KAPITEL
4

 

 

Nebel wogte in deutlich sichtbaren Wellen die baumbestandenen Hänge von Kayan herab und hinterließ an den erbsengroßen grünen Trieben Tropfen, die wie Brillanten funkelten. Dunkle Wolken ballten sich am Horizont und überschatteten die gezackten Bergspitzen. Die kühle Luft war vom Geruch nach Erde und Kiefern erfüllt.

Zadok zwängte sich durch das Unterholz. Sein Herz pochte laut. Die braunwollene Robe klebte feucht an seinem Körper und behinderte ihn beim Gehen, doch er zwang seine alten Beine unerbittlich vorwärts.

»Wo bist du, Tochter? Ezarin?« Das gesamte Dorf hatte sich der Suche angeschlossen, und überall um ihn herum bewegten sich Menschen auf den Hängen.

»Zadok?« Rathanials Stimme drang irgendwo seitlich hinter den Bäumen hervor.

»Hier drüben!«

»Macus meint, er hätte irgendwas gefunden.«

»Wo?«

»Auf der Wiese vor uns.«

»Bin schon unterwegs!«

Zadok schob die Ranken eines Brombeerbusches beiseite und arbeitete sich in Richtung Wiese vor. Es schien ewig zu dauern, sich durch das dornige Buschwerk zu winden. Mit einem großen Schritt überwand er einen verrottenden Ast und stolperte auf die Wiese hinaus. Nebelfetzen schienen sich an den Baumwipfeln festzuklammern. Menschen suchten Schutz vor der Kälte und drängten sich auf dem dicken, nassen Gras in Gruppen zusammen. Aller Augen waren auf Zadok gerichtet, und die Erkenntnis, die seit zwanzig Stunden in seiner Brust wuchs, wurde nun zur Gewißheit. Zu einer schrecklichen Gewißheit. Dennoch zwang er sich zu der Frage: »Was habt ihr gefunden?«

Macus senkte den Blick und schaute zu Boden, doch Zadok hatte schon die Tränen gesehen, die in seinen Augen schimmerten. Der über hundert Jahre alte rothaarige Mann war gemeinsam mit Ezarin aufgewachsen, und die beiden hatten wohl ein Dutzend Jahre lang zusammen gespielt. Sie waren einander so nah gewesen wie Brüder. Zadoks Herz klopfte so heftig, daß er fürchtete, es würde ihm die Brust zersprengen.

»Was ist los?« fragte er, doch seine Stimme klang schwach, beinahe klagend.

Bevor er die Frage wiederholen konnte, bahnte sich Rathanial einen Weg durch die Menge und eilte zu ihm. Mit seiner silberglänzenden Robe und dem sorgfältig geschnittenen Haar sah er wie ein eleganter Todesengel aus. Flüstern erfüllte die Wiese.

Rathanial trat Zadok in den Weg. »Abba, es ist vielleicht keine gute Idee, wenn …«

»Sag es mir.« Er schaute fest in die schmerzerfüllten Augen des Mannes. »Sag’s mir!«

»Es ist nur … Du solltest dir diesen Anblick ersparen. Ich werde mich um alles kümmern.«

»Wenn du mir nichts sagen willst, dann geh aus dem Weg, du Gimpel!«

Zadok stieß ihn beiseite und zwang sich trotz seiner zitternden Knie, zu Macus hinüber zu gehen. Als er näherkam, wich die Menge zurück und gab den Blick auf einen schmalen Pfad frei, über den vom Regen verdünntes Blut herabrann. Zadoks Schritt stockte. Die Menschen traten unbehaglich vom einem Fuß auf den anderen; manche schüttelten ungläubig den Kopf oder zeigten schmerzerfüllte und furchtsame Mienen. Zadok ballte die Fäuste.

»Ich wußte es«, murmelte er immer wieder.

»Großvater«, rief Mikael, »das ist nicht Tante Ezarin. Ich weiß, daß sie es nicht ist. Sie hat niemals so einen Ring getragen …«

»Pst.« Ein Ring? Ihren Jekutiel-Ring? Sie trug ihn immer nur während des Festes. Mikael mußte das entgangen sein. Zadok machte langsam ein paar Schritte vorwärts, strich das nasse glatte Haar des Jungen zurück und beugte sich dann vor, um seine Stirn zu küssen. Sein Enkelsohn blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und klammert sich dabei an das Bein seiner Mutter. Sarah stand wie versteinert da, die Augen flehentlich auf Zadok gerichtet. Der Sturm hatte ihr langes Haar zerzaust und in eine strähnige schwarze Masse verwandelt, die an ihrem Gesicht klebte.

»Papa …?«

Er legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter und lächelte schwach. »Ich weiß. Ich habe es schon seit Stunden befürchtet. Und ich hätte es schon viel früher wissen müssen.«

»Was meinst du damit?«

Zadok erwiderte ihren Blick und erkannte die aufkeimende Panik darin. Er streckte die Hand aus, wischte die Regentropfen aus ihrem Gesicht und tätschelte ihr sanft die Wange. »Laß uns morgen darüber reden, hm?«

»Du glaubst doch nicht, daß die Magistraten …?«

»Später«, sagte Zadok finster. Er hatte die Furcht bemerkt, die in den Augen der Umstehenden aufglomm. Leises Gemurmel setzte ein. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde schon einen Weg finden, um sie zu beruhigen.«

Er wandte sich ab und ging auf das Gestrüpp zu, um die Stelle zu untersuchen, von der das Blut kam. Es war keine Leiche, nur ein Arm. Ein Frauenarm, an der Schulter abgerissen und achtlos ins Unterholz geworfen. Zadok unterdrückte den Brechreiz, der in ihm aufstieg.

»Beeilt euch«, sagte er und wies auf den Wald. »Wir müssen sie finden. Vielleicht ist sie noch …«

»Verteilt euch«, befahl Rathanial. »Geht!«

Die Menschen eilten davon und knickten in ihrer Hast Äste und Zweige. Der kalte Wind trug Mikaels unterdrücktes Schluchzen davon. Zadok stand still da und blickte abwesend auf die hohen Kiefern, die die Hänge bedeckten. Die höchsten Bäume oben auf den Bergen schwankten heftig im Wind.

»Du auch, Rathanial. Geh.«

»Bist du sicher, daß du …«

»Ja.«

Der weißhaarige Mann nickte in stummer Verzweiflung und stapfte durch das Unterholz davon. Zadok holte tief Luft und bückte sich, um den Ring zu nehmen. Er war sechshundert Jahre alt und hatte einst seiner Großmutter gehört. Es war ein geheiligtes Geschenk von einem der Zaddiks, der heiligen Männer, auf der alten Erde gewesen. Die Saphire und Smaragde, die ein Dreieck innerhalb eines Dreiecks bildeten, funkelten im schwachen Licht des bewölkten Tages.

Er berührte das noch warme Fleisch seiner Tochter und zuckte unwillkürlich zurück. Sie konnte nicht länger als eine Stunde tot sein. Er fühle sich plötzlich schwach und wie betäubt. Sein Herz zu sehr von Schmerz erfüllt, um ihm Tränen zu erlauben. Erinnerungen stiegen wie eine aufgeschreckte Schar Vögel in ihm auf und verdunkelten den Himmel seiner Seele. Er erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam mit Ezarins Puppen gespielt hatten, als sie fünf war, und wie ihre siebzehnjährige dünne Stimme schrill in seinen Ohren geklungen hatte, als er sie die alten Lieder gelehrt hatte. Und er erinnerte sich daran, wie er sie im Arm gehalten hatte, wenn sie nachts aus einem Alptraum hochgeschreckt war. Sie hatte ihr Leben lang so viele schlechte Träume gehabt. Eine Vorahnung? »Ezarin. Meine Ezarin.«

Er zwang sich, abermals die Hand auszustrecken, zog den Ring sanft von ihrem Finger und ließ ihn in die Tasche seiner Robe gleiten.

»Wer kann so etwas tun?« Mit zitternden Fingern streichelte er ein letztes Mal zärtlich ihren Arm. »Du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe. Epagael wird dich aufnehmen, bis auch ich nach Arabot komme.«

Rufe drangen aus dem vor ihm liegenden Waldstück und hallten von den umliegenden Hängen wider. Zadok richtete sich müde auf und schaute hinauf zu den schwarzen Wolken über den Bergspitzen. Kalter Nebel schlug sich auf seinem Gesicht nieder.

»Gott?«

Fernes Donnergrollen antwortete ihm.

»Bin ich es? Habe ich dich verärgert?«

Wieder drang ein Ruf aus dem Wald, diesmal lauter, drängender. Während Zadok durch das Gehölz stapfte, hing er düsteren Gedanken nach. O ja, es gab unendlich viele Möglichkeiten, wer der Mörder sein mochte. Das Direktorium der Galaktischen Magistraten haßte die Gamanten. Sein Volk hatte immer aus Kämpfern bestanden. Ganz gleich, wie sehr die verschiedenen galaktischen Regierungen auch bestrebt gewesen waren, die gamantische Kultur auszulöschen – das Volk war sich selbst stets treu geblieben. Und damit zwang es die Magistraten, Exempel zu statuieren, gamantische Planeten zu Schlacke zu verbrennen, die Kinder zu verschleppen und das Volk von den Handelsrouten abzuschneiden.

»Unser Ziel besteht darin, die trennenden Mauern zwischen den Kulturen niederzureißen, um auf diese Weise gesellschaftliche Mißstände zu beheben«, lautete die übliche Argumentation der magistratischen Hardliner. Gemeint war damit natürlich die Zerstörung gamantischer Religion und Lebensart.

»Narren«, murmelte Zadok. Gamanten würden niemals bereit sein, ihr Erbe aufzugeben. Doch andererseits mußte er leider zugeben, daß viele genau das im Angesicht von Hunger und Tod getan hatten. Aber das war etwas anderes, unvermeidliches.

Und es gab noch Hunderte anderer Feinde.

Eine Bewegung erregte Zadoks Aufmerksamkeit. Er wandte sich um und betrachtete prüfend das einem Irrgarten gleichende Kieferngewirr. »Macus?«

Ihm war, als hörte er den fernen Klang von Glas auf Holz, und das Geräusch kam ihm vor wie ein Echo aus seiner Seele. Dunkelheit bewegte sich durch die Bäume und warf einen langen kalten Schatten über ihn. Er schrak zusammen.

»Rathanial? Wer ist da!«

Sekunden später war ein schwerer, dumpfer Schlag zu vernehmen, und ein ferner Ruf wurde vom Wind herangetragen. Jemand schrie: »Ein Bein … lieber Gott!«

Zadok umklammerte den brauen Stoff über seinem Herzen und preßte die Augenlider fest zusammen. »Teil eines Musters«, murmelte er voller Qual. Als er dreizehn Jahre alt geworden war und die Wahrheit über den Tod seiner Mutter und seiner Großmutter erfahren hatte, war es ihm vorgekommen, als wären diese Todesfälle Teil eines schrecklichen Plans gewesen. Sein Vater hatte ihm freilich versichert, solche Überlegungen entbehrten jeder Grundlage.

»Abba?« rief Macus’ dünne Stimme. »Wir … wir haben sie gefunden.«

Zadok stand wie gelähmt da. Angesichts der schrecklichen Gewißheit stiegen die Tränen in ihm auf. Er brachte nicht die Kraft auf, weiterzugehen. Seine müden, schwachen Beine schienen mit der feuchten Erde verwurzelt zu sein.

»Großvater!«

Zadok zuckte zusammen, als er Mikaels schrille Stimme vernahm, und drehte den Kopf lauschend in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Sarahs wortlose Versuche, ihren Sohn zu trösten, verstärkten noch seine wachsende Pein. Wie konnte sie nur so ruhig klingen. Hatte sie nicht erkannt, daß sie als nächste an der Reihe war?

Zadoks Stiefel schlurften durch das regennasse Unkraut, während er den Hang hinabstolperte. Als er den Kreis betrat, den die Menschen gebildet hatten, mußte er nach Luft schnappen. Ezarins Kopf ruhte auf einem abgebrochenen Ast. Ihre Augen starrten leer in das Geflecht der Zweige empor. Ihr Torso lag ein paar Schritte weiter im Gestrüpp.

»Mein … Gott«, murmelte Rathanial und barg den Kopf in den Händen. »Sie werden uns alle töten! Erkennt ihr das nicht?« Er wandte sich zu Zadok um. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schien am Rand der Hysterie zu stehen. Regen perlte über sein faltiges Gesicht und durchtränkte das weiße Haar. »Sie sind wegen dir gekommen!«

Zadok schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wegen meiner ältesten Tochter.«

»Das ist der Anfang! Siehst du denn nicht …«

»Es hat schon vor Jahrhunderten begonnen.«

»Was?«

Dunkelheit schien aus dem Wald hervorzuspringen. Wieder bedeckte ihr Schatten Zadok und löschte den grauen Himmel aus, als sie sich tief herabbeugte, um Ezarin zu betrachten. Zadok versteifte sich; seine Augen suchten hektisch den Wald ab. Wer oder was konnte so einen Schatten werfen? Und vermochte niemand außer ihm es wahrzunehmen? Er schaute die Gruppe an, die sich um die Leiche geschart hatte, doch offenbar sah niemand etwas anderes als den grauenvollen Anblick von ihnen. Zadok trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Der würgende Schmerz in seiner Kehle kehrte wieder, als er sich erinnerte, wie sein Vater atemlos unter der gleichen lastenden Dunkelheit gelitten hatte, während er sich einen Weg durch wehklagende Verwandte bahnte, die sich um die Überreste seiner Mutter drängten. Selbst damals hatte er den Schatten sehen können. Wieder rief der kupferne Geruch des Blutes Brechreiz in ihm hervor. Das Weinen seines Bruders Yosef klang in seinen Ohren und mischte sich auf unheimliche Weise mit den Lauten, die Mikael ausstieß.

Wie besessen suchte Zadok mit seinen Blicken die Bäume und den wolkenverhangenen Himmel ab, getrieben von dem Gefühl, ein uralter Schrecken lauere abwartend nur auf Armeslänge entfernt.

»Wer bist du?« rief er in den Nebel.

Die Menschen um ihn herum bewegten sich unbehaglich und versuchten, seinen Blicken zu folgen. Leises Raunen furchterfüllter Stimmen drang durch den nassen Wald. »Er ist krank vor Kummer. Kein Wunder …« – »Man kann kaum erwarten, daß jemand es ohne Schaden übersteht, wenn so etwas geschieht!«

»Wer, Papa?«

»Ich kann nicht …« Dann war es vorbei. Zadoks Stimme verklang.

»Abba?« sagte Rathanial heiser. »Wir sollten … sie … schnell von hier fortbringen. Und dann müssen wir reden. Der Mashiah ist diesmal zu weit gegangen.«

»Der Mashiah?«

»Ja! Das ist eindeutig seine Handschrift. Genau wie bei der Dürre.«

»Laß uns später darüber sprechen.« Zadok hob schweigengebietend die Hand. Er war innerlich viel zu aufgewühlt. Langsam trat er vor, hob vorsichtig Ezarins Kopf auf und barg ihn in seinen Armen, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein Kind war. Ein zärtliches Schlaflied kam ihm in den Sinn, und er sang es mit brüchiger Stimme, während er das lange schwarze Haar streichelte, das wie ein Schleier über dem blutbefleckten Gesicht seines ältesten Kindes lag.

»Papa«, flüsterte Sarah und streckte ihre zitternden Hände aus. »Soll ich? Du mußt das nicht tun.«

»Nein … es ist ja das letzte Mal.«

Er ging langsam den nassen Hang hinab, vorbei an umgestürzten Bäumen und wilden Rosensträuchern. Die anderen folgten ihm in einer Reihe, und Bruchstücke ihres Trauergesangs hallten schaurig von den Felswänden wider. Als sie die Höhlen erreichten, hing die Sonne wie ein karmesinroter Ball über den Bergspitzen, und das Licht der Abenddämmerung verweilte zögernd auf den Klüften und Spalten der Klippen.

 

Ornias ging gemächlich zur Feuerstelle seines Schlafraums hinüber und lauschte dabei dem Wind, der draußen in der Nacht mit sich selbst Fangen spielte und durch die Ritzen neben den Fenstern pfiff. Das Feuer im steinernen Kamin knisterte und prasselte und warf unheimlich flackerndes Licht über die Rundbögen in den Wänden und die gewölbte Decke.

»Ist das alles, Ratsherr?« erkundigte sich Shassy und blickte verlangend zur Tür hinüber. Sie wollte gehen, und zwar so schnell wie möglich.

Ornias, der ein Glas mit feinem kayanischem Sherry in der Hand hielt und es sanft schwenkte, betrachtete sie bewundernd. Sie war eine schöne schwarze Frau mit hohen Wangenknochen und einer Adlernase. Ihr schmalen Lippen preßten sich verächtlich zusammen, als sie seinen Blick bemerkte.

»Können wir uns nicht noch ein Weilchen unterhalten?«

»Ich muß jetzt wirklich gehen.« Der seidige Stoff ihrer grünen Robe schimmerte im goldenen Licht der Flammen, als sie sein Eßgeschirr zusammenräumte. Glas klirrte gegen Metall, während sich die Stille dehnte. Shassy war eine großgewachsene Frau mit einem geschmeidigen Körper und vollen Brüsten. Dicke schwarze Locken fielen auf ihre Schultern herab. Doch am meisten faszinierten ihn ihre Augen, die ihn anzogen wie ein verwundetes Kaninchen den Wolf. Schwarz wie die Nacht waren diese Augen, und Haß auf ihn und Furcht loderten darin. Jetzt allerdings, da sie steif und hoch aufgerichtet neben seinem Bett stand, schien sie Trotz auszustrahlen. Er lächelte, denn er fand diese Haltung gleichermaßen verlockend wie amüsant.

»Du hast gesagt, deiner Meinung nach würden die Rebellen zurückschlagen. Wie kommst du darauf?«

»Ich habe das nicht gesagt, Ratsherr«, erklärte sie abwehrend und wich seinem Blick aus.

»Du hast gesagt: ›Sie haben das Recht, sich selbst zu schützen.‹ Hast du damit eine Rebellion gemeint?«

»Nein.«

»Also gut. Was hatte es dann zu bedeuten?« drängte er. Ihm war bewußt, daß sie es verabscheute, mit ihm zu reden – und genau deshalb genoß er die Situation um so mehr. Er lehnte sich an den Kamin und nippte an seinem Sherry.

»Ich … ich wollte damit nur ausdrücken, daß es zur menschlichen Natur gehört, angesichts einer Bedrohung zusammenzuströmen.«

»Aha. Und du glaubst, sie sammeln sich, um uns anzugreifen. Nun ja, ich würde das auch nicht in Zweifel ziehen. Sie haben einen bemerkenswerten Hang zu selbstmörderischen Aktionen. Ich hoffe nur, sie …«

»Selbstmörderisch?« fragte sie ungläubig. Ihr hübsches Gesicht wurde hart, und sie knallte ein halbvolles Weinglas auf das Tablett. »Sie sind verzweifelt. Sie haben ihnen diesmal einen derart harten Schlaf versetzt, daß sie es einfach nicht glauben können. Und jene, die die Wahrheit begriffen haben, fürchten sich vor dem, was als nächstes kommen mag.«

»Ich hoffe wirklich, daß du recht hast. Vielleicht beugen sie sich dann und akzeptieren ihr Schicksal als Bürger unter Milcoms Herrschaft.«

»Das werden sie niemals akzeptieren! Ihr Leben lang ist Epagael der Mittelpunkt ihres Glaubens gewesen. Sie können nicht erwarten, daß sie ihn nach nur drei Jahren aufgeben.«

Er lachte leise und betrachtete die bernsteinfarbenen Wellen, die sich in seinem Glas bildeten, als er den Sherry schwenkte. »Ich erwarte das nicht nur, ich verlange es sogar.«

»Und was verlangt der Mashiah?«

Ornias blinzelte nachdenklich. Ihr hochnäsiger Tonfall verärgerte ihn. Und nicht nur das – über Adom zu diskutieren, verursachte ihm regelmäßig Bauchschmerzen. »Er verlangt, was immer ich ihm auftrage.«

»Wo ist er jetzt?«

Ornias schaute quer durch den Raum zu ihr hinüber und bemerkte, daß ihre Schultern sich strafften und ihr schönes Gesicht voller Hoffnung aufleuchtete. Vor dem Hintergrund der grauen Steinmauer sah sie wie eine stolze schwarze Göttin aus. »Spielt das eine Rolle? Er ist ein schwacher Mensch, Shassy. Ich versichere dir, Adom könnte sich kaum weniger darum sorgen, wie ich die Dinge auf Horeb handhabe. Dachtest du etwa, er könnte befehlen, die Rebellen zu verschonen?«

»Ich habe ihn seit ein paar Tagen nicht gesehen und mich gefragt, wo er steckt. Das ist alles.« Sie blickte zu Boden. All ihre Hoffnung war geschwunden.

»Adom ist indisponiert, und das wird sich wohl auch für eine weitere Woche nicht ändern, fürchte ich. Milcom hat sich plötzlich bei ihm gemeldet.« Er warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Adom – was für ein Fang.

»Sie machen Scherze über seinen Gott?«

»Scherze? Nein. Ich nehme Milcom durchaus ernst. So wie jeden Gott, der das Verhalten der Menschen beeinflußt. Der menschliche Geist ist ein wirklich bemerkenswert formbares Ding. Man zeigt hier eine Perspektive auf, verdreht dort einen Arm, und schon kann man ein ganzes Imperium auf der Basis des richtigen Gottes erbauen. Die Geschichte beweist das, und ich bin ein sehr eifriger Student der Geschichte.«

»Dann glauben Sie nicht an Milcom?«

»Ich glaube an Milcoms Macht. Und ich bin zutiefst dankbar für das, was sie für mich getan hat.« Er deutete auf die prächtige, mit Samt und Satin ausstaffierte Schlafkammer, und ließ dann seinen Blick über ihre Robe wandern, die eng an ihrem flachen Bauch anlag und ihre schwellenden Brüste betonte. Ja, sie hatte verstanden. Das erkannte er an der Art, wie sie plötzlich zu Boden schaute. Shassy war genauso eine Beute seiner ständig wachsenden Macht wie die anderen Dinge in seinem Herrschaftsbereich.

»Das ist blasphemisch.«

»Ja, das stimmt.«

»Ich hoffe, Gott wird Sie dafür töten.«

Er nahm einen tiefen Zug Sherry und betrachtete sie dabei über den Rand des geschliffenen Glases. »Und für eine Menge anderer Dinge, könnte ich mir vorstellen. Nun ja, ich habe allerdings ernsthafte Zweifel, daß so etwas passieren könnte. Setz also lieber nicht allzuviel Hoffnung darauf.«

»Hoffnung ist alles, was mir geblieben ist.«

»Oh, Shassy«, sagte er tadelnd. Er trank seinen Sherry aus, stellte das Glas auf dem Kaminsims ab und warf ihr einen schiefen Blick zu. »Von allen Menschen verstehst du doch am besten, was ich meine. Gib es zu, du wärst froh, meine Macht zu haben. Dann könntest du genug Geld auftreiben, um zu bestechen, wen immer du willst. Und dein Ehemann hätte es nicht nötig, dich zu verkaufen …«

»Ich … wir würden Macht niemals so benutzen wie Sie. Nicht um Menschen zu quälen und auszuhungern. Wir würden sie für gute Zwecke einsetzen.« Sie wandte sich von ihm ab und starrte auf das mit elegantem rotem Samt und perlfarbenem Satin bedeckte Bett.

Er lachte kurz auf. »Sieh mich an, Shassy.«

Als sie sich weigerte, keimte Ärger in ihm auf. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Raum, legte eine Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf, bis er ihr ins Gesicht blicken konnte. Ihre dunklen Augen blitzten. »Ich kann verstehen, daß du nicht über deinen Mann sprechen willst, aber ich möchte dich an eine Sache erinnern, bevor wir diese Diskussion beenden. Ich habe ihn nicht getötet, stimmt’s? Obwohl ich das sehr leicht hätte tun können. Statt dessen habe ich einen Handel abgeschlossen. Einen recht herben, wie ich zugebe, aber einen, der nötig war, wenn ich jemals von diesem öden Felsbrocken herunterkommen will, um die Religion Milcoms zu verbreiten …«

»Seien Sie nicht so heuchlerisch!« Sie stieß seine Hand beiseite und wich mit der Geschmeidigkeit einer Tigerin ein paar Schritte zurück. Ihr Gewand glänzte im Schein des Feuers. »Sie scheren sich nicht mehr um Milcom als wir. Ihnen geht es nur um den Profit, uns hingegen um das Überleben der gamantischen Kultur. Und um das zu sicher, mußten wir uns bei dem Handel nach Ihren Wünschen richten.«

»Oh, Vorsicht«, sagte er und drohte mit dem Finger. »Ihr seid nicht am Überleben der Gamanten interessiert. Es geht euch darum, eine Reihe nutzloser Rituale und lächerlicher Glaubenssätze zu bewahren. Das ist ein großer Unterschied. Eure Rettungsversuche könnten sich als kontraproduktiv erweisen, was das Überleben betrifft.«

»Sie sind eine Bestie. Sie benutzen Hunger und Folter …«

»Hunger und Folter sind machtvolle Werkzeuge, um eine Zivilisation zu formen. Man darf ihren Wert in den richtigen Händen niemals unterschätzen. Davon abgesehen habe ich meine Strafaktionen nur zögernd und ausschließlich auf den massiven Druck der Bevölkerungsmehrheit hin durchgeführt, die die Blasphemien der Rebellen verabscheut.« Er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. »Ich beuge mich lediglich dem Willen der Herde.«

»Wie können Sie menschliches Leben nur so gering einschätzen? Haben Sie denn kein Gewissen?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden läßt. Es verdirbt einem nur den Profit.«

Ihre Naseflügel weiteten sich vor Abscheu. »Söldner!«

»Ich bin schon Schlimmeres genannt worden …«

»Das glaube ich gern.«

Ornias lachte brüllend und trat so dicht an sie heran, daß er den Blumenduft riechen konnte, der ihren Kleidern anhaftete. Zufrieden stellte er fest, daß ihre Hände plötzlich zitterten. Shassy wollte das Tablett aufnehmen, doch eines der Weingläser fiel zu Boden und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem roten Bettvorleger. Sie setzte das Tablett wieder auf dem Nachttisch ab und kniete nieder, um das Glas aufzuheben.

»Sei nicht so nervös. Du weißt doch, ich kann Schwäche nicht ausstehen. Habe ich dir je etwas angetan?«

Sie schüttelte den Kopf, richtete sich mit dem Glas in der Hand auf und stellte es auf das Tablett zurück. Die ganze Zeit mied sie seinen Blick.

»Und das werde ich auch nicht. Du bist eine wertvolle Frau.« Er strich sanft durch ihr Haar und beobachtete, wie die Locken den Feuerschein einfingen. »Shassy, ich habe dich zu meiner persönlichen Dienerin gemacht. Vergiß das nicht. Du hättest es auch sehr viel schlechter treffen können. Ich hätte dich ins Arbeitslager stecken können oder in eines der unterirdischen Gefängnisse für Mörder und Vergewaltiger. Dort würdest du genauso unter Aufsicht stehen wie hier.« Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Doch du würdest nicht annähernd so verwöhnt.«

»Verwöhnt«, stieß sie hervor und ballte die Fäuste.

»Ich behandle dich doch besser als die Rebellen, nicht wahr?«

»Ich nehme an, ich sollte dankbar dafür sein.«

»Das solltest du wirklich, zumal du und deine Familie zu den Rebellen gehören.«

Shassy spürte, wie ihre Kehle eng wurde. »Ich sollte jetzt besser gehen, Ratsherr«, erklärte sie steif und wich vor seiner Berührung zurück.

»Empfindest du noch immer Sympathie für die Rebellen?« erkundigte er sich mit spöttischer Neugier. Natürlich wußte er, daß es sich so verhielt, doch er wollte, daß sie es aussprach. »Bist du deshalb heute abend so empfindlich? Ich vermute, daß du entsprechend den politischen Vorstellungen deines Mannes …«

»Ich sympathisiere nicht mit ihnen.«

»Nein? Sehr gut. Es ist immer schön, wenn man unerwartete Züge an seinen Vertrauten entdeckt.« Wieder hob er die Hand, um ihr Haar zu streicheln. »Und du bist meine Vertraute, das weißt du doch, oder?«

»Ich bin Ihre Gefangene!«

»Ja, aber ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, um dir den Aufenthalt hier möglichst angenehm zu machen. Du hast Privilegien wie niemand anderer, nicht wahr? Wer sonst im Palast sieht mich schon so verletzlich?« Natürlich war das eine Lüge. Niemand sah ihn jemals verletzlich. Tatsächlich konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er sich zuletzt so gefühlt hatte. Vermutlich vor vier oder fünf Jahren, bevor er diese angenehme Position als Herr über alle wichtigen Dinge auf Horeb eingenommen hatte.

Shassy nahm abermals das Tablett auf, drückte es gegen ihre Brust, um es zu stabilisieren, und versuchte, sich an Ornias vorbei in Richtung Tür zu schieben. »Entschuldigen Sie bitte, Ratsherr, ich muß …«

Er verstellte ihr lächelnd den weg. »Ich glaube nicht, daß du heute nacht fort mußt, Shassy.«

»Aber ich …« Panik schwang in ihrer Stimme mit. »Der Palastbibliothekar will, daß ich …«

»Ich lasse ihn benachrichtigen, daß du nicht kommst. Er wird jemand anderen finden, der die Untersuchung alter Texte für den Mashiah fortsetzt.« Er machte eine abwertende Handbewegung. »Oder was auch immer Adom dir sonst an unnützen Spielereien aufgetragen hat, bevor er sich in seinen verdammten Gebetsraum zurückgezogen hat.«

Tränen schossen in Shassys Augen. »Nicht heute nacht, Ornias, bitte. Ich kann es nicht ertragen …«

»Jammere nicht, Shassy. Das ziemt sich nicht für eine Frau von deinem Rang. Auch wenn dieser Rang geheim sein mag.« Er nahm ihr das Tablett aus den Händen und stellte es auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er in der Bewegung inne, um an ihren Brüsten zu knabbern, während seine Hände ihre Oberschenkel liebkosten. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers versteifte sich. »Sei heute abend bitte etwas freundlicher, Liebes, ja? Es hat fast einen Monat gedauert, bis der Messerstich verheilt war, den du mir beim letzten Mal verpaßt hast. Ich habe zwar alle scharfen und schweren Gegenstände aus diesem Raum entfernt, aber es könnte dir immerhin einfallen, mich mit einem Kissen ersticken zu wollen – und darauf würde ich nicht sehr freundlich reagieren.« Er richtete sich ganz auf und blickte ihr mit einem grausamen Lächeln in die Augen. »Es wäre möglich, daß ich dir deswegen deinen süßen kleinen Hals breche.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, ließ er seine Hand über ihre mahagonifarbene Kehle gleiten.

»Töten Sie mich, und Sie verlieren alles.«

»Das stimmt. Also werde ich dich lieber nur verletzen, hm?«

Trotzig wiederholte sie: »Ich werde nicht bleiben. Sie haben kein Recht, mich dazu zu zwingen.«

»O doch, ich habe durchaus das Recht. Ich bin der Herr von Horeb, und du bist nur ein Werkzeug …«

»Der Mashiah ist der Herr von Horeb! Er herrscht, nicht Sie.«

»Sei nicht albern. Das einzige, was Adom beherrscht, sind seine Körperfunktionen … und selbst da habe ich manchmal meine Zweifel. Davon abgesehen, wo ist er denn jetzt, da all die Rebellen nach ihm rufen, hm? Er hat sich in seinem Gebetsraum eingeschlossen, um sich seinen Wahnvorstellungen vom großen und mächtigen Milcom hinzugeben.«

Shassy trat gegen das Tablett. Glas explodierte splitternd. Ornias wich zur Seite, um den Spritzern auszuweichen, und Shassy schlüpfte an ihm vorbei und rannte zur Tür.

Ornias wartete geduldig, bis sie die Tür aufgerissen hatte, und bemerkte dann beiläufig: »Ich muß nur die Wachen anweisen, dich zurückzubringen, meine Liebe. Wäre es dir lieber, wenn ich es so mache? Soll ich ihnen dafür eine Belohnung anbieten? Sagen wir, eine Stunde allein mit dir?«

Als er hörte, wie ihre Schritte verhielten, wandte er sich um und meinte mitfühlend: »Sei doch vernünftig. Wir stecken beide in dieser Sache. Mein Ziel ist untrennbar mit dem deinen verbunden. Und Freiheit hat ihren Preis.«

Sie preßte die Augenlider zusammen, und ihre Lippen zitterten, als sie den Kopf senkte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen; dann hob sie die Hand und schob die Tür ins Schloß.