KAPITEL
8

 

 

Ornias summte vor sich hin, als er die prächtigen Marmorhallen des Palastes durchschritt und seine Augen schon routinemäßig die atemberaubenden korallenroten Bögen und die Kaschmirteppiche bewunderten. Sonnenlicht strömte gleißend durch die spitzenverbrämten Vorhänge, die die Fenster hoch über ihm schmückten, und sprenkelte seinen Weg mit goldenen Mustern. Spielerisch tippte er jede der aus rosa Achat gefertigten Heiligenstatuen an, die er passierte, wobei er verächtlich lächelte.

Wie war es möglich, daß auch nur ein einziges denkendes menschliches Wesen an solchen Unfug glaubte? Heilige und Engel, Dämonen und Götter. Völliger Blödsinn. Aber sehr lukrativ.

Von Entzücken erfüllt, lachte er leise, als er um eine Ecke bog und einen langen Flur entlang ging, der zu Adoms persönlichem Büro führte. Ein Dienstmädchen in der grauen Kleidung des Palastpersonals eilte ihm entgegen.

»Guten Morgen, Ratsherr.«

»Guten Morgen, Amelia.«

Sie lächelte dankbar, weil er geantwortet hatte, und senkte respektvoll den Blick, als sie an ihm vorbeiging. Respekt? Oder Furcht? Er strich sich den Bart und hoffte, es war Letzteres. Furcht war erheblich besser geeignet, um Gehorsam zu garantieren, als Respekt. Und im Moment schienen sich die Dinge auf Horeb ziemlich hektisch zu entwickeln. Deshalb brauchte er Gehorsam statt Ehrerbietung – obwohl es natürlich nicht schaden konnte, beides zu haben.

Als er vor Adoms mit Schnitzereien verzierter Tür ankam, strich er seine blauschimmernde Robe glatt und fuhr sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. Er klopfte und rief leise: »Adom? Hier ist Ornias. Du wolltest mich sprechen.«

Er legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Drinnen war kein Laut zu vernehmen. »Mist« fluchte er unterdrückt. »Du bist doch nicht etwa wieder in diesen verdammten Gebetsraum gegangen, oder?«

Irritiert klopfte er fester und rief: »Adom, bist du da?«

»Oh«, antwortete eine leicht geistesabwesende Stimme. »Ja, Ornias, ich komme.«

Ornias kratzte sich an der Nase, seufzte gelangweilt und murmelte: »Ich bin ja so froh, Mashiah. Ich hatte schon befürchtet, du wärst wieder in dem Loch verschwunden.«

Die Tür schwang auf und Adom starrte ihn an. »Ich, äh … habe ich dich rufen lassen?«

»Ja, Adom. Shassy brachte mir die Nachricht, daß du deine Konferenz mit Milcom beendet hättest und mich sprechen wolltest.« Er kniff die Augen zusammen. Irgend etwas irritierte ihn, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, was es war. So erging es ihm ständig bei Adom.

»Oh. Na gut, komm herein.« Der Mashiah zog die Tür weit auf, wandte sich dann ab und ging in Gedanken versunken in seine Räumlichkeiten zurück, wobei er sich das glattrasierte Kinn rieb. »Ich frage mich, warum ich …«

Ornias trat ein, schloß die Tür hinter sich und betrachtete Adom forschend. Der Mann sah schrecklich müde aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, und das blaßblonde Haar hing in fettigen Strähnen bis auf seine Brust. Seine grüne Robe war das einzige an ihm, das frisch wirkte. Nach einem »Gespräch« mit Milcom sah er normalerweise aus, als hätte ein Boxer ihn in die Mangel genommen, doch diesmal schien es noch schlimmer als sonst zu sein.

»Geht es dir gut?«

»Hm?« Adom drehte sich halb um und schaute ihn fragend an. »Was hast du gesagt?«

Ornias seufzte tief, durchquerte das Zimmer, legte eine Hand auf Adoms Rücken und führte ihn zu den mit karmesinrotem Samt bezogenen Sesseln, die am Fenster standen. »Setz dich, Adom. Ich hole dir Cognac.«

»Oh, gut. Danke.«

Ornias ging zum Barschrank hinüber und spähte durch die Glastür auf die Flaschen. Seine Wahl fiel auf einen hundert Jahre alten Cognac von Orillas Sieben. Auf dem Rückweg nahm er noch zwei Gläser mit und ließ sich dann in den Sessel gegenüber von Adom fallen.

»Wie geht es Milcom?« erkundigte er sich beiläufig, während er den Korken herauszog und den Staub von der Flasche blies.

»Gott ist besorgt.«

»Tatsächlich? Weswegen? Etwas, das wir gemacht haben?« Ornias genoß das reiche Aroma des Alkohols, bevor er die Gläser mit dem kupferfarbenen Ambrosia füllte.

»Nein, es ist nicht wegen uns. Es geht um das Universum. Der Stoff ist irgendwo zerrissen.«

Ornias warf ihm einen gelangweilten Blick zu. Bitte, Gott, nicht noch mehr von diesem Unfug. Erspar mir das! »In der Tat? Und? Ist das schlecht?«

»Ich … ich glaube schon.«

Ornias zog mit der Stiefelspitze einen weiteren Sessel heran, legte die Füße auf die Sitzfläche, lehnte sich zurück und nippte an seinem Drink. Über Adoms Hirngespinste zu diskutieren, langweilte ihn stets, doch es hielt den Mashiah bei Laune und war daher unumgänglich. Am meisten haßte er allerdings Gespräche über die neuen »Tränen« im Universum. Sie schienen in letzter Zeit so häufig zu sein, daß er beinahe den Wunsch verspürte, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

»Was bedeutet das? Eine ›Träne‹ im Stoff?« erkundigte er sich zum tausendsten Mal.

»Ach, es … es bezieht sich auf das wachsende Muster von Singularitäten. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht sicher bin, ob ich das alles richtig verstehe. Milcom sagt, je mehr auftauchen, desto weiter streckt sich jeder Vortex aus und schluckt wie ein gewaltiger Tornado alles, was in seinem Weg liegt.«

»Wirklich? Wie interessant.« Ornias seufzte leise und schaute aus dem Fenster. Von seinem Platz aus konnte er das Händlerviertel von Seir sehen. Menschen standen vor den Schaufensterauslagen und betrachteten neue Kleidung, Backwaren oder Möbel. Er lächelte. Ohne ihn gäbe es nichts von alledem auf Horeb. Natürlich war diese Welt eine zurückgebliebene Ödnis ohne Handelspartner, die er auch jetzt noch verachtete. Die Ignoranz der Bauern und der ganze schmutzige Planet nagten an seinem Selbstwertgefühl. Doch allmählich besserten sich die Dinge. Nicht mehr lange, und die Magistraten würden ihm geben, was immer er wünschte.

»Wie ist es hier gelaufen?« fragte Adom und blinzelte wie eine Eule.

»Ach, nichts, worüber du dir Gedanken machen müßtest. Ich war gezwungen, noch ein paar Proklamationen gegen Gewaltakte zu veröffentlichen und einige Widerständler zu … äh … disziplinieren. Nichts Wichtiges.«

»Ah, ja gut.«

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Milcom hat dich länger als eine Woche dabehalten. Hast du das bemerkt?«

Adom nickte mit gerunzelter Stirn. Er hob sein Glas und nippte nachdenklich am Cognac. »Er mußte mit mir reden. Wir werden in naher Zukunft ernste Probleme bekommen.«

»Wegen diesem Muster aus Singularitäten?«

»Auch deshalb. Vor allem aber, weil die Rebellen einen Großangriff auf uns planen.«

Ornias setzte sein Glas mit einem scharfen Klicken auf dem geschnitzten Tisch ab. Nicht daß er an diese Milcom-Geschichte glaubte, doch Adoms Vorhersagen hatten sich in den vergangenen drei Jahren als erstaunlich zutreffend erwiesen. »Wie soll diese Attacke aussehen?«

Adom schaute ihn mit klaren blauen Augen an. »Milcom wollte mir nichts Genaues sagen. Nur soviel, daß wir die Wachen rings um den neuen Tempel und den Palast verdoppeln sollen. Milcom sagt, es würde Versuche geben, beide zu zerstören. Wir sollten darauf vorbereitet sein.«

Ornias schluckte nervös und nippte kräftig an seinem Glas. »Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Gott sagt auch, du sollst aufhören, den Marines soviel Macht zu geben, Ornias. Sie mißbrauchen sie.«

Ornias blickte überrascht auf. Ein leises Gefühl der Angst wuchs in seiner Brust. Adom wußte nichts von seinen Versuchen, die Revolution zu ersticken, die den ganzen Planeten aus den Nähten platzen zu lassen drohte. »Worauf beziehst du dich?«

»Nun … ich weiß es nicht genau. Aber Milcom trug mir auf, dir zu sagen, du wärst ein Vollidiot.«

»Meint er das?« Ornias trommelte mit den Fingern auf sein Bein. »Na gut.«

»Oh, du mußt dich deshalb nicht schlecht fühlen. Gott hat das nicht böse gemeint. Er dachte nur, du könntest ein wenig Führung gebrauchen.«

»Ich verstehe.«

Adom lächelte. »Das wußte ich.« Plötzlich sprang er mit geradezu manischer Lebhaftigkeit aus seinem Sessel und legte den Kopf schief, als würde er jemandem zuhören. Dann eilte er zur Tür und rief über die Schulter zurück. »Ich muß jetzt gehen und mich um die Blumen im Garten kümmern. Wenn du mich bitte entschuldigst …«

»Adom! Setz dich wieder hin! Erzähl mir die ganze Geschichte über die Rebellen und ihre Pläne!«

»Die Rebellen?« Adom hielt inne und ging ein paar Schritte zurück. Ornias schloß die Augen und erklärte mit zusammengebissenen Zähnen: »Du hast gesagt, Milcom will, daß wir unsere Wachen verdoppeln. Hat er dir auch mitgeteilt, wann wir mit dem ersten Angriff rechnen müssen?«

Adom blinzelte, als hätte er nicht die geringste Ahnung, wovon Ornias sprach. »Angriff? Oh! Ah, nein … hat er nicht.« Er wirbelte herum und marschierte wieder in Richtung Tür.

»Viel Spaß im Garten, Adom.«

»Danke sehr. Willst du nicht mitkommen? Die silmarischen Hyazinthen sind um diese Jahreszeit besonders schön.«

»Ja, ich weiß. Aber ich habe noch einiges zu erledigen.«

Adom lächelte breit. »In Ordnung. Ich sehe dich dann später.« Er verschwand auf dem Korridor und ließ dabei die Tür so weit offen stehen, daß Ornias durch die Flurfenster hindurch die große rote Wüste sehen konnte. Staubwirbel huschten über die Ebene und verdeckten teilweise die weit entfernten Felsplateaus.

Ornias leerte sein Glas, schüttelte den Kopf und schenkte sich nach. Nach Besuchen bei seinem Gott benahm sich Adom immer ein wenig seltsam; er war desorientiert und geistesabwesend, doch in der Regel wurde er nach ein paar Stunden stets wieder normal – zumindest normal für Adom. Diesmal dauerte die Periode der Verwirrung allerdings erheblich länger als üblich. Allerdings hatte Adoms Aufenthalt bei Milcom auch länger als gewöhnlich gedauert. Vielleicht hätte er das also erwarten sollen.

Ornias leerte auch das zweite Glas und glättete sorgfältig die Falten in seinen blauen Seidenärmeln. »Trotzdem könnte ich schwören, daß es von Tag zu Tag schlimmer mit ihm wird.«

 

Staub wirbelte in rötlichen Schwaden durch Seir und prasselte gegen die Fensterscheiben der kleinen schachteiförmigen Häuser, die sich entlang der schmutzigen Straßen in der Nähe des prächtigen Palasts des Mashiah aufreihten. Am Horizont schimmerten die dahintreibenden Wolken wie polierter Karneol.

Rachel, Sybil, Talo und Colin beobachteten aus der Deckung heraus die langen Reihen der Gottesdienstbesucher, die in den neuen Tempel von Milcom strömten. Das an einem Hang im Zentrum von Seir gelegene hexagonale Gebäude erhob sich zweihundert Fuß hoch in die trockene Luft und leuchtete golden im staubgeschwängerten Licht der Abenddämmerung. Der Hauptteil des Gebäudes, eine riesige gläserne Kuppel, die die Architekten das ›Gewölbe des Himmels‹ genannt hatten, reflektierte die Sonnenstrahlen und sah aus wie ein großer, blutig verschmierter Fleck.

Rachels Herz schien sich zu verkrampfen, als sie die Anzahl der Wachen feststellte. »Sie müssen ihre Kräfte rings um den Tempel verdreifacht haben.«

»Spielt keine Rolle. Talo und ich brauchen heute nacht nicht lange.«

Rachel nickte und schaute zu den Gläubigen hinüber, die sich vor dem Eingang zusammendrängten. Freunde. Verwandte. »Feinde. Verräter, die dabeigestanden und zugeschaut haben, als wir niedergemetzelt wurden.«

»Heute nacht«, flüsterte Colin wild. Ein grausames Lächeln verzerrte seine scharfgeschnittenen Züge. »Heute nacht segnen sie das Bauwerk und weihen es Milcom.« Wind heulte durch die Gasse und zerrte an den grauen Lumpen, die Colin trug.

»Shoah … Shoah … das Ende aller Dinge«, stöhnte Talo und schlug die Hände vor sein faltiges Gesicht.

Rachel neigte den Kopf. Sie empfand eine so tiefe Müdigkeit, daß ihr Bewußtsein sie nicht ausloten konnte. Die Ereignisse der Vergangenheit schienen in weite Ferne gerückt und sich zu einem einzigen Alptraum vermischt zu haben, der nicht in diese Realität gehörte.

»Wir kämpfen für das, was rechtmäßig unser ist«, sagte Colin scharf.

»Aber können wir nicht warten, bis der Tempel leer ist? Dann …«

»Geh heim, Talo«, murmelte Rachel und schaute auf den dicken Verband um seinen Leib, der sein braunes Gewand ausbeulte. Er hatte Glück, noch am Leben zu sein. Der Schuß des Marine hatte haarscharf seine Niere verfehlt. Er war noch geschwächt, und seine Leistungsfähigkeit und Ausdauer ließen sich kaum genau einschätzen. »Das Finale ist bereits vorbereitet. Wir können es auch ohne dich tun.«

»Nein. Ich … ich kämpfe auch für Epagael. Gesegnet sei der Name des Wahren Gottes.«

Als die Sonne tiefer sank, drang das Licht zwischen den engstehenden Häusern hindurch und malte düstere rote Streifen auf ihre Gesichter. Rachel erschauerte. Die abendliche Brise trug bereits den Hauch des Winters mit sich.

»Mommy«, murmelte Sybil ängstlich und blickte von einem Erwachsenen zum anderen. »Mir ist kalt. Laß uns heimgehen. Können wir nicht einfach nach Hause gehen? Ich will nicht in den Tempel des Mashiah.«

Rachel strich ihre geliehene pfirsichfarbene Robe glatt. Die kayanische Seide schimmerte im schwindenden Licht, und die Perlen an Saum und Kragen erstrahlten wie kleine kristallene Tränen. Sie hob ihren Schleier und befestigte ihn so, daß er ihr Gesicht bedeckte. Dann kniete sie nieder und tat das gleiche mit Sybils himmelblauem Schleier. Ihre Tochter blickte sie voller Angst an.

»Mom, warum müssen wir das tun? Wenn alles schon vorbereitet ist, warum müssen wir dann noch hineingehen?« Sie klammerte sich an der Schulter ihrer Mutter fest.

»Wir tun es einfach. Wir bleiben nicht lange dort, das verspreche ich dir. Erinnerst du dich noch, was ich dir gesagt habe?«

»Daß ich nicht reden soll?«

»Genau. Du tust einfach so, als wärst du schüchtern, in Ordnung?«

»Aber … Mom … Bitte, wir können sie doch auch von hier aus töten. Wir müssen nicht …«

»Pst, Liebes. Wir gehen hinein.«

Als Rachel sich erhob, packte Talo sie fest am Arm. Sein altes Gesicht drückte ernste Besorgnis aus. »Warum tust du das? Dort drinnen ist es gefährlich für dich.«

Rachel schüttelte die Hand ab und hielt seinem Blick stand. »Ich will sein Gesicht sehen.«

»Wenn du schon nicht an dich denkst, dann mach dir wenigstens Sorgen um deine kleine Tochter. Was ist, wenn du in die Panik hineingerätst?«

»Wir schaffen das schon.«

»Was bedeutet das Wort, Mommy?« flüsterte Sybil. Braune Locken lugten hinter ihrem Schleier hervor. »Panik?«

»Es bedeutet, daß die Menschen weglaufen werden.«

»Über uns drüber?«

»Nein, mach dir deswegen keine Sorgen, Baby. Wir werden ganz hinten im Tempel stehen, so daß wir als erste hinaus können, wenn die Leute in Panik geraten.«

Sybil schob die Hände in die Taschen ihrer Robe und schaute zu Boden.

Talo ballte die Hand zu einer Faust. »Aber du kannst doch nicht absolut sicher sein …«

»Nichts ist jemals sicher.«

Er bemerkte ihre gespannte Ruhe. Der Augenblick zog sich unangenehm in die Länge und Rachel mußte ihre ganze Kraft aufbieten, um das Gefühl einer bösen Vorahnung zu unterdrücken, das in ihr nagte.

»Bist du fertig, Sybil?«

»Ich glaube schon, Mom.« Sie stieß den angehaltenen Atem aus und drückte ihre kleinen Schultern in Erwartung des Kommenden durch.

»Du bist ein tapferes Mädchen.« Rachel drückte ihre Hand und schaute ein letztes Mal zu Colin hinüber. »Du weißt, was du zu tun hast?«

Seine Augen leuchteten wild auf. »Ja. Talo und ich, wir schaffen das.«

»Gut. Wenn alles vorbei ist, treffe ich euch an der alten ausgebrannten Bäckerei.«

Beide Männer nickten. Talo leckte sich über die Lippen und warf einen besorgten Blick auf Sybil. Sein grauer Bart zitterte, als er mit seinen Händen das heilige Dreieck formte. »Möge Epagael dich schützen.«

»Und dich auch«, erwiderte Rachel mechanisch.

Sie führte Sybil auf die Straße hinaus und suchte sich sorgfältig einen Platz unter jenen Gottesdienstbesuchern aus, die ihr völlig unbekannt waren. Wie beiläufig reihten sie sich ein und Rachel zog ihre Tochter enger an sich. Roben in fuchsrot und kastanienbraun, in safrangelb und smaragdgrün sorgten für Farbtupfer in der langen Reihe der Gläubigen. Wenn der Wind die Richtung wechselte, wurde der Duft exotischer Parfüms beinahe überwältigend. Die reichliche Benutzung solcher Wohlgerüche deutete auf immensen Reichtum hin und kennzeichnete ihre Benutzer als Angehörige des inneren Kreises um den Mashiah. Haß stieg so plötzlich in Rachel auf, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie ballte die Hände zu Fäusten, um die aufbrandende Flut ihrer Gefühle einzudämmen. Ihr scharfer, forschender Blick suchte die Menge nach den Parfumbenutzern ab.

Während Mutter und Tochter sich langsam auf die großen hölzernen Tore zubewegten, drangen Musikfetzen aus dem Innern des Gebäudes. Die süß und hell klingenden Töne berührten irgendeine Saite tief in Rachels gequälter Seele, beruhigten und streichelten sie wie die sanfte Hand eines Liebhabers.

Sybils junger Körper versteifte sich, als das Innere des Tempels sichtbar wurde. Sie blieb abrupt stehen, warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu und versuchte sie wegzuzerren. Rachel packte Sybils Hand fester und zog sie in die Reihe zurück.

»Hör auf damit!« flüsterte sie. »Hör auf. Sofort!«

»Mom … ich … ich kann dort nicht reingehen! Was ist, wenn er …«

Rachel zog ihre Tochter aus der Schlange heraus, kniete sich neben sie und brachte ihren Mund dicht an das Ohr des Mädchens. »Ich weiß, daß es schwer ist«, flüsterte sie. »Willst du lieber draußen auf mich warten?«

»Nein! Nein, ich will bei dir bleiben, aber …«

»Dann beeil dich, bevor die Leute mißtrauisch werden.«

»Mom, hältst du mich fest? Nur einen Moment? Ich habe Angst.«

Rachel drückte sie an sich und streichelte ihr beruhigend über den Rücken. »Es ist alles in Ordnung. Wir gehen nur für zehn Minuten hinein. Dann laufen wir weg und kommen nie wieder hierher zurück. Hast du verstanden?« Sybil nickte. »Geht’s jetzt wieder?«

Einige Leute schauten sie neugierig an. Sybil erwiderte ihre Blicke. Sie schluckte schwer und flüsterte: »Ja. Tut mir leid. Komm, beeilen wir uns.«

Rachel erhob sich, legte Sybil eine Hand auf die Schulter, und dann schlossen beide sich wieder dem Strom der Gläubigen an. Sobald sie im Tempel waren, zog Rachel ihre Tochter zur Seite und an der Rückwand entlang, während die anderen Besucher geradeaus weitergingen und sich vorn ihre Plätze suchten. Obwohl der Tempel dreihundert Fuß durchmaß, drängten so viele Menschen hinein, daß es nur noch wenige freie Sitze gab, so daß die Gläubigen sich längs der Wände aufreihen mußten.

Mit staunender Ehrfurcht betrachtete Rachel die Ausstattung des Tempels. Die letzten Sonnenstrahlen strömten durch die Glaskuppel und warfen ihren feurigen Schein auf die goldenen Einlegearbeiten in Wänden und Altar. Ineinander verschlungene, umgedrehte Dreiecke schimmerten, wo sie auch hinschaute. Die versetzt angeordneten Kirchenstühle fügten sich nahtlos in jede der hexagonalen Nischen ein.

Unbehagen beschlich sie wie ein kalter Winternebel. Wenn sie nur die Position des Altars gekannt hätte, wäre sie durch eine andere Tür hereingekommen, doch jetzt war es zu spät. Sie stand nicht mehr als fünfzig Fuß von der blasphemischen Plattform entfernt, und wenn sie jetzt versuchte, mehr Abstand zu gewinnen, würde das nur Verdacht erregen.

»Stell dich hinter mich, Sybil«, flüsterte sie. Das Mädchen nickte, lehnte sich gegen die Wand und drückte ihre zitternden Knie gegen das linke Bein der Mutter. Rachel tätschelte ihr sanft die Wange.

Weiterhin strömten die Menschen herein, bis der Tempel aus allen Nähten zu platzen drohte. Rachel bemerkte zu spät, daß inzwischen mindestens fünfzehn Gottesdienstbesucher den Weg zwischen ihr und der Tür versperrten. Die meisten von ihnen waren große Männer. Sie würde sich ihren Weg freikämpfen müssen, wenn es an der Zeit war.

Als der Himmel sich verdunkelte, glühten Lampen im Innern des Tempels auf. Das sanfte Licht schimmerte auf violetten und elfenbeinfarbenen Seidenroben und wurde glitzernd von juwelengeschmückten Händen und Haarnetzen zurückgeworfen.

Plötzlich unterbrachen die Musikanten auf der anderen Seite des Tempels ihr Spiel und begannen ein neues, lauteres und aggressiv klingendes Stück.

Ornias betrat huldvoll lächelnd den Saal und schritt durch den Mittelgang zum Altar. Er war in rosa Satin gekleidet, und sein hellbraunes Haar und der Bart schienen im ockerfarbenen Licht der Lampen zu glühen.

Rachel verkrampfte sich innerlich. Ein furchtbares Zittern schüttelte sie und sie mußte die Augen schließen und all ihre Kraft aufbieten, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Als sie die Augen öffnete, stand der Hohe Ratsherr majestätisch am Altar und schlug das dicke Buch auf, das dort auf einem Podest ruhte.

Das Raunen der Menge verstummte.

»Mein Volk«, sagte er salbungsvoll. »Wir sind in dieser Shabbatnacht zusammengekommen, um Milcom für diesen prachtvollen Tempel zu danken.«

Die Gläubigen murmelten unisono: »Möge der Name des Ewigen gesegnet sein jetzt und in alle Zeit.«

Ornias hob eine Faust über den Kopf, und seine Hand warf kobaltblaue Schatten auf die Wand hinter ihm. »Mit deiner unendlichen Liebe hast du uns beschenkt, o Herr und Gott. In deiner großen und überschäumenden Gnade hast du uns Vergebung zuteil werden lassen.«

»Gesegnet sei Milcoms Name.«

Rachel starrte blicklos vor sich hin. Vergebung? Gab es so etwas noch im Universum? Nach all dem Terror der letzten Tage berührte diese Zeremonie einen Teil in ihr, der sich nach dem Frieden zurücksehnte, den sie früher bei solchen Feiern empfunden hatte. O Epagael, warum hast du uns verlassen?

»Unser Vater! Unser König! Erleuchte unsere Augen, auf daß wir dein Gesetz erkennen können. Lehre uns, dem Weg deines gesalbten Erlösers zu folgen …« Ornias schloß die Augen und neigte den Kopf. Lampenlicht brach sich auf den Juwelen in seinem Haar. »Adom Kemar Tartarus. Schreibe seinen Namen in unsere Herzen, auf daß wir seinen Ruhm im ganzen Universum verkünden können.« Langsam ließ er die erhobene Faust auf das Pult herabsinken und blickte zum hinteren Teil des Tempels.

Ein großer, im Lampenschein wabernder Schatten erschien auf der Wand. Alle Köpfe drehten sich, und auf den Gesichtern zeigte sich Ehrerbietung. Adom betrat den Tempel, das Kinn emporgereckt und die Arme weit ausgebreitet. Das blaßblonde Haar fiel in Wellen über seine Schultern. Er hatte tiefliegende blaue Augen, hohe Wangenknochen und eine gerade Patriziernase. Das blitzende Silber seiner Robe ließ den inkarnierten Gott wie eine Säule aus fleischgewordenem Sternenlicht erscheinen.

Er glitt durch den Gang wie der Samen des Löwenzahns im sanften Morgenwind. Sanft lächelnd berührte er die Köpfe der Kinder, an denen er vorbeikam. Als er sich Rachel näherte, fing ihr Herz heftig zu pochen an. Sie senkte den Kopf und schaute zu Boden.

Er ging schweigend an ihr vorbei und betrat die Plattform, um seinen Platz hinter dem Podium einzunehmen. Ornias kam herunter und blieb keine drei Meter von Rachel entfernt stehen.

Tiefempfundene Liebe erfüllte Adoms Augen, als er seinen Blick über die versammelten Menschen schweifen ließ. »Baruch atta Milcom«, intonierte er, und seine tiefe Stimme schien selbst die Wände zu streicheln.

»Gesegnet sei sein Erlöser«, erwiderte die Menge.

Rachel zählte die Minuten. Wie lange noch? Sollte sie sich jetzt schon in Richtung Tür bewegen? Nein, es war besser, wenn sie wartete, bis Adom mit seinem Sermon begonnen und die Aufmerksamkeit der Menschen gefesselt hatte. Doch als sie sich im Tempel umsah, erkannte sie, daß ihm dies bereits gelungen war. Niemand rührte sich, und die Gesichter der Andächtigen drückten tiefe Verehrung aus.

»Gläubige«, sagte Adom sanft, »niemand kann die ehrfurchtgebietende Schönheit eurer Arbeit bestreiten. Dieser Tempel wird Millennien überdauern als Licht für heidnische Völker. Der erste Tempel des Großen und Glorreichen Milcom.«

»Wir flehen dich an, o Ewiger, errette uns.«

»Wir haben versprochen, eine Heimstatt für dich zu finden, o Mächtiger von Sinlayzan. Und wir haben sie in den Wüsten von Horeb erbaut. Hier soll der Quell deiner Wahrheit entspringen. Hier werden wir mit dem Kampf beginnen, der deine Feinde vom Antlitz des Universums reißen wird, auf daß Rechtschaffenheit und Furcht in die Herzen aller menschlichen Wesen Einzug halten können.«

Furcht. Rachels Magen hob sich, als die Erinnerungen der letzten Wochen auf sie einstürmten. Ihre fieberglühenden Augen richteten sich auf Adom, und Haß erfüllte ihr Inneres. Für einen kurzen Moment traf sein Blick den ihren, und sie erschauerte. Was war an ihm, das ihre Seele mit Sehnsucht erfüllte? Eine magnetische Aura von Vertrauen und Unschuld umgab ihn. Selbst sie … selbst Rachel Eloel … spürte das.

»Mein geliebtes Volk«, sagte Adom. Schmerz färbte seine Stimme. »Die letzten Tage sind für uns alle schwer gewesen. Es gibt einige Schafe in der Herde, die alles zu zerstören trachten, was wir aufgebaut haben.«

Ein feindseliges Murmeln durchlief den Tempel.

Adom schaute flehentlich auf, seine Lippen zitterten. »Ich habe tagelang ohne Unterlaß gebetet, daß die Rebellen zu mir kommen, doch …«

»Versuch gar nicht erst, mit den schmutzigen Dämonenanbetern zu reden!« rief jemand.

Adom schloß für einen Moment die Augen. »Ich will nur den Haß beenden.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Sagt mir wie? Sagt es mir, mein Volk.«

Dann, als hätte Gott selbst ihm geantwortet, wandte er ruckartig den Kopf und schaute Rachel direkt an. Tränen füllten seine Augen. »Sag mir, warum?« wiederholte er, doch diesmal galt seine Frage einzig ihr allein.

Ein Adrenalinstoß raste wie Feuer durch Rachels Adern. Lieber Gott, er weiß Bescheid!

Sie packte Sybils Kragen und zog sie an der Wand entlang, während sie sich zum Ausgang vorarbeitete und die Männer aus dem Weg drängte.

Überall im Tempel antworteten die Menschen auf Adoms Frage. »Sperr die Abtrünnigen ein! Bestrafe sie! Töte sie! Töte sie … töte sie … töte sie …!«

Rachel stieß gegen einen dicken Mann, der nicht aus dem Weg gehen wollte. Er schüttelte die Faust und rief: »Gib sie uns. Wir kümmern uns schon um sie!«

Rachel versuchte, sich an dem Mann vorbeizuschieben, und er hielt mit seinem Geschrei inne und starrte sie an. »Warum so eilig?« fragte er. »Die Zeremonie ist noch nicht vorbei.«

»Meinem kleinen Mädchen ist übel«, flüsterte Rachel flehend. »Sie muß an die frische Luft, bevor sie …«

»Für meinen Geschmack sieht sie nicht krank aus.« Er blickte Sybil stirnrunzelnd an. »Ist dir schlecht, Kind?«

»Ja, Herr.«

»Ich glaube, du tust nur so. Ihr Kinder seid doch alle gleich. Ihr seid ein bißchen müde von Stehen und wollt nach Hause. Aber zu deinem eigenen Besten mußt du den Mashiah anhören. Verstanden, Mädchen?«

»Gehen Sie aus dem Weg!« befahl Rachel und schlug mit der Faust gegen seine Brust. »Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gebeten, wie ich mein Kind erziehen soll!«

»Irgend jemand muß das ja mal tun!«

»Gehen Sie aus dem Weg, bevor ich …«

Die erste Explosion erschütterte den Tempel und ein Grollen, als würde der Boden aufreißen, schüttelte sie durch. Die Glaskuppel zerbarst, Splitter stiegen hoch in den schieferblauen Himmel empor, wo sie für einen Moment wie Sterne schwebten, bevor sie wieder herabstürzten.

Angstgebrüll erfüllte den Tempel. Und die Menschen rannten.

»Panik, Mommy!« schrie Sybil. »Komm, mach schnell!«

Rachel packte die Hand ihrer Tochter und versuchte, sich durch die heranstürmende Menge verängstigter Menschen in Richtung Tür zu drängen. Doch sie wurde zurückgestoßen und gegen die Wand gedrückt, wo sie zu Boden stürzte.

»Mom!« schluchzte Sybil, als die zweite Explosion die gegenüberliegende Wand zerstörte. Sie brach in sich zusammen und begrub Menschen und Gestühl unter ihrem Gewicht. Schmerzensschreie hallten durch das wankende Gebäude.

Rachel zog Sybil an die Brust, um sie vor den Armen und Beinen der Menschen zu schützen, die auf die Türen zurannten. Flammen loderten auf, verschlangen die Stuhlreihen und strebten dem Altar zu.

»Adom?« hörte sie Ornias schreien. »Beeil dich, wir müssen hier raus! Adom!«

Rachel warf einen Blick auf das bleiche Gesicht des Mashiah. Er stand wie eine Statue am Altar, die Augen noch immer fest auf sie gerichtet.

»Sag mir, warum!« rief er abermals.

Rachel kämpfte gegen den Magnetismus seiner verletzlichen Augen an und schrie: »Du hast mein Volk abgeschlachtet!«

Er blinzelte und sein Gesicht wurde schlaff. »Was?«

»Adom! Um Gottes willen!« schrie Ornias in höchster Lautstärke, packte den Mashiah am Ärmel und zerrte ihn vom Altar fort. »Sie versucht uns zu töten!«

Adom schüttelte die Hand des Ratsherrn ab und bewegte sich auf die Seitentür zu.

Rachel kam auf die Füße und rannte stolpernd über zerschmettertes Gestühl und geborstene Steine, um nach draußen zu gelangen. Gottesdienstbesucher standen wie betäubt in der Nachtluft, während die Flammen der Zerstörung sich auf ihren schreckerfüllten Gesichtern widerspiegelten. Als der kalte Wind Rachel traf, atmete sie tief ein, setzte Sybil auf ihre Hüfte und rannte die steile Straße hinauf.

Eine Gruppe verängstigter Frauen und Kinder kam ihr entgegen. Tränen liefen ihnen über die Wangen. »Das waren diese schmutzigen Rebellen«, jammerte eine der Frauen. »Das weiß ich genau! Ich hoffe, Milcom vertilgt sie vom Antlitz der Erde!«

Wut ballte sich in Rachels Brust zusammen. Bekümmerte es denn niemanden von ihnen, daß erst vor ein paar Tagen Tausende ihrer Verwandten brutal ermordet worden waren? Als sie den Hügelkamm erreichte und um die Ecke biegen wollte, hörte sie einen heiseren Schrei, der sogar das Grollen der letzten Explosion übertönte. Er schien von überall und nirgends zu kommen. Sie wirbelte herum und ihr Herz hörte beinahe zu schlagen auf.

Unten auf dem Tempelgelände stand Colin, umgeben von einem Ring heulender Gottesdienstbesucher. Ornias, dessen rosafarbene Robe im Schein des Feuers karmesinrot wirkte, rief Befehle, die Rachel nicht hören konnte, deren Sinn ihr aber sogleich klar wurde, als ein junger Mann einen Knüppel aufhob und Colin damit brutal auf den Kopf schlug. Er fiel auf die Knie und bedeckte seinen blutigen Schädel mit den Armen.

Adom! Wo war Adom? Vergeblich suchte sie die Menge nach ihm ab. War er beim Einsturz der letzten Wände umgekommen? Still betete sie, daß es so sein möge. Und Talo? War er entkommen?

Rachel sah Colin ausgestreckt auf dem Boden liegen. Die Menge stürzte sich auf ihn und er verschwand aus ihrem Blickfeld. Dann wandte Ornias sich plötzlich in ihre Richtung und streckte den Arm aus. »Da! Dort ist die Schuldige. Rachel Eloel ist verantwortlich für diese Zerstörung!«

Gesichter wandten sich ihr zu, und die wütende Menge sammelte sich vor ihren Augen, schnappte sich Steine und Stöcke und stürmte fluchend die Straße hinauf.

»Mommy! Komm schnell!« kreischte Sybil und zog mit aller Kraft an Rachels Hand. »Wir müssen zu der alten, abgebrannten Bäckerei, Mommy! Beeil dich!«

Rachel packte Sybils Hand, und sie rannten durch die Straßen davon.