KAPITEL
1
Die Apartmenthäuser standen leer. Ihre Türen schwangen im heißen Wind, der durch die schmutzigen Straßen fegte. Verlassene Besitztümer wachten halb verborgen hinter den leeren Fensterrahmen. Wer wollte, konnte sie an sich nehmen, denn die Besitzer waren schon lange verschwunden. Dieser abgelegene Teil der Hauptstadt von Seir lag in Trümmern. Schwarze Rauchwolken stiegen zum stillen blauen Himmel empor.
Rachel Eloel lief die Izhar Street entlang und umklammerte dabei fest die Hand ihrer achtjährigen Tochter. Das lange schwarze Haar wehte hinter ihr her.
»Mommy, ich habe Angst.«
»Weine nicht, Sybil«, flüsterte Rachel mit zitternder Stimme. »Um Gottes willen, bitte, weine nicht.«
»Sind sie hinter uns her? Diese bösen Männer?«
»Ja, Liebes. Du mußt ganz still sein.«
Hin und wieder tauchte die Sonne zwischen den Dächern ausgebrannter Häuser auf und erhellte ihren Weg mit einer falschen Pracht, die keine Hoffnung versprach. Alte, von verdorrtem Gras bedeckte Vorgärten führten zu Häusern, in denen einst Freunde gelebt hatten. Rachel kannte die Namen so gut, daß sie sie unbewußt flüsterte, als sie an den Häusern vorbeikam: Leashno, Tarin, Wexler. Tote Bäume, Stille und Verwüstung. War die ganze Welt verrückt geworden? Gott? Wo bist du?
Der Gesang rauher Stimmen wurde vom Wind herangetragen und Rachel erschauderte. Planetare Marines. Als sie um eine Ecke bog, erspähte sie einen Schutthaufen. Sie zog Sybil mit sich, schob sich durch den kopfhoch aufgetürmten Müll bis zur anderen Seite und kroch dort in die dichten Schatten des überhängenden Gebäudes. Benzinkanister und stinkende Konservendosen umgaben sie; es roch streng nach verfaultem Fisch und saurer Milch. Sybil strich sich die braunen Locken aus der Stirn und schaute mit großen, gequälten Augen auf. »Wo ist Daddy?«
»Ich hab’ keine … Er ist zu Hause, Kind. Es ist alles in Ordnung. Wir sehen ihn bald.«
»Warum ist er nicht gekommen, um uns zu holen, als die bösen Männer den Tempel niedergebrannt haben?«
Rachels Herz schlug bis zum Hals. Sie wischte sich die verschwitzten Handflächen an ihrer langen blauen Robe ab. Es war die Woche des Sighet, die heilige Woche, in der die Befreiung des Volkes der Gamanten aus den schrecklichen Arbeitslagern der bösen Edom Middoth gefeiert wurde. Doch alle Tempel auf Horeb waren geschlossen … alle außer einem. Adom Kemar Tartarus hielt seine blasphemischen Zeremonien in seinem prachtvollen Palast ab, während Hunderte von Arbeitern den neuen Tempel für Milcom fertigstellten. Jeden Tag warfen die Menschen sich vor dem wachsenden Bauwerk in den Staub. Lieber Gott, wie konnten sie nur? Verräter! Sie und Shadrach hatten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um eine illegale. Sighet-Feier im Keller eines zerstörten und verlassenen Tempels in den Außenbezirken der Stadt abzuhalten. Ein häßliches Ding, dessen zusammengebrochene Mauern wie das zahnbewehrte Maul eines Tieres aussahen. An diesem Morgen, dem vierten Tag des Sighet, hielten sie gerade ihren Festschmaus, als die Truppen des Mashiah ihr Heiligtum stürmten und wahllos in die Menge schossen.
»Mommy? Warum ist Daddy nicht gekommen, als die bösen Männer …?«
»Er … er mußte nach Hause. Wir fragen ihn, wenn wir dort sind, in Ordnung?«
»Du belügst mich, nicht wahr?« flüsterte Sybil angstvoll. »Bitte belüg mich nicht. Ich muß wissen, ob …«
»Psst. Ich belüge dich nicht. Ich … ich …«
»Können wir zu ihm gehen? Ich will zu meinem Daddy.«
Rachel glättete das zerzauste Haar ihrer Tochter und küßte sie auf die Stirn. »Bald, Kleines. Wir müssen hier nur noch ein Weilchen still sitzenbleiben …« Ihre Stimme brach ab, und Angst packte sie, als Geräusche von der Straße an ihr Ohr drangen. Stiefel auf Stein. Das Summen eines Gewehrs.
»Hier drüben!« rief jemand.
Rachel erstarrte, als das Dröhnen der Schritte näher kam. Sybils Augen weiteten sich, und sie krallte ihre Finger in Rachels blauen Ärmel.
»Mommy, was …«
Rachel preßte eine Hand auf Sybils Mund, ohne zu bemerken, mit welcher Kraft sie zudrückte. Als das Kind wild über ihre Finger kratzte, schüttelte Rachel sie böse und flüsterte: »Laß das! Psst!« Sybils kleiner Kopf zuckte, ihr Gesicht verzog sich. Dann sank sie in den Schoß ihrer Mutter. Sie weigerte sich, zu ihr aufzusehen, doch Rachel konnte die Tränen spüren, die ihre Robe näßten.
»Es tut mir leid, Sybil. Bitte, ich wollte nicht …«
»Komm da raus!« befahl eine rauhe männliche Stimme. »Ich weiß, daß du dort bist. Ich kann euch dreckige Dämonenanbeter riechen. Komm raus, oder ich schieße.«
Zitternd schob Rachel Sybil hinter sich, verbarg sie so gut es ging unter einem schmutzigen, schimmelbedeckten Karton und legte einen Finger auf ihre Lippen. Die Augen des kleinen Mädchens füllten sich mit Tränen. In stummem Flehen streckte sie die Arme aus. Kleine Finger bewegten sich auf eine Weise, die »halte mich, halte mich« ausdrückte. Rachels Lippen formten die Worte »nein« und »still«.
»Verdammt noch mal! Ich weiß, daß du dort bist. Hörst du das hier?« Das Zischen eines Impulsgewehrs, das auf volle Ladung geschaltet wurde, drang an ihre Ohren.
»Mommy …«
»Hier!« rief Rachel und stolperte über eine Kiste. »Nicht schießen. Ich komme heraus.« Sie schob sich schnell durch den Müll und blieb in einem Sonnenstrahl stehen, der zwischen den hohen Gebäuden hindurch fiel. Ihr schwarzes Haar flatterte in einem Windstoß, der roten Staub bis zu den verbrannten Dachfirsten emporwirbelte.
Der Marine vor ihr senkte sein Gewehr. Ein sadistisches Lächeln umspielte seine Lippen. Er war mehr als sechs Fuß groß und hatte blondes Haar und müde blaue Augen. Seine grüne, die Figur betonende Uniform war mit rötlichen Flecken gesprenkelt.
»Sieh an, sieh an. Du bist nicht gerade das, was ich erwartet habe.« Er wandte sich ab und rief über die Schulter: »He, Charlie, komm her und schau dir an, was ich gefunden habe.«
Rachel versteifte ihre zitternden Knie und zwang sich zu einer aufrechten und trotzigen Haltung, als ein stämmiger Sergeant mit dunklem Haar und Knollennase um die Ecke bog und wie angewurzelt stehenblieb. »Heiliger Vater! Das ist sie, nicht wahr?«
»Teufel, ja«, erwiderte der Blonde, »ich denke schon. Du bist Eloel, stimmt’s?«
Sie wappnete sich innerlich. Hatte der Mashiah die Männer hinter ihr hergeschickt? Wußte er, daß sie dem Holocaust im Tempel entkommen war?
»Nein«, sagte sie.
»Rede keinen Unfug. Ich kenne dich von den Fotos.« Der Marine berührte den Abzugshahn des Gewehrs.
Rachel preßte ihre zitternden Kiefer zusammen. Sie besaßen Fotos? Dabei war doch die Rebellenpartei stets so vorsichtig gewesen. Hinter sich hörte sie Sybil schwach, kaum vernehmbar wehklagen. Panik durchflutete sie. Sie hatte miterlebt, was die Marines den Kindern der Alten Gläubigen antaten. Mit eigenen Augen hatte sie gesehen, wie ihre kleinen Körper in violetten Blitzen explodierten.
»Schaut mal!« rief Rachel und machte ein paar Schritte vorwärts. »Ich weiß nicht, für wen ihr mich haltet, aber ich bin eine getreue Anhängerin des Mashiah. Was denkt ihr euch dabei, unschuldige Bürger zu jagen?«
»Wenn du so unschuldig bist, warum versteckst du dich dann in dieser dreckigen Gasse?« fragte der Sergeant und warf einen Blick auf den sechs Fuß hoch aufgetürmten Müll.
»Was würdet ihr denn tun, wenn fünfzig Männer mit Gewehren hinter euch her wären? Stehenbleiben, damit sie euch als Zielscheibe für ihre Schießübungen benutzen können?«
Die beiden Männer starrten sie eine Weile an und dachten über ihre Geschichte nach, doch sie wußte, daß sie einen Fehler begangen hatte. Sie wußte das genauso sicher, wie sie wußte, daß Shadrachs noch warmer Körper tot im zerstörten Tempel lag. Auch wenn sie seine Ermordung nicht gesehen hatte, so hatte sie doch schwache Schreie vernommen, bevor sie sich Sybil schnappte, um wegzulaufen. Es war seine Stimme gewesen, ein heiseres Widerhallen, das sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würde. Sie hatte eine schreckliche Wahl getroffen und das Leben ihres Kindes über das ihres Mannes gestellt. Warum war sie nicht zurückgegangen, um nachzuschauen? Vielleicht war er … Aber nein, sie durfte sich nicht erlauben, so etwas zu denken.
»He, Charlie«, flüsterte der Blonde und leckte sich gierig über die Lippen, »gönnen wir uns doch ein bißchen Spaß, bevor wir sie einliefern, hm? Nur fünfzehn Minuten Vergnügen.«
»Sei kein Idiot. Der Mashiah würde dich in Stücke schneiden.«
»Verdammt, Charlie, er würde es doch gar nicht erfahren. Niemand wird es je herausfinden. Jedenfalls nicht, wenn du nichts verrätst …«
»Verdammt noch mal, Joe, halt die Klappe! Ich bin kein Denunziant.«
Die beiden Männer dämpften ihre Stimmen zu einem Flüstern. Rachel strengte sich an, sie zu verstehen. Versuchte dieser Charlie dem anderen die Sache auszureden? Irgend etwas an diesem leisen Austausch von Worten ließ Rachels Kehle eng werden. Angst stieg wie eine eiskalte, sich ausdehnende Blase in ihr empor und drohte, sie zu ersticken.
»Wir müssen sie töten, wenn wir …«
In dem langen Moment des Wartens, der folgte, betrachtete Rachel einen Strahl rotbraunen Lichts, der rechts neben ihr über die grauen Steine kroch. Zur Mittagszeit lohte die Sonne von Horeb wie Feuer. Fast ebenso langsam rückte Rachel zur Seite. Sie wünschte sich verzweifelt, dafür sorgen zu könne, daß ihre Tochter nicht mit ansehen mußte, was hier gleich geschehen würde. Still betete sie. Laß es sie nicht sehen, Gott. Bitte, ich tue auch alles, was du willst!
Der Blonde lächelte, schielte zu Rachel hinüber und trat ein paar Schritte vor. »Komm her, meine Hübsche. Mach jetzt keine Schwierigkeiten. Ich brauche nicht lange. Und ich werde bösartig, wenn Frauen mir Ärger machen.«
»Ich … ich werde keinen Ärger machen.«
»Das ist eine gute Idee.« Er zeigte zu einem breiten Hauseingang hinüber, in dem eine dicke Matte lag. »Warum legen wir uns nicht dort drüben hin und machen es uns richtig gemütlich?«
Sie betrachtete den Eingang. Er erhob sich inmitten der zerstörten Überreste einer Bäckerei. Der schwache Geruch von Brot hing noch immer an den Steinen, und bis zur Straßenecke waren es nur ein paar Schritte. Wenn sie weglief, würde sie die Soldaten vielleicht lange genug ablenken können, um Sybil die Flucht zu ermöglichen. »Ich gehe schon«, murmelte sie und bereitete sich darauf vor, loszulaufen.
»Warte!« Der Marine packte ihre Schulter und zerrte sie herum. Sein Gewehr traf ihren Leib so hart, daß sie sich krümmte. »Nicht so hastig. Du gehst schön langsam und denkst daran, daß ich direkt hinter dir bin.«
Sie schnappte schmerzerfüllt nach Luft und zwang sich, zu der Matte hinüber zu schlurfen. Er folgte ihr so dicht, daß sie seinen schalen Schweiß riechen konnte und den kupfernen Geruch des Blutes, das seine Uniform bedeckte. Shadrachs Blut? Oder das von Freunden?
Als sie die Matte erreichten, stieß er sie brutal gegen die Wand und befahl: »Leg die Hände gegen die Tür, und spreiz die Beine. Ich muß dich zuerst durchsuchen, Schätzchen. Wir haben von euch und eurer lächerlichen Ausbildung gehört. Also, halt schön still, wenn du vorhast, lebend vor dem Gericht des Mashiah zu erscheinen.«
Er lehnte sein Gewehr sorgsam gegen die Steinwand und griff nach ihr. Sie versteifte sich, als seine harten Hände über ihren Körper tasteten und sein Lächeln dabei breiter wurde.
»In Ordnung. Dreh dich um.«
Sie hatte die Bewegung erst halb ausgeführt, da schmetterte er seine Faust gegen ihre Schläfe und stieß sie auf die Matte. Er öffnete seinen Gürtel und schob die Hose bis auf die Knie hinab; dann riß er ihre Robe auf und zwang ihre Beine auseinander. Das Geräusch des zerreißenden Stoffs klang wie Donner in ihren Ohren. Sie lag still, als er sich auf sie fallen ließ, wandte dann den Kopf ab und konzentrierte sich auf die kühle Matte, die gegen ihre Wange drückte. Schnell … nur schnell …
Er betastete ihre Brüste, ließ dann die Hand tiefer gleiten und stieß seine Finger brutal in sie hinein. Sie schauderte und biß die Zähne zusammen.
»Okay, Baby, das ist jetzt der Moment, auf den du dein Leben lang gewartet hast«, flüsterte er grinsend. Er spreizte ihre Schamlippen mit den Fingern und drang grunzend in sie ein. »O ja, das ist gut. Jetzt spiel mit und folge meinem Rhythmus.«
Sie blieb still liegen. Sie war nicht fähig, sich willig zu geben.
»Mach schon!« Er schlug ihr hart ins Gesicht.
Sie unterdrückte ein Schluchzen und zwang ihren Körper, sich unter dem des Mannes zu bewegen.
»Gut. So ist es gut.« Ein paar Sekunden später begann er zu keuchen und bewegte sich schneller.
Von der nahen Straße her zischte der Sergeant plötzlich: »Gottverdammt! Steh auf, Joe. Da kommt jemand.«
»Noch nicht. Ich bin fast soweit. Fast …«
»Du Idiot! Mann Gottes, es scheint die persönliche Wache des Mashiah zu sein! Sie tragen graue Kleidung. Wenn sie uns finden, während du …«
»Zehn Sekunden! Länger brauche ich nicht, um …«
Der Sergeant trat aus der Gasse heraus auf die Straße.
Seine Stimme klang ungewöhnlich laut, als er sich mit einem anderen Mann unterhielt, der kaum zehn Meter entfernt war.
»Haben Sie einen der Rebellen gefangen, Sergeant?« fragte eine unbekannte Männerstimme.
»Nein, Sir. Wir sind seit dem Angriff heute Morgen unterwegs gewesen, haben aber niemanden entdeckt. Diejenigen, die noch leben, müssen in die Berge geflüchtet sein.«
Hoffnung stieg in Rachel auf. Jetzt stand nur noch einer gegen einen. Sie warf einen Blick auf den Blonden. Schweiß bedeckte sein Gesicht und lief ihm über den Nacken. Warte! befahl sie sich selbst. Warte, bis er am verletzlichsten ist. Schließlich steigerte sich seine Erregung, und er keuchte heftiger. Als Rachel spürte, wie er sich in sie ergoß, hob sie die rechte Hand, stieß ihm die Finger in die geschlossenen Augen, zerquetschte seine Tränendrüsen und blendete ihn. Der Soldat zuckte heftig zurück und fing an zu schreien. Rachel rammte ihm die Faust in die Kehle, rollte unter ihm weg und trat ihm mit aller Kraft gegen den Kopf. Er stolperte rückwärts und keuchte kaum hörbar: »Cha …«
Rachel schnappte sich das Gewehr und lief zu ihrer Tochter.
Der geblendete Marine schaffte es schließlich, mit heiserer Stimme ein paar Worte hervorzupressen. »Gott … Gott!«
»Joe?« Der Sergeant eilte in die Gasse zurück. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er das Blut sah, das in Strömen über das Gesicht seines Freundes lief.
Rachel zielte mit dem Impulsgewehr, feuerte, fetzte den Mann in zwei Hälften, schwenkte dann den Lauf herum und schoß dem Blonden den Kopf ab. Als könne er sich aus eigener Kraft bewegen, rollte er die Gasse entlang und stieß gegen die Wand der Bäckerei.
Wo war der andere Mann? Derjenige, mit dem der Sergeant gesprochen hatte? War er weitergegangen, um seine Truppen zu inspizieren? Sie verspürte den Drang, loszulaufen und einen Blick auf die Straße zu werfen; statt dessen rief sie: »Sybil? Schnell, komm her zu mir!«
Das Geräusch von Knien und Ellbogen, die gegen Kisten und Kartons stießen, war zu hören, als das Mädchen sich durch den Müll wühlte, um zu seiner Mutter zu gelangen. »Mommy! Mommy! Ich dachte …«
»Nimm meine Hand, Kleines. Schnell!« Rachel hängte sich das Gewehr über und zog das kleine Mädchen eilig die Gasse hinauf. Sie bog in einen ausgetretenen, mit Dung bedeckten Reitweg ein, huschte dann gebückt durch einen zerstörten Eingang und bahnte sich einen Weg durch den mit zerbrochenen Stühlen und zerschmetterten bunten Vasen bedeckten Boden. Glas knirschte unter ihren Stiefeln.
Sybil fing an zu weinen, Ihr Schluchzen klang scharf und abgehackt.
»Hör auf!« befahl Rachel streng.
»Ich will nach Hause.«
»Ich … ich weiß. Ich will auch heim. Aber wir müssen für ein paar Tage fortgehen.«
»Wohin?«
»Wenn es geht, in die Berge. In den Felsen werden sie nicht nach uns suchen.«
»Kommt Daddy auch dorthin?«
»Ja, er wird … er kommt auch.«
Als sie das andere Ende des Hauses erreichten, spähte Rachel vorsichtig durch ein zerborstenes Fenster, um die Straße zu überprüfen. Sie führte durch das Industriegebiet der Stadt, wo sich leerstehende Fabriken schwarz und drohend erhoben. In der Ferne konnte sie die Sandsteinklippen erkennen, und ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Die gezackten Spitzen der Felsen bohrten sich wie rubinrote Lanzen in den blaßblauen Himmel. Dort würde der Mashiah sie niemals finden. Er hatte nicht genug Männer, um eine solche Suche durchzuführen.
»Beeil dich, Sybil. Wir müssen jetzt schnell gehen.«
»In Ordnung, Mommy.« Sybil streckte die Arme aus, um sich hochheben zu lassen.
Rachel nahm ihre Tochter auf und setzte sie auf ihre linke Hüfte. Das Mädchen verbarg das Gesicht im Haar der Mutter und schluchzte leise. Rachel nahm das Gewehr von der Schulter und hielt es schußbereit, bevor sie aus der Tür schlüpfte und auf die Straße trat, wo sie die Richtung zum Farmland einschlug, das sich zwischen ihr und den Bergen befand.
Das plötzliche Zischen sich aufladender Gewehre kam ihr fast wie eine Explosion vor. Sie wirbelte herum und entdeckte sechs Soldaten, die in verschiedenen Türöffnungen knieten und ihre Waffen auf sie gerichtet hatten. Neben einem der Soldaten stand Ornias, Hoher Rat von Horeb und Vertrauter des Mashiah. Er diente als Adoms Gehirn, beobachtete die religiösen Bewegungen und sorgte durch geeignete Maßnahmen für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Erst vor fünf Jahren war er nach Horeb gekommen, wobei er sich auf gamantische Vorfahren berufen hatte. Doch Rachel bezweifelte diese Herkunft. Ornias besaß keinerlei Kenntnis über viele der wichtigsten Zeremonien und kümmerte sich noch weniger um ihre Bewahrung. Eine Facette des gamantischen Glaubens kannte er allerdings genau: Die Prophezeiung eines Erlösers. Er wußte darum und hatte sie wie ein Schwert benutzt, um sich seinen Anteil an Macht und Reichtum zu sichern. Er hatte sich einen heruntergekommenen, in Lumpen gekleideten Mann gesucht, der von den Müllhaufen auf den Straßen herab von einem neuen Gott predigte, und ihn zu dem glorreichen Mashiah gemacht, dessen Erscheinen in der Schrift prophezeit wurde. Adom Kemar Tartarus konnte als Ornias’ gelungenste Kreation betrachtet werden.
Rachels Herz setzte beinahe aus, als sie in seine kalten, limonengrünen Augen blickte. Der sorgsam gestutzt Bart des großen, stattlichen Mannes mit dem hellbraunen Haar vibrierte, als er lachte. »Leg die Waffe nieder, Rachel. Du weißt, daß es aussichtslos ist.«
Sie richtete den Lauf auf seinen Bauch. Ihre Knie waren so schwach, daß sie kaum stehen konnte. »Ich würde eher sterben, als …«
»Sei vernünftig. Denk an dein hübsches kleines Mädchen, Hmm? Möchtest du, daß sie auch stirbt?«
Rachel drückte Sybil fester an sich und spürte den Atem ihrer Tochter warm an ihrer Schulter. Langsam wich sie zurück. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies.
Ornias lächelte maliziös. Ein Windstoß peitschte seine Robe aus weißer Seide gegen seine Beine. »Sergeant? Stellen Sie Ihr Gewehr bitte auf engste Bündelung ein, und zielen Sie auf das Kind.«
»Mommy?« murmelte Sybil dicht an Rachels Ohr. Sybil spürte wie sich die Muskeln ihrer Tochter in Erwartung des Schusses spannten.
»Nun komm schon, Rachel. Willst du jeden töten, der dich liebt? Erst deinen Vater, dann deine Mutter …«
»Meine Mutter starb an der Seuche!«
»Na gut, dann eben dein Vater, dein Ehemann und deine Tochter. Ist das nicht selbst für dein kostbares Gewissen ein bißchen viel?«
Tränen des Hasses blendeten ihre Augen. Ehemann? Dann stimmte es also. Schadrach … Ein Gefühl von Verzweiflung und Nutzlosigkeit überkam sie. Wo bist du, Gott? Sie schleuderte ihr Gewehr auf den staubigen, roten Boden.
Ornias bedeutete einem der Soldaten, die Waffe zu holen. Sobald das Gewehr aus dem Weg geräumt war, erklärte er vorwurfsvoll: »Ich habe dir schon vor einem Monat gesagt, daß du mit deinen verräterischen Ritualen nicht durchkommen wirst. Jetzt läßt du mir keine Wahl mehr.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde mich ein für allemal um dich und deine rebellischen Anhänger kümmern müssen.« Er strich sich lächelnd durch den Bart. »Zum Besten von Horeb, du verstehst.«
»Dann … solltest du besser dafür sorgen, daß ich wirklich tot bin, Ornias. Denn wenn nicht, werde ich dich finden, und dann …«
»Eine Drohung, meine Liebe?« Die Arroganz wich aus seinem Gesicht und wurde durch Zorn ersetzt. »Lieutenant Simon, bringen Sie die Frau und das Kind zu den anderen auf den Marktplatz. Sie kennen Ihre Pflichten?«
Der schwarzhaarige Offizier nickte. »Ja. Sir.«
»Gut.« Der Ratsherr wandte sich in einer Wolke weißer Seide um und schritt davon.
Simon winkte mit seinem Gewehr. »Du hast ihn gehört. Beweg dich.«
Rachel setzte Sybil ab, und dann gingen sie Hand in Hand die windgepeitschte Straße hinab. Der Geruch traf sie zuerst. Die Luft stank widerlich nach Angstschweiß und Tod. Als sie die Eingrenzung des Marktplatzes erreichten, umklammerte Rachel Sybils Hand fester. Der öffentliche Versammlungsplatz maß hundertachtzig mal hundertzwanzig Meter. Rote und graue Sandsteinplatten waren zu geometrischen Mustern zusammengesetzt worden, um die dreieinhalb Meter hohe Mauer zu bilden, die den Platz vollständig umschloß.
Rachel schluckte schwer angesichts der Zahl bewaffneter Wachen, die auf der Mauer patrouillierten. Alle trugen Kampfanzüge, und ihre silbernen Helme glänzten in der Sonne.
Der Lieutenant ging an ihr vorbei zum Tor und öffnete es. »Macht schon. Beeilt euch.«
Rachel ging ein paar Schritte – um wie angewurzelt stehenzubleiben, als sie den Innenraum erblickte. Hunderte von Menschen drängten sich Schulter an Schulter auf dem Platz. Niemand konnte sitzen. Überall weinten Kinder, deren Eltern nicht in der Lage waren, ihren Hunger oder Durst zu stillen. Und viele Menschen waren Seuchenopfer. Nässende Wunden klafften an ihren Armen und in den Gesichtern, verrottendes Fleisch hing in schwarzen Streifen über ihrer abgetragenen Kleidung.
Lieutenant Simon stieß Rachel mit dem Gewehrlauf an. »Vorwärts, habe ich gesagt!«
Stotternd fragte sie: »Wie … lange sind diese … Menschen schon hier?«
»Das geht dich nichts an.«
»Sie können dort drinnen nicht einmal atmen!«
»Ihr habt euch selbst in diese Lage gebracht.«
Rachel starrte ihn ungläubig an. Ist das ein Alptraum, Gott? Was haben wir getan, dich so zu erzürnen? »Haben Sie Ihre Menschlichkeit verloren? Das dort sind Ihre eigenen Verwandten! Schauen Sie, dort drüben …«
Er drehte das Gesicht weg, um dem Anblick zu entgehen. »Wer sich gegen den verheißenen Erlöser wendet, ist nicht mehr mein Verwandter. Mach, daß du reinkommst, sonst schieße ich dich wie einen Hund nieder.«
»Erlöser?« höhnte sie beinahe hysterisch. »Wen hat er denn errettet? Dich? Deine Familie?« Sie deutete mit zitternder Hand auf die Menge, die sich auf dem Platz drängte. »Wen?«
»Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Eloel.« Er richtete das Gewehr auf Sybil. »Rein mit euch!«
Rachel schaute ihn mit leerem Blick an, ergriff die Hand ihrer Tochter und ging durch das Tor. Simon verschloß es hinter ihr.
Zwei Tage lang standen sie dort, gequält vom Durst, während die unbarmherzige Sonne ihre Haut ausdörrte. Die Menschen drehten durch; sie weinten und schlugen auf jeden ein, der sie ungewollt anstieß, um ihr bißchen Platz zu verteidigen. Die Älteren und Kranken, die zu schwach waren, um zu stehen, hockten sich hin und wieder hin, den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt.
Sybil klammerte sich an Rachels Bein, als wäre es ein Rettungsfloß in einem tobenden Ozean. Ihre kleinen Lippen waren so stark angeschwollen, daß sie kaum noch sprechen konnte. Rachel strich ihr über das verfilzte Haar und fragte sich, wie lange der Mashiah sie noch leiden ließ. Viele der Kinder und der Alten waren bereits tot, ihre Leichen zu einem Haufen an der östlichen Wand aufgetürmt. Jedesmal, wenn der heiße Wind drehte und den Geruch verwesender Körper zu Rachel trieb, kam ihr gallige Magensäure hoch, und sie mußte die Nase mit dem Ärmel bedecken.
Doch trotz all der Angst und Verzweiflung, die sie verspürte, hielt der Haß sie aufrecht und erfüllte sie mit Hoffnung. Ihr Verstand beschäftigte sich ununterbrochen mit Plänen, den Mashiah zu ermorden. Es sollte langsam und qualvoll geschehen – zehnmal schlimmer als die Pein, die ihnen jetzt widerfuhr.
Adom erschien nur selten in der Öffentlichkeit, und dann nur unter dem Schutz der Wachen. Und immer, immer zusammen mit Ornias. Doch eines Tages würde sie ihm begegnen, wenn er verwundbar war.
»O Gott. Misha? Misha!« jammerte ein alter, ausgedörrter Mann. Groß und spindeldürr stand er nur ein paar Schritte von Rachel entfernt, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Sein schütteres graues Haar hing ihm über die Ohren herab. Rachel versuchte, ihren neugierigen Blick abzuwenden, doch es gelang ihr nicht.
Eine junge Frau mit kurzem braunem Haar stand neben dem Mann und tätschelte ihm die Hand. »Schon gut, Daddy. Misha ist fortgegangen, um zusammen mit der Untergrundbewegung zu kämpfen. Es ist alles in Ordnung.«
»Wirklich?«
»Ja, Papa. Mach dir keine Sorgen, dadurch wird alles nur noch schlimmer. Ich rücke ein bißchen beiseite. Warum versuchst du nicht, dich hinzusetzen?«
Doch am Spätnachmittag hatte der alte Mann den Verstand verloren. Er heulte: »Gamanten, ich sehe ein Meer von Blut, das über uns kommt! Ein Meer von brennendem Blut! Könnt ihr es nicht sehen?« Er deutete mit der Hand auf die Berge. In seinen aufgerissenen Augen flackerte der Wahnsinn. »O Gott, o Gott, wir können nicht entkommen!«
Rufe und Schreie wurden laut, als die Menschen taumelnd und sich gegenseitig schubsend herauszufinden versuchten, auf was der alte Mann zeigte. Als sie nur Berge und Himmel entdecken konnten, wandten sie sich um und starrten ihn an.
»Könnt ihr es nicht sehen? Was ist denn mit euch los?« Er fiel zu Boden, bedeckte den Kopf und zitterte, als würde er von einem epileptischen Anfall geschüttelt.
Zuerst verharrten die Menschen in stummen Schrecken, doch als das Wehklagen des Alten in gräßliche Schreie überging, rief jemand: »Bringt ihn zum Schweigen! Ich halte das nicht aus!«
Die Tochter ließ sich neben dem alten Mann niedersinken und strich ihm sanft über das Haar. »Bitte, Daddy, sei ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Da ist kein Meer von Blut. Du bist nur müde und …«
»O mein Gott! Erbarmen! Hab Erbarmen!«
»Er macht uns noch alle verrückt!« jammerte ein altes Weib. »Er soll still sein!«
Die junge Frau versuchte, ihren Vater zu beruhigen, zog seinen Kopf auf ihren Schoß und schaukelte ihn sanft. »Papa, hör auf zu zittern, du überanstrengst dich sonst. Du mußt deine Kraft bewahren, sonst stirbst du wie der kleine Tommy. Du …«
»Kannst du es nicht sehen«, flüsterte er gequält.
»Am Himmel ist nichts, Daddy. Nur ein paar Wolken, mehr nicht. Es gibt dort nichts anderes.«
Obwohl der alte Mann kaum noch Luft bekam, schrie er weiter. »Was ist mit euch los? Gamanten! Die Woge kommt von den Magistraten. Sie haben sie geschickt, um uns zu zerstören! Um Horeb zu Schlacke zu verbrennen und uns dazu! Nein! NEIN!«
»Mir ist es gleich, wenn du ihn töten mußt«, rief ein junger Mann mit wildwucherndem Bart, »aber er soll ruhig sein!«
Ein paar Jungen zogen den alten Mann vom Schoß seiner Tochter und verschlossen ihm mit ihren Händen den Mund, doch er schrie weiter. Wortlose Schreie der Panik drangen durch die zusammengepreßten Finger der Jüngeren, während die Augen des Alten auf den schweigenden blauen Himmel gerichtet waren.
»Bringt ihn endlich zum Schweigen! Er soll ruhig sein!«
Die Jungen schlugen den alten Mann, bis er still dasaß, die Knie an seine ausgemergelte Brust gezogen. Noch immer suchten seine Augen den leeren Himmel ab. Seine Tochter nahm ihn schützende in die Arme und schluchzte: »Tut ihm nicht mehr weh! Der Mashiah hat unsere ganze Familie getötet. Der Schmerz hat ihn verwirrt. Er weiß nicht, was er sagt!«
Rachel schaute sich auf dem von Menschen dicht besetzten Platz um. Die Angst zeichnete jedes Gesicht; bei vielen schien der Wahnsinn nicht mehr fern. Zitternd vor Übermüdung und beginnender Panik bewegten die Menschen sich unruhig und beobachteten einander argwöhnisch. Schon bald würden sie verrückt genug sein, um sich gegenseitig zu töten, um ein bißchen mehr Platz zu bekommen.
»Wir alle verlieren den Verstand«, sagte eine junge Frau in einer abgetragenen braunen Robe zu Rache. »Es … es muß an der Hitze liegen.«
»Ja, die Hitze.«
Als die Nacht kam, brachen Kämpfe aus, weil die Menschen versuchten, sich Platz zum Schlafen zu sichern. Rachel blieb stehen und ließ Sybil zwischen ihren gespreizten Beinen schlafen. In der Ferne änderten die gezackten Spitzen der Berge ihre Farbe von Rot zu Indigo. Rachel versuchte, sich vorzustellen, sie befände sich dort, sicher und geborgen in einer der Tausenden von Höhlen, welche die Hügel durchzogen. Sie träumte davon, eine Quelle zu finden, an der sie sitzen und sich vom Wasser benetzen lassen konnte, wo sie die Hände zu einem Gefäß formen und Sybil so viel zu trinken geben konnte, wie sie nur wollte.
Mitten in der Nacht, als die Sterne wie der Besatz eines Halstuches schimmerten, das jemand über den Himmel ausgebreitet hatte, fuhr Rachel ein plötzlicher Schrei durch Mark und Bein. Im schwachen Sternenschein sah sie, wie der alte Mann sich erhob und den Arm in Richtung der dunklen Bergspitzen ausstreckte. Sein Haar stand wirr vom Kopf ab und ließ ihn wie einen der halbtoten Dämonen aus den Abgründen der Dunkelheit erscheinen.
»Seht! Das Meer des Blutes! Es verschlingt unsere Kinder! O mein Gott, mein Gott, was haben wir getan, daß wir eine solche Strafe verdient haben?«
Rachel blickte zum sternengeschmückten Himmel auf und versuchte, ihre Gedanken von der schreckenerregenden Prophezeiung abzuwenden. Die Worte hatten sie mitten ins Herz getroffen. Ein Geräusch drang durch die Dunkelheit, dann noch eins und noch eins. Die Jungen packten den alten Mann bei den Ärmeln und warfen ihn zu Boden.
»Wieso könnt ihr es nicht sehen? Es ist der Schlachtkreuzer! Er ist für alles verantwortlich! Und er ist so nah! Könnt ihr nicht …«
»Bringt ihn endlich zum Schweigen! Wir brauchen Schlaf!«
Der Klang reißenden Stoffes durchschnitt die Nacht, und als Rachel sich umwandte, sah sie, wie einer der Jungen den Stoff zu einem Knoten zusammenballte und ihn dem alten Mann in den Mund stopfte, während ein anderer ihm die Hände fesselte. Der Alte strampelte und keuchte verzweifelt.
Seine Tochter streichelte in stummer Verzweiflung seine Schulter.
Rachel schloß die Augen. Würde die Nacht niemals enden? »Herr des Universums, warum hast du kein Erbarmen mit uns?« Sie preßte eine Hand auf den Mund, um das trockene Schluchzen zu unterdrücken, das sie schüttelte.
»Mo … Mommy«, sagte Sybil und streichelte besänftigend das Bein ihrer Mutter. »Nicht weinen. Warum weinst du?«
Rachel ließ sich auf den Boden sinken, quetschte sich zwischen zwei Männer und eine Frau und umarmte ihre Tochter.
»Steh auf, verdammt! Hier ist kein Platz mehr!« fluchte der Mann und stieß gegen Rachels Rücken, doch sie krümmte sich gegen die Schläge zusammen und weigerte sich, aufzustehen. Ihre Beine waren plötzlich zu schwach, um sie zu tragen.
»Schlag meine Mommy nicht!« schrie Sybil und hieb mit ihren kleinen Fäusten nach dem Bein des Mannes.
Der Mann hob abwehrend die Hände und murmelte: »Schon gut. Für den Moment jedenfalls.«
Sybil kroch auf Rachels Schoß und schlang die Arme um ihren Hals. »Nicht weinen, Mommy. Komm, ich streichle dich in den Schlaf.« Ihre Tochter streckte eine müde, schmutzige Hand aus, um ihren Rücken zu erreichen. »Es ist alles gut, Mommy. Nicht …«
»Psst, Liebes«, schluchzte sie und strich über Sybils verfilztes Haar. »Du bist diejenige, die schlafen muß. Morgen wird es vielleicht noch schlimmer. Wir müssen unsere Kraft bewahren.«
»Aber du mußt auch schlafen.«
»Ist gut, ich werd’s versuchen. Mach jetzt die Augen zu.«
»Wir machen sie zusammen zu«, sagte Sybil und beobachtete Rachel durch ein halbgeschlossenes Auge, bis diese ihre Lider senkte. Dann entspannte sich ihre Tochter und wurde zu einem schlaffen kleinen Bündel in Rachels Armen.
Rachel schaukelte Sybil sanft hin und her, während es um sie herum kälter wurde. Außerhalb des Platzes heulte der Wind wie klagende Banshees durch die kalten, steinernen Straßen.
Rachels Seele schrie auf, als sie sah, wie ein großer Nachtvogel nur Meter von ihr entfernt auf der Leiche eines Kindes landete und seine gräßliche Mahlzeit begann. Flatternde Flügel sandten einen kalten Luftzug durch ihr Haar. Sie hatte den Jungen nicht gekannt; dennoch überlief sie ein unkontrollierbares Zittern, als wäre der durch das Tier ausgelöste Windhauch der letzte Atemzug eines ihrer Lieben gewesen.
Als sie aufschaute, sah sie die Wachen auf den Mauern. Im silbernen Schein des Sternenlichts leuchteten ihre Helme in einem geisterhaften Grau.