Sybil verstand nicht, weshalb sie nicht ebenfalls helfen durfte. Sie konnte eine Menge tun, und … und außerdem brauchte ihre Mommy sie. Manchmal, wenn ihre Mutter des Nachts weinte, mußte Sybil sie in den Arm nehmen und ihr erklären, daß sie sich nicht fürchten durfte, weil sie sonst nicht schlafen könnte. Aber was sollte sie denn anfangen, wenn sie zwei Monate allein war? Würde sie überhaupt jemals schlafen? Zwei Monate … das war eine Ewigkeit.

»Verdammt, Rachel!« fluchte Jeremiel, und Sybils Kopf fuhr hoch. Er stand zornig da und hatte eine Hand in die Hüfte gestützt. »Wir können das nicht tun und gleichzeitig überleben, um hinterher allen davon zu erzählen. Und ich für meinen Teil habe durchaus vor, zu überleben. Glauben Sie nicht …«

»Schrei meine Mommy nicht an!«

Jeremiel und ihre Mutter drehten sich um und schauten sie an. Sybil wäre am liebsten mit den Felsen verschmolzen, um sich zu verbergen. Ihre Mutter verzog unwillig den Mund.

»Liebes? Warum gehst du nicht nach unten in den botanischen Garten, um dort zu spielen?«

»Ich kann nicht. Avel kommt heute her, um mich zu unterrichten.«

Ihre Mutter fuhr sich mit der Hand durch das lange schwarze Haar und seufzte. »Stimmt. Das hatte ich vergessen. Na ja, vielleicht könntest du …«

»Sie könnte herkommen und uns helfen«, schlug Jeremiel sanft vor. »Sybil, möchtest du vielleicht die Nadeln für uns stecken?«

Hoffnung flackerte in ihr auf. Sie sprang auf die Füße, rannte quer durch den Raum und kletterte auf einen Stuhl, um sich über die Karten beugen zu können.

Jeremiel lehnte sich vor und deutete auf eine Reihe dicht nebeneinander liegender Striche. »Genau hier. Das sind die Höhenlinien einer Klippe.«

Sybils Augen wanderten zu dem Häufchen verschiedenfarbiger Nadeln. »Welche Farbe?«

»Dort sollte eine rote Nadel hin.«

»Was bedeutet das? Rot?«

Jeremiel runzelte die Stirn und zögerte. »Es bedeutet … nun ja …«

Sybil legte die Nadel auf den Haufen zurück. »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten, Mr. Baruch.«

»So, kannst du das?«

»Ja, meine Mommy hat mir das beigebracht. Nicht wahr, Mommy?«

»Ja, das stimmt.«

Er warf Rachel einen sanften Blick zu. »Das bezweifle ich nicht«, meinte er und beugte sich vor, um die Nadeln zu sortieren. »In Ordnung, du hörst genau zu?«

»Ja.« Sybil betrachtete ihn eingehend und stellte fest, daß er müde aussah. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und auf seiner Stirn waren tiefe Linien eingegraben.

Er hob eine der Nadeln auf. »Das ist eine blaue Nadel, und die …«

»Mr. Baruch, ich bin vielleicht noch ein Kind, aber ich bin kein dummes Kind. Ich kenne die Farben.«

Seine Mundwinkel zuckten, als er ein Lächeln unterdrückte. »Oh, Verzeihung. Versuchen wir es noch einmal. Rot sind Geschützstellungen. Blau sind Truppenkontingente. Die Grünen stehen für Nachrichteneinheiten, und die Weißen markieren medizinische Einrichtungen.«

Sybil nickte hastig. Sie war begeistert, an der Arbeit der Erwachsenen Anteil zu haben. Mit dem Finger berührte sie mehrere der blauen Markierungen auf der Karte. »Dann werden die Leute also hier kämpfen, wenn Sie den Mashiah angreifen?«

»Genau.«

Sybil bemühte sich, heimlich sämtliche Markierungen auswendig zu lernen, damit sie später mit ihrer Mutter darüber reden konnte. »Und wo wird meine Mommy sein?«

Jeremiel deutete mit einer Handbewegung an, daß ihre Mutter ihr diese Frage selbst beantworten würde. Sybil drehte sich zu ihr um. »Wo, Mommy?«

»Ich werde im Palast sein, Sybil. Siehst du den purpurnen Fleck dort auf der Karte?«

Furcht raste wie Säure durch Sybils Adern. Warum hatte ihre Mutter das nicht schon früher erzählt? Ihr Herz klopfte so heftig, daß sie kaum denken konnte. »Beim Mashiah?«

»Ja, aber mach dir keine Sorgen, Kleines. Jeremiel wird auch dort sein, und wir …«

»Ich will nicht, daß du gehst!« Sie schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und hielt Rachel so fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »Mommy, er haßt dich doch! Er wird dich umbringen, genau wie Daddy!«

Ihre Mutter nahm sie auf und trug sie ein Stück vom Tisch fort, wobei sie ihr beruhigend den Rücken streichelte. Doch es half nichts. Das schreckliche Gefühl des drohenden Verhängnisses blieb. Durch den Schleier der Haare ihrer Mutter sah Sybil, daß Jeremiel die Arme verschränkt hatte und sich müde gegen den Tisch lehnte.

»Mommy, ich will nicht, daß du das tust!«

»Ich weiß, Liebes, aber ich muß. Es gibt niemand anderen, der tun könnte, was getan werden muß.«

»Was mußt du denn tun? Den Palast in die Luft jagen, so wie damals den Tempel?«

»Ja … ja, etwas in dieser Art. Aber mach dir keine Sorgen. Jeremiel und ich werden alles so schnell wie möglich erledigen, und dann komme ich zu dir zurück.«

Sybils Herzschlag verlangsamte sich ein wenig, als sie ihre Wange gegen die der Mutter drückte. »Und wohin gehen wir dann?« Sie hatte in den letzten Tagen öfters davon geträumt, sie würden in ihr altes Haus zurückkehren und dort zusammen in den warmen kleinen Zimmern leben, die sie so sehr liebte.

»Dann wird es sicher sein, nach Seir zurückzugehen.«

»Zurück in unser altes Haus?« fragte Sybil.

»Wenn es nicht zerstört worden ist, ja.«

Süße Erinnerungen überfluteten Sybil. Sie legte das Kinn auf die Schulter der Mutter und sah sich selbst, wie sie mit der roten Erde des Gartens spielte, Gehege für ihre Spielzeugmaultiere und -pferde errichtete und Straßen von der einen Seite des Zauns bis zur anderen anlegte. Der warme Wind trug den Duft von Plätzchen heran, die ihre Mutter buk.

»Wird meine Puppe auch noch dort sein?« fragte sie in plötzlicher Vorahnung. Ihr Großvater hatte ihr diese Puppe geschenkt. Überall in der Stadt wimmelte es von Soldaten. Vielleicht hatten die ja alle ihre Spielsachen gestohlen, vielleicht waren sie aber auch im Feuer der Kanonen zerstört worden. Allein der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. »Wird Jennie noch dort sein, Mom?«

»Ich glaube schon. Aber wenn nicht?« Ihre Mutter zog sie etwas zurück und hob Sybils Kinn, um ihr in die Augen sehen zu können. Sie lächelte. »Dann besorgen wir dir eine andere Puppe, in Ordnung?«

»Eine neue wäre aber nicht mehr Jennie.«

»Ich weiß. Es ist schwer, so gute Freunde zu verlieren, nicht wahr? Als ich vier war, hatte ich auch eine Puppe, die ich sehr geliebt habe.«

»Hast du sie auch von Großvater bekommen?«

»Ja. Sie hieß Randa. Sie hatte blonde Locken und …«

»Blond? So wie das Haar von Mr. Baruch?«

Ihre Mutter drehte sich zu Jeremiel um und lächelte schwach. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt und schaute ihnen geduldig zu. »Nein. Randas Haar war anders. Sie war fast weißblond.«

»So wie das Haar des Mashiah.«

»Ja«, flüsterte ihre Mutter und schluckte schwer. »Genau wie seins.«

»Was ist mit ihr passiert?«

»Oh, sie ist gestorben.«

»Puppen sterben nicht, Mommy«, meinte Sybil tadelnd. »Sie zerbrechen nur.«

»Ja, du hast recht. Ihr ist der Kopf abgefallen, und ich habe sie beerdigt, als wäre sie wirklich gestorben. Nein, mach dir keine Sorgen um Jennie. Ich wette, es geht ihr gut.«

»Ich hab’ dich lieb, Mom.«

»Ich hab’ dich auch lieb, Kleines.«

Ein Luftzug ließ das Feuer wild aufflammen, als Avel Harper den Vorhang zurückschlug und den Raum betrat. Auf seiner mahagonifarbenen Haut schimmerte ein leichter Schweißfilm, als wäre er gelaufen, um rechtzeitig einzutreffen. Das Licht sickerte durch sein krauses Haar; es sah aus, als würde er einen brillantenbesetzten schwarzen Heiligenschein tragen. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich zu spät komme.«

»Sie kommen genau zur rechten Zeit«, verbesserte ihn Jeremiel.

»Tatsächlich? Gut. Der Ehrenwerte Vater hat mich so auf Trab gehalten, daß die Zeit wie im Flug verging.« Er drehte sich um und rief mit seiner tiefen, sanften Stimme: »Sybil? Bist du bereit für deinen Unterricht?«

Sie nickte und glitt zögernd von der Hüfte ihrer Mutter hinab zu Boden. Rachel kniete sich hin, küßte Sybil auf die Stirn und strich ihr die braunen Locken aus dem Gesicht.

»Du lernst so viel du kannst, in Ordnung?«

»Mach ich.« Sybil blickte nachdenklich drein, als ihre Mutter zu Jeremiel zurückging und Avel zu ihr kam, sie bei der Hand nahm und sie zu dem Tisch neben dem Feuer führte.

Vater Harper legte zwei Bücher auf den Tisch und gab Sybil Papier und einen Stift. Sie nahm die Sachen und hielt sie feierlich in die Höhe. Avel schaute über die Schulter zu Jeremiel und Rachel hinüber, beugte sich dann vor und fragte: »Was stimmt denn nicht? Du siehst traurig aus.«

Sybils Mund verzog sich zu einem Schmollen. »Es geht mir gut.«

Er kratzte sich hinterm Ohr, stemmte einen Ellbogen auf den Tisch, stützte die Schläfe gegen die Faust und betrachtete sie forschend. Sybil schaute ihn nicht an, atmete aber seinen Duft ein. Er roch immer nach süßen Gewürzen und dem Rauch der Feuerstellen.

»Möchtest du darüber reden?«

»Nein.«

»Machst du dir Sorgen wegen deiner Mutter?«

Sie nickte.

»Das kann man dir nicht verdenken. Ich mache mir auch Sorgen um sie.«

Sybil betrachtete prüfend sein Gesicht und entdeckte herzliche Anteilnahme darin. Doch manchmal konnten Menschen auch so aussehen, nur weil sie es so wollten, und ohne es ernst zu meinen. »Warum machst du dir auch Sorgen?« fragte Sybil argwöhnisch.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und überlegte, bevor er leise antwortete: »Weil sie in diesem Krieg die schwerste Aufgabe von allen hat. Sie muß dem Mashiah jeden Tag gegenübertreten. Und ich bin nicht sicher, ob sie das kann.«

»Meine Mommy kann alles«, verteidigte Sybil ihre Mutter, schlug dabei jedoch die Augen nieder. Konnte ihre Mom das ertragen? Es würde sehr schwer werden.

»Komm her«, sagte Avel sanft und breitete die Arme aus. Sybil kletterte zögernd von ihrem Stuhl und auf seinen Schoß. Er barg sie in den Armen und küßte ihre braunen Locken.

»Nun, es ist so«, flüsterte er, »wenn deine Mutter den Mashiah für ein paar Wochen ertragen kann, dann wird bald niemand mehr unter ihm leiden müssen.«

»Ich weiß.«

»Das weißt du?«

»Ja. Denn wenn Mommy ihn tötet, werden die Menschen wieder frei sein, so wie damals, als ich klein war und er in Lumpen durch die Stadt lief und verrückte Reden hielt.«

»Du kannst dich noch daran erinnern?«

»Nicht besonders gut. Ich war damals erst fünf, aber meine Mommy hat mir eine Menge darüber erzählt.«

Er zog sie eng an seine Brust. »Damals war das Leben noch schön, nicht wahr?«

Sie rieb sich mit der Hand über die Nase. »Es war sogar vor einem Jahr noch schön. Mein Daddy … mein Daddy spielte damals oft mit mir. Er hat mir geholfen, Burgen aus nassem Sand zu bauen. Für die Dächer und die Stützpfeiler haben wir Unkraut genommen. Und meine Mommy hat uns dann immer hereingerufen und gesagt, wir müßten zuerst baden, bevor wir uns zum Essen an den Tisch setzen dürften.«

»Alles wird bald wieder wie damals sein. Nur …«

»Nur daß mein Daddy tot ist.« Sie blickte streng zu ihm auf. Noch immer glitzerte Schweiß auf seiner flachen Nase, doch seine Augen strahlten Ruhe aus. »Der Mashiah hat ihn getötet.«

»Deine Mutter hat es mir erzählt. Das ist einer der Gründe, warum sie in den Palast geht«, flüsterte er. »Wußtest du das?«

Sybil schaute um seinen Arm herum zu ihrer Mutter hinüber. Sie deutete gerade auf eine Gruppe blauer Nadeln, die in der Karte steckten. Sybil konzentrierte sich auf ihre Worte und hörte, wie sie sagte: »Dieser Abhang ist zu steil für Truppen. Sie werden es niemals schaffen, schnell genug dort hinaufzuklettern.«

Jeremiel runzelte nachdenklich die Stirn und zeigte auf eine andere Stelle. »Hm. Und wie wäre es hier drüben?«

»Das geht genausowenig. Dort gibt es ein ganzes Feld kleinerer Felsen, die auf der Karte nicht eingezeichnet sind. Die Männer würden doppelt solange brauchen, um …«

Sybil verkroch sich wieder in Harpers kräftigen Armen. Was wäre, wenn ihre Mutter auch noch sterben würde? An jenem Tag auf dem Platz, als die Sonne ihr Gesicht verbrannte und ihre Kehle nach Wasser lechzte, hatte sie die Mütter von einem Dutzend kleiner Mädchen sterben sehen. Und sie war auch schon auf Beerdigungen gewesen. Sie hatte sich an das Bein ihres Vaters geklammert, während sie zuschauten, wie Männer mit Gebetsschals schwarze Särge durch die Straßen trugen, und sie hatte gehört, wie ihre kleinen Freunde voller Schmerz schluchzten. Sie liebte ihre Mutter so sehr, daß der Gedanke an ihren Tod ihr wie ein großes schwarzes Tuch erschien, das sie einzuhüllen drohte.

»Avel«, keuchte sie angsterfüllt und umklammerte den Stoff seiner Robe mit ihren kleinen Fäusten. »Meine Mommy wird doch nicht sterben, nicht wahr?«

Stille senkte sich über den Raum. Auch an dem langen Tisch, wo Jeremiel und ihre Mutter arbeiteten, war es plötzlich ruhig. Hatte sie so laut gesprochen? Sie wollte hinüberschauen, fürchtete sich aber zugleich davor. Statt dessen hielt sie ihren Blick fest auf Avels weiches, mahagonifarbenes Gesicht gerichtet.

Er schaukelte sie sanft vor und zurück und runzelte die Stirn, bis er schließlich in überzeugendem Tonfall sagte: »Nein, Sybil, das glaube ich nicht. Deine Mutter …«

»Deine Mutter«, rief Jeremiel, »ist viel zu boshaft, um zu sterben.«

Sybil richtete sich auf, um zu ihm hinüberzuschauen, doch ihr Zorn schwand, als sie sah, wie ihre Mutter lachte und ihn mit einem Stück Papier bewarf. Wärme erfüllte ihre Brust. Es war lange her, seit sie ihre Mutter hatte lachen hören. Ein Schauer der Erleichterung überlief sie. Vielleicht würde endlich wieder alles gut werden.

»Meine Mommy wird am Leben bleiben«, murmelte sie, »damit sie dem Mashiah heimzahlen kann, was er meinem Daddy angetan hat.«

»Ja«, antwortete Avel, »und um dafür zu sorgen, daß nicht noch andere kleine Mädchen ihre Väter verlieren müssen, so wie du. Sie liebt dich mehr als alles andere auf der Welt.«

Sie lehnte ihre Wange gegen die warme Wolle über Avels Brust und strich nachdenklich die Falten im Stoff glatt. »Sie ist meine beste Freundin.«

»Ja, ich weiß.«

Als Sybil daran dachte, wie traurig der Mashiah sie, ihre Mutter und alle ihre Freunde gemacht hatte, stieg plötzlich heiße Wut in ihr auf. Sie knirschte mit den Zähnen. »Meine Mommy kann alles. Warten Sie nur ab, sie sprengt auch den Palast des Mashiah in die Luft.«

»Jetzt, nachdem ich mit dir gesprochen habe, glaube ich, daß du recht hast. Vielleicht kann sie das ja wirklich tun.«

Sybil fühlte sich besser. Sie lächelte Avel an und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Wenn Avel daran glaubte, war es auch für sie leichter. Vielleicht könnte sie jetzt, wo sie alles besser verstand, auch leichter ertragen, für zwei Monate von ihrer Mutter getrennt zu sein. Sie schaute zu Harper hoch. »Avel? Wirst du für mich sorgen, wenn meine Mommy fort ist?«

»Natürlich! Und vielleicht müssen wir auch nicht so hart arbeiten, wie ich zuerst dachte.«

»Müssen wir nicht?«

»Nein, das glaube ich nicht. Vielleicht besuchen wir das Aviarium und schauen den Vögeln zu, statt Mathematik zu lernen. Oder vielleicht bringst du mir bei, wie man Sandburgen baut? Würde dir das gefallen?«

Erleichterung machte sich in ihr breit. »Wir brauchen eine Menge Wasser, und auch etwas Unkraut.«

»Schön, dann wollen wir mal sehen, ob wir etwas finden.«

Als er Anstalten machte, sie auf den Boden zu setzen, klopfte sie ihm begeistert auf die Brust. »Avel, du verstehst kleine Mädchen, nicht wahr?«

Seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Ja, ich glaube schon. Ich hatte selbst mal eins – vor langer Zeit.«

»Wirklich? Wo ist sie?«

Sein Gesicht verdüsterte sich, und er preßte die Lippen zusammen. »Sie ist gestorben.«

Sybils Herz hatte Mitleid für ihn, denn tief in ihrem Innern wußte sie, wie er empfinden mußte – so wie sie wegen ihrem Daddy. »Hat der Mashiah sie auch getötet?«

»Nein, aber es ist in Seir geschehen.«

»Das tut mir leid.« Für einen Moment kehrte die Angst zu ihr zurück, doch als sie in sein trauriges Gesicht blickte, kam ihr eine Idee. Sie setzte sich aufrecht hin und strich sich die Strähnen aus der Stirn. »Avel? Ich weiß, es wäre nicht ganz dasselbe, aber vielleicht könnte ich in der Zeit, wenn meine Mommy fort ist, dein kleines Mädchen sein und du mein Daddy?«

Er schaute sie lange an, zog sie dann fest an sich und küßte sie auf die Stirn. »Das würde mir gefallen, Sybil. Das würde mir sehr gefallen.«

 

Rachel schaute ihnen nach, als sie Hand in Hand hinausgingen, und blickte dann zu Jeremiel hinüber. Er lehnte wie ein träger Tiger entspannt am Tisch, doch seine Augen waren wachsam.

»Ich bin froh, daß Vater Harper sich mit ihr angefreundet hat. Das macht alles einfacher.«

»Hm«, knurrte Jeremiel.

»Was soll das heißen?«

»Hm? Ach, nichts.« Er wandte sich rasch wieder der Karte zu. »Kümmern wir uns wieder ums Geschäft. Erzählen Sie mir, wie das Gelände hier drüben aussieht. Wenn wir …«

»Sie können Harper nicht leiden, stimmt’s?«

Er schaute sie ernst an. Das Kerzenlicht schimmerte golden auf seinen behaarten Armen, als er sie verschränkte. »Mit ›leiden können‹ hat das nichts zu tun. Ich fühle mich einfach … unwohl, wenn jemand in der Nähe ist, in dem ich nicht lesen kann.«

»Sie können ihn nicht durchschauen?«

»Nein. Können Sie’s?«

Sie zuckte die Achseln und strich sich die jadegrünen Ärmel glatt. »Nein, aber er scheint nett zu sein und behandelt Sybil gut. Taten sagen mehr als Worte.«

»Nicht immer.«

»Wieso nicht?«

»Nun, es ist schon etwas Wahres daran, doch oftmals sind andere Dinge weitaus wichtiger als die Taten. Zum Beispiel die Augen eines Menschen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Sie glauben, daß die Augen die wahren Gedanken enthüllen.«

»Genau. Alles, was ein Mensch glaubt und fühlt, spiegelt sich dort wieder. Es sei denn, jemand gibt sich sehr große Mühe, sein Inneres zu verbergen.«

»Und Harpers Augen?«

Jeremiel strich sich nachdenklich über den Bart. Seine blauen Augen hefteten sich auf die Tür, durch die Harper und Sybil verschwunden waren. »Wie eine Ziegelsteinmauer.«

»Na gut«, seufzte Rachel, wandte sich wieder der Karte zu und spielte mit einer Handvoll Nadeln. »Machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Vielleicht ist Ihre Gabe, in anderen Menschen zu lesen, gar nicht so perfekt, wie Sie glauben.«

»Ich habe nie behauptet, es wäre perfekt.«

»Wenn Sie wissen, daß es nicht perfekt ist, weshalb sind Sie dann wegen Harper so besorgt?«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich besorgt bin«, protestierte er. »Ich habe lediglich gesagt, daß ich mich bei ihm unwohl fühle.«

»Ich dachte, es gehört zu Ihrem Beruf, sich bei jedem Menschen unwohl zu fühlen.«

»In letzter Zeit«, seufzte er und lächelte halbherzig, »ist das allerdings sehr wahr.«

»In letzter Zeit?«

Er fuhr sich durch das blonde Haar und schwieg für geraume Zeit, als kämpfe er innerlich, was er zugeben durfte und was nicht. »Das letzte Mal, als meine ›Instinkte‹ so laut aufgeschrien haben, hat mich jemand betrogen, dem ich zutiefst vertraut habe.«

Die tiefe Traurigkeit in seiner Stimme ließ sie erahnen, wovon er sprach. »Wer? Wann?«

Seine Augen verengten sich vor Schmerz, und seine Nasenflügel blähten sich. »Vor zwei Monaten.«

»Zur gleichen Zeit, als die Frau, die Sie …«

»Ja«, flüsterte er und wandte sich abrupt vom Tisch ab.

»Warten Sie.« Sie packte seine Hand, um ihn aufzuhalten. Die Knochen seiner Finger fühlten sich groß und hart an, doch seine Augen wirkten sehr verletzlich. »Jeremiel, erzählen Sie mir mehr. Harper wird der einzige Freund meiner Tochter sein, wenn ich fort bin. Falls ich Zweifel an seiner …«

»Nein.« Er stieß die Luft aus und schaute auf ihre Finger, die die seinen umklammerten. Seine Augen glitten forschend über ihr Gesicht. »Ich bin nicht sicher, ob meine ›Instinkte‹ zuverlässig sind. Die Schlacht im Akiba System ist noch zu nah. Also machen Sie sich keine Sorgen.«

»Ich mache mir aber Sorgen«, erwiderte sie und gab seine Hand frei. »Es mag richtig sein oder auch nicht, doch irgend etwas in meinem Innern rät mir, Ihren verdammten Instinkten zu vertrauen.«

»Tatsächlich? Und was ist mit den Bedenken, die ich wegen Ihrer Teilnahme an dieser Mission hatte?«

»Ich dachte, wir hätten bereits klargestellt, daß Sie nicht perfekt sind.«

»Ach ja, das hatte ich vergessen.«

Er schenkte ihr ein nervöses Lächeln, und sie merkte, daß sie sich plötzlich und ohne offensichtlichen Grund aufrichtete und die Muskeln spannte, während ihr Herz heftig zu klopfen begann.

Er bemerkte ihre plötzlich steife Haltung. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich … ich möchte Ihnen nicht vertrauen.«

»Das kann ich gut verstehen. Sie können meine Schwächen nur vermuten. Ich aber kenne sie.«

Zögernd berührte er ihre Schulter und zog dann die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Stirnrunzelnd beugte er sich über die Karten. »Gehen wir wieder an die Arbeit. Uns bleiben nur noch ein paar Tage. Was halten Sie von …«

Er sprach weiter, doch Rachel hörte ihn kaum. Seine Stimme klang plötzlich sanft, zärtlich und ein wenig ängstlich. Sie schreckte vor den Gefühlen zurück, die diese Stimme ausdrückte. Doch während die Zeit verstrich, sah sie sich plötzlich in Gedanken zusammen mit Shadrach im Schlafzimmer, wo Liebe und Vertrauen herrschten. Und jetzt faßte sie ungeachtet ihrer Instinkte auch Vertrauen zu Jeremiel.

»Ich glaube, es wäre besser«, antwortete sie halb unbewußt auf seine Frage, »wenn wir die Geschützstellungen hier einrichten.« Sie lehnte sich neben ihm über den Tisch und war sich seiner Nähe intensiv bewußt, als sie auf einen hochgelegenen Punkt in den Felsen zeigte. »Nur weiß ich nicht, wie wir die Kanone dort hinschaffen sollen. Man kann das Gelände meilenweit einsehen.«

Sein Blick suchte den ihren. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich habe eine Karte der Höhlen, die sich unter und rings um Seir erstrecken. Wir werden die Waffe schon dort hinbekommen.«

»Es gibt Höhlen unterhalb von Seir?«

»Tausende.«

»Gelangen wir auf diesem Weg in die Stadt?«

»Ja. Warum kommen Sie nicht später in mein Zimmer, dann zeige ich Ihnen …« Als hätte er die intime Doppelsinnigkeit seine Worte bemerkt, unterbrach er sich. »Ich meine, wir sollten die beste Route mit Rathanial besprechen. Warum treffen wir uns nicht alle drei nach dem Abendessen in meinem Zimmer?«

»In Ordnung.«

Ihr Blick wanderte über die Linien, die sich um seine Augen vertieften.

 

Avel Harper führte Sybil schnell zu einer benachbarten Kammer. »Kannst du deine Bücher und die anderen Dinge in den Schrank legen, während ich meinen Rucksack hole? Auf die Art haben wir eine Möglichkeit, den Sand und die Stöcke unterzubringen.«

Sybil wischte sich die Nase. »In Ordnung.«

»Warte hier auf mich. Ich bin gleich zurück.«

Sie nickte und brachte die Bücher zu dem Wandschrank, der aus dem Gestein herausgehauen worden war.

Harper huschte aus der Höhle, überprüfte den Korridor auf etwaige Beobachter und schlich dann lautlos an der Wand entlang bis zu dem Raum, in dem sich Jeremiel und Rachel unterhielten. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er ihrem Gespräch lauschte, das sich um ihn drehte – und um die Höhlen unter dem Palast.