PROLOG
Jeremiel Baruch fuhr sich mit der Hand durch sein schweißnasses blondes Haar und lehnte sich müde in den blauen Sessel zurück. Die Brücke des Schiffs erstreckte sich in einem weißen Oval um ihn herum; Fenster unterbrachen die Kuppelwände. Drei Reihen von Computermonitoren auf der Konsole vor ihm gaben Informationen in unterschiedlichen Farben wieder. Rudy Kopal, sein Stellvertreter, steuerte das Schiff. Er war ein mittelgroßer Mann mit braunem, gelocktem Haar, grauen Augen, einer geraden Nase und vollen Lippen. Er blickte immer wieder zu Baruch hinüber, wobei seine Augen gleichzeitig prüfend und besorgt wirkten.
»Um Gottes willen, Jeremiel, das ist Selbstmord, und das weißt du«, sagte Rudy in seiner sanften, gedehnten Sprechweise, die verriet, daß er auf dem Planeten New Savannah aufgewachsen war.
»Mag sein.«
»Was soll das heißen, ›mag sein‹? Ein durchgedrehter religiöser Fanatiker zitiert dich durch die halbe Galaxis herbei – zudem ein Verrückter, den du nicht einmal kennst! –, und du saust tatsächlich los?« Er schüttelte den Kopf. »Vor drei Monaten wärst du so ein Risiko noch nicht eingegangen. Da hättest du die Sache auf jede erdenkliche Weise überprüft …«
»Das werde ich tun, sobald du mich über Kayan abgesetzt hast.«
»Aber dann, mein Freund, werde ich schon längst fort sein. Was ist, wenn es sich um eine Falle handelt?«
»Ich bin früher schon in Fallen gelaufen.«
»Sicher, und ich war da, um dich herauszuholen. Ich und rund fünfzigtausend Soldaten mit Kriegsschiffen. Das hier sieht ein wenig anders aus. Ein wenig bedrohlicher, wenn du weißt, was ich meine.«
»Das spielt keine Rolle.«
Rudy senkte den Kopf, und seine Nasenflügel blähten sich. Jeremiel betrachtete ihn mit gleichgültiger Ruhe. Er fühlte nichts als eine erschreckende Leere. Von Tag zu Tag wurde es schwerer, sich an dem Rand des Abgrunds, der sich in seinem Geist aufgetan hatte, entlang zu bewegen, ohne hinabzustürzen. Ein verborgener Teil seiner Seele verlangte danach, sich in dieser dunklen Grube in seinem Innern zu verlieren. Zumindest hätte die Qual dann ein Ende.
»Es spielt keine Rolle, um Himmels willen. Es spielt keine Rolle!« Rudy stieß hart gegen Jeremiels Schulter, als er seinen Sessel drehte, um ihm direkt in die Augen blicken zu können. »Glaubst du, Syene wäre die einzige, die dich braucht?« Er deutete mit dem Finger auf eines der Fenster, hinter dem die Sterne auftauchten, als sie nach dem Lichtsprung in den Normalraum zurückgekehrt waren. »Es gibt noch eine Million Gamanten in dieser Galaxis, und alle sind krank vor Angst wegen der Galaktischen Magistraten. Du bist der einzige, der zu ihrem Schutz kämpft. Du …«
»Du bist als Kommandant genauso gut wie ich, Rudy. Wahrscheinlich sogar besser. Du wirst mit allem fertig, was kommt.« Bei der Erwähnung von Syenes Namen hatten sich seine Bauchmuskeln zusammengekrampft, und der plötzliche Schmerz drohte, ihn zu ersticken. Syene … was habe ich dir getan?
Rudy stieß ein resigniertes Seufzen aus und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. Seine Augen wirkten hart und glänzend wie Stein. »Ich weiß, daß du verletzt worden bist, Jeremiel. Jeder weiß das. Aber du kannst dir nicht den Luxus leisten, dich ein Jahr lang deinem Schmerz hinzugeben. Wenn du nicht psychisch und physisch in Bestform bist, wird die ganze Untergrundbewegung wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Und du weißt, was das bedeutet. Kultur und Religion der Gamanten, alles, was uns heilig ist, gehen verloren.«
»Ich brauche eine Pause. Nur ein paar Monate.«
»Du hast bereits zwei Monate gehabt. Bist du sicher, daß zwei weitere Monate reichen, dich wieder in Form zu bringen?«
»Rudy, ich …«
»Verdammt noch mal, Jeremiel!« Er sprang auf und marschierte wütend in der kleinen Kanzel auf und ab. Sein schwarzer Sprunganzug raschelte in der plötzlichen Stille. »Ich verstehe, daß du eine Ruhepause brauchst. Und, bei Gott, ich würde dich an jeden Ort der Galaxis bringen, den du dir aussuchst. Wenn du mich darum bittest, würde ich dir den Rücken bis zum Jüngsten Tag freihalten. Aber dieser Wahnsinn wegen Horeb…« Er wandte sich abrupt um. »Warum darf ich dich nicht woanders hinbringen? Erinnerst du dich an dieses hübsche kleine Versteck auf Vensyl? Kneipen mit Kerzenlicht und Berge so hoch, daß man glaubt, sie durchbohren die Wolken? Dort würden sie uns niemals finden. Ich schicke eine Nachricht an Merle Wells, daß wir für zwei Monate fort sind. Sie kann mit jedem Problem fertig werden, das …«
Jeremiel schüttelte müde den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht, zum Teufel? Sie ist ein verdammt guter Commander.«
»Horeb leidet unter einem gewaltsamen Umsturz. Gamanten töten Gamanten. Die Wüstenväter haben mich um Hilfe gebeten. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Wenn ich ihnen nicht helfe, wer dann? Außerdem wird mir die Veränderung guttun. Ich muß nicht mehr ständig die gleichen Korridore anstarren, durch die Sy …« Sein Herz pochte laut. » … durch die wir immer gemeinsam gingen. Es wird mir Zeit geben, um …«
»Dann laß mich mit nach Horeb gehen. Du brauchst mich! Deine Begabung für Strategie und Taktik ist praktisch nicht mehr vorhanden, und das weißt du verdammt gut. Davon abgesehen wirst du jemanden brauchen, auf den du dich verlassen kannst. Du hast genug Verrat …«
»Ich will nicht!« brüllte Jeremiel und beugte sich drohend vor, während der Abgrund in ihm sich weiter öffnete und ihn zu verschlucken drohte. Dannon, der Betrüger … denk nicht an ihn! »Ich will nicht darüber sprechen, Rudy. Laß es gut sein.«
Kopal rieb sich die Stirn. »Na schön. Aber eines Tages, und zwar schon sehr bald, wirst du darüber reden müssen. Und wirst du dich dann nicht viel besser fühlen, wenn du mich in der Nähe hast, um darüber zu sprechen? Mich, der Syene ebenfalls kannte und liebte?« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Hör doch, ich kann dir helfen, Schlachtpläne zu entwerfen und die Truppen auf Horeb auszubilden. Und ich kann …«
»Rudy«, stöhnte Jeremiel und versuchte, die Verzweiflung zu unterdrücken, die in ihm hochstieg. »Ich … ich will nur …« Er sah, wie Kopal sich aufrichtete und unwillkürlich die Fäuste ballte. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Du bist wirklich mein bester Freund. Aber ich muß allein gehen. Die Wüstenväter haben es so verlangt und es gibt keinen Grund, ihnen das abzuschlagen.«
»Keinen Grund? Keinen Grund, außer daß es verdammt einfach wäre, einen Hinterhalt für einen einzelnen Mann zu legen. Glaubst du, die Milliarde, die die Magistraten auf deinen Kopf ausgesetzt haben, wären kein Anreiz? Die halbe Galaxis würde versuchen, ihnen an deiner Stelle den eigenen Bruder anzudrehen. Jeder würde alles tun, um die Chance zu erhalten, an ein solches Vermögen zu kommen.«
Jeremiel lächelte. »Zuerst muß ich Zadok Bericht erstatten. Und wenn es außer dir jemanden gibt, dem ich absolut vertraue, dann Zadok. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß er nur das Beste für die gamantische Zivilisation im Sinn hat. Und wenn auch nur der geringste Verdacht wegen dieser Geschichte auf Horeb besteht, wird er davon wissen.«
»Und dann?«
»Was meinst du?«
Rudy breitete gereizt die Arme aus. »Falls sich herausstellt, daß die Wüstenväter dich reingelegt haben, was ist dann aus dir geworden? Du sitzt gefangen auf Kayan, mitten zwischen sechs militärischen Stützpunkten der Magistraten mit ein paar tausend Soldaten. Und ich bin dann schon längst wieder fort! Du weißt, daß ich mich in einem so gefährlichen Raumgebiet nicht lange aufhalten kann.«
»Nein, das kannst du nicht.« Jeremiel schloß die Augen und rieb sich den Nacken. Rudy hatte natürlich recht. Doch irgendwo tief in seinem Innern wollte es ihm einfach nicht so erscheinen, als würde das eine Rolle spielen. Der Tod mochte hinter der nächsten Ecke lauern, und er scherte sich einfach nicht darum. Nichts im ganzen Universum war ihm noch wichtig. Nichts außer einem fatalen Fehler, den er gemacht hatte, und dem schwarzen Abgrund, der in seinem Innern heranwuchs, um sein ganzes Leben zu verschlingen.
»Und was ist mit Tahn?« fragte Rudy verdrossen. »Er wartet noch immer dort draußen. Wenn er Wind davon bekommt, wohin du gegangen bist, stürzt er sich mit seinen Männern auf dich wie Enten auf den Maikäfer.«
Ein Schauer lief Jeremiels Wirbelsäule entlang. Tahn war der brillanteste Kommandeur des magistratischen Militärs. Im letzten Jahr war es ihm sechsmal fast gelungen, die Untergrund-Flotte einzukreisen. Nur die verzweifelten Aktionen Jeremiels hatten sie retten können. Doch falls sich nicht weitere Truppen und Schiffe der Sache der Gamanten anschlossen, dann würde der Tag kommen, an dem Tahn den Sieg errang. »Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, findet man mich nicht so leicht, als wenn mich zehn Schlachtkreuzer begleiten.«
»Sei dir da nicht so sicher. Im All kannst du dich schneller fortbewegen als durch einen Wald.«
»Horeb ist eine Wüste.«
»Na schön … dann eben durch Sanddünen. Es geht mir darum …«
»Ich habe schon verstanden, um was es dir geht.«
Rudy hieb mit der Faust gegen die Kanzelwand. Dem Schlag folgte ein unheilverkündendes Dröhnen. »Hast du das wirklich? Ich werde dich nicht allein lassen, Jeremiel. Nur darum geht es mir. Du darfst dich nicht selbst als Opfer anbieten …«
»Ich opfere mich nicht. Und du wirst gehen! Und wenn das der letzte Befehl ist, dem du gehorchst! Du gehst nach …«
»Ach, verdammt!« Rudy schloß die Augen und richtete das Gesicht in einer Geste der Verzweiflung zur Decke. Schweiß glänzte auf seiner olivfarbenen Haut und benetzte die Spitzen der Haare, die an seiner Stirn klebten. Vor dem Hintergrund der weißen Wand sah er wie der gepeinigte Heiland aus.
Jeremiel ließ das Kinn auf die Brust sinken und stieß einen erschöpften Seufzer aus. »Ich werde dich rufen, wenn ich dich brauche.«
»Sicher. Natürlich wirst du das tun. Wenn du kannst. Und was ist, wenn ich und alle deine Streitkräfte irgendwo bei Giclas oder Pitbon eingeschlossen sind und vielleicht monatelang nicht zu dir durchkommen können?«
Jeremiel machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann werde ich mich so gut wie möglich durchschlagen. Es gibt immer einen Ort, an dem man sich verstecken kann. Ich werde …«
»Du wirst was?« fragte Rudy. »Dich in irgendeiner Höhle verkriechen und zu Gott beten, daß dich niemand erkennt, wenn du herauskommen mußt, um dir Vorräte zu besorgen? Ein schnelles Schiff stehlen und Hals über Kopf zum Lysomia-System fliegen, wo du Freunde hast, und dir dann ständig Sorgen machen, die Magistraten könnten dich finden, wodurch du jedermann dort in Gefahr bringst?«
»Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.«
Rudy beugte sich vor, stützte sich auf Jeremiels Armlehnen und blickte ihm direkt in die Augen. Jeremiel begegnete dieser Herausforderung mit Gleichmut. Er fühlte sich eher als Beobachter denn als Teilnehmer ihrer Auseinandersetzung. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann wurde Rudys Blick sanfter, und der Ausdruck in seinen Augen wechselte von Ärger zu ernster Besorgnis. Er richtete sich auf, ging zu einem der Fenster und schaute zu den Sternen hinaus. Kayan tauchte vor ihnen auf, eine großartige, üppig blaugrüne, mit Wolkenstreifen besetzte Welt. »Ich kämpfe auf verlorenem Posten, nicht wahr?«
»Aber du machst das sehr gut.«
Rudy wandte sich um und lächelte matt. Er deutete streng mit dem Finger auf Jeremiel, doch seine Stimme klang sanft, fast liebevoll. »Wenn du dich umbringen läßt, zwingst du mich, den halben Sektor in die Luft zu jagen, um den Schuldigen zu finden. Erinnere dich bitte daran, ja?«
»Mach’ ich.«
Für einen Augenblick schauten sich die beiden in einer Art wortloser, freundschaftlicher Kommunikation an; dann durchquerte Rudy schnell den Raum, packte Jeremiel grob am Arm und zog ihn aus dem Sitz. Er betrachtete ihn grimmig und umarmte ihn dann so fest, daß er Jeremiel dabei die Luft aus den Lungen preßte.
»Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst, um dich selbst zu heilen. Dann ruf mich, und ich werde angestürmt kommen.«
Jeremiel drückte den Freund an sich. »Nur ein paar Monate, Rudy. Mehr brauche ich nicht.«