39
Die Türklingel weckte ihn. Sonst hätte er vielleicht die ganze Nacht durchgeschlafen.
Es war Jacki. Er ließ sie herein. Er trug dieselbe Kleidung wie am Abend zuvor. Er hatte sich nicht gewaschen oder rasiert. Er trug bloß Socken.
»Kaffee?«, fragte er.
Sie nahm dankend an und folgte ihm den Flur entlang in die Küche. Er schaltete den Wasserkocher ein. Das Wasser begann zu brodeln.
»Ich wollte mal sehen, wie’s dir geht.«
Er zuckte mit den Schultern und dachte: Wonach sieht’s denn aus?
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Ja, heute Nachmittag«, antwortete Jacki. »Sie wird’s verkraften. Es war ein Schock. Gib ihr einfach Zeit.«
»Sie kann alles haben, was sie will.«
Jacki verschränkte die Arme, nickte und sah dabei auf den Boden.
Er sagte: »Ich hätte auf dich hören sollen. Vor so vielen Jahren.«
»Was geschehen ist, ist geschehen.«
Sie griff nach ihrem Kaffee, pustete darauf und sagte: »Meine Kollegen werden noch mehr Fragen stellen müssen – sobald du dich bereit dafür fühlst.«
Er bekam Gänsehaut. Er hoffte, dass sie es nicht bemerkte. »Was für Fragen? Bin ich in Schwierigkeiten?«
»Nein, gar nicht. Sie wollen einfach nur die ganze Geschichte hören. Zum Beispiel gibt es ein paar Blutergüsse an Mr. Morrows Kehle. Vielleicht werden sie danach fragen.«
»Ich musste ihn vom Sofa zerren. Er war so schwer. Ich hab seinen Hals mit der Armbeuge umschlossen – genau so – und ihn irgendwie runtergezerrt.«
»Siehst du. Ich wusste, es würde so was sein. Das habe ich ihnen auch gesagt.«
»Ihr habt schon darüber gesprochen? Jetzt machst du mich aber nervös.«
»Du hast keinen Grund, nervös zu werden. Du musst einfach nur ganz genau darüber nachdenken, was gestern Abend passiert ist.«
»Meine Güte, Jacki. Du machst mir ja Angst.«
»Das habe ich nicht vor. Es ist nur so, dass Leute, die einen Schock bekommen, oft verwirrt sind.«
»Ich kann ziemlich klar denken.«
»Denkst du klar an das zweite Whiskyglas?«
Einen Moment lang stand die Zeit still. Er blinzelte ihn weg.
»Was?«
»Da standen zwei Whiskygläser. Das, aus dem Morrow getrunken hat. Und ein zweites Glas. Fast unberührt. Eine sehr schwache Mischung. Mit viel Wasser drin. Viel, viel Wasser.«
Er hatte hineingespuckt.
Jacki wartete immer noch.
»Ich hab mir ein Glas eingeschenkt. Nachdem die Sanitäter gekommen sind. Um meine Nerven zu beruhigen. Dann hab ich’s mir anders überlegt.«
Jacki nickte. Sie lächelte nicht.
»Genau. Siehst du? Es gibt immer eine Erklärung. Wenn man genug Zeit zum Nachdenken hat. Kannst du gut schlafen?«
»Ja. Den Umständen entsprechend. Ich meine, nicht schlecht. Warum fragst du?«
»Holly sagt, du hattest Schlafstörungen.«
»Meine Güte, Jacki. Ich hatte Stress.«
»Warst du deswegen beim Arzt?«
»Ja, das war ich zufällig.«
»Gut. Und hat er dir was verschrieben?«
»Ja, das hat er.«
»War das zufällig Temazepam?«
»Ja, das war es.« Er wartete. Zählte drei Atemzüge. »Warum?«
»Bob Morrow hat Temazepam genommen. Eine ungeheure Menge. Der Whisky hat seine Wirkung verstärkt.«
»Aha«, sagte Nathan und kratzte sich an der Innenseite des Handgelenks.
»Wann warst du beim Arzt?«
»Keine Ahnung. Vor ein paar Tagen.«
»Also hast du die Tabletten noch?«
Er aschte in die Spüle.
»Nein, die hab ich nicht mehr. Ich hab nie gern Tabletten geschluckt. Ich hab sie ins Klo geworfen, sobald ich zu Hause war.«
»Das mache ich auch immer. Grässliche Dinger.«
»Wenn man nicht schlafen kann, ist es am besten, wenn man es einfach durchsteht.«
»Ganz meine Meinung. Aber du solltest vielleicht lieber etwas Temazepam da haben. Du weißt schon. Zur Sicherheit. Nur für den Fall, dass jemand danach fragt.«
»Werden sie das?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Ich weiß nicht, wo ich noch welches herkriegen soll, ohne noch mal zum Arzt zu gehen.«
»Du wirst schon einen Weg finden. Du bist ja nicht auf den Kopf gefallen.«
Nathan fasste sich ans Orläppchen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Zufällig hat Morrow in der Vergangenheit auch schon Überdosen von Medikamenten genommen – und einen oder zwei Selbstmordversuche begangen, als er jünger war. Er ist ein bisschen komisch geworden, nachdem seine Mutter gestorben ist.«
»Das wusste ich nicht.«
»Er hat wahrscheinlich nicht gern drüber gesprochen. Er war siebzehn. Schwieriges Alter, um seine Mutter zu verlieren.«
Nathan nickte.
»Und das Glas als Beweisstück, wenn es ein Beweisstück war, wurde zerstört. In der ganzen Hektik muss jemand es umgestoßen haben. Es ist zerbrochen. So was passiert.«
»Muss wohl.«
»Wir sind auch nur Menschen. Also werden diese Dinge vielleicht gar nicht mehr erwähnt. Wahrscheinlich nicht.«
Nathan befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze.
»Okay«, sagte er.
Jacki stellte ihre Tasse ab und machte sich bereit zu gehen. Sie suchte ihre Taschen nach dem Autoschlüssel ab. Währenddessen sagte sie: »Lass ihr Zeit.«
»Alle Zeit, die sie braucht.«
Jacki nahm ihren Mantel und kramte in den Taschen nach dem Schlüssel. Der Mantel klimperte. Da war er.
»Du warst ihr immer eine gute Freundin«, sagte Nathan.
»Na ja, das hab ich ihr auch versprochen.«
Sie streifte sich den Mantel über und verabschiedete sich. Sie ging den Flur entlang und ließ den Autoschlüssel an ihrem Zeigefinger baumeln.