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Am Morgen, nachdem er sich beträchtlich Mühe gegeben hatte, weniger verkatert zu wirken, als er sich fühlte, sagte er zu Holly: »Ich lass mir einen Termin bei Brian geben.«

Brian war ihr Hausarzt; er war einer von Grahams Domino-Kumpanen.

Sie antwortete: »Gut.«

Nathan kannte Brian privat – sie hatten sich bei diversen Feiern und Grillfesten und Silvesterpartys miteinander unterhalten. Nathan und Holly hatten sich an Brian gewandt, als sie zum ersten Mal versuchten, ein Kind zu zeugen. Deshalb konnte er für denselben Nachmittag einen Termin bekommen.

Brian war klein, elegant und hatte eine Adlernase, er war dreiundsechzig und unverheiratet.

Nathan mochte Brian, sie hatten sich bei Partys oft zueinander gesellt. Nathan glaubte, dass sie jeweils beim anderen ein Geheimnis erspürten – obwohl Nathan annahm, dass sein Geheimnis nicht das war, was Brian vermutete.

Nun beschrieb Nathan Brian seine Angstzustände, seine Schlaflosigkeit.

»Aber ich will keine Antidepressiva. Sie helfen nicht. Ich schaffe es auch ohne. Ich brauche einfach nur Schlaf. Nur ein paar Nächte guten Schlaf, dann geht’s mir wieder besser.«

Brian schrieb Nathan ein Rezept für einen Dreimonatsvorrat Temazepam und sagte: »Jeder hat so seine Höhen und Tiefen. Du hast dich wahrscheinlich überarbeitet. Ich kenne mehr solche Fälle, als ich zählen kann. Du musst einen Gang runterschalten, dir eine Auszeit nehmen. Graham und June erzählen mir jedes Mal, wie hart du arbeitest.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

»Komm wieder, wenn du noch was brauchst.«

»Mach ich. Mach ich. Aber ich bin sicher, das wird reichen.«

Er wartete vor Oakley’s The Chemist, bis der Apotheker sein Medikament herausgesucht hatte. Während er auf dem Bürgersteig auf und ab ging wie ein Eisbär in einem Zoogehege, rief er Bob an. Der fragte: »Wie geht’s dir?«

»Müde. Wir müssen noch mal reden. Können wir uns heute Abend treffen? Im Plough

»Ich kann um acht dort sein.«

»Bis dann also.«

Nathan steckte das Handy in die Tasche, ging zu Oakley’s hinein, um sein Medikament abzuholen, und fuhr dann zurück zur Arbeit. Unterwegs blieb er beim Travis-Perkins-Baumarkt stehen und kaufte einen schweren Bolzenschneider.

Der Kassierer beäugte Nathan, wie er in seinem Anzug und mit der feinen Krawatte und der schicken Frisur einen Bolzenschneider kaufte. Nathan lächelte verkrampft und ging hinaus, wobei er den Bolzenschneider an dem langen Griff in seiner Faust baumeln ließ.

Er rief Holly vom Büro aus an.

»Wie geht’s dir?«, fragte sie.

»Müde.«

»Wie war’s bei Brian?«

»Gut. Er hat gesagt, ich hätte zu viel gearbeitet.«

»Wir wissen ja, dass das stimmt.«

»Er hat mir was verschrieben. Damit ich besser schlafen kann.«

»Was?«

»Temazepam. Aber ich hab das Rezept behalten. Ich glaube nicht, dass ich es brauche.«

»Das ist gut. Das freut mich zu hören.«

»Mir geht’s bald wieder gut.«

»Ich weiß.«

»Und uns auch.«

»Ich weiß.«

Er holte tief Luft und sagte: »Ich komme heute spät nach Hause.«

Einen Moment lang Schweigen in der Leitung. »Wohin gehst du?«

»Pass auf. Du hast recht. Es hat mit diesem Typen zu tun, mit Bob. Er lässt mir keine Ruhe. Er ist unglücklich, er hat keine Freunde. Er braucht Aufmerksamkeit. Weißt du, was ich meine?«

Sie sagte nichts, was so viel wie »ja« bedeutete.

»Na ja, es ist mir zu viel«, fuhr Nathan fort. »Er tut mir zwar leid und alles, aber mir reicht’s. Ich kenne ihn ja fast gar nicht. Deshalb will ich ihm heute Abend sagen, dass ich meine eigenen Probleme habe, dass er mich in Ruhe lassen soll.«

Jetzt konnte er sie lächeln hören, als sie sagte: »Okay.«

»Bis später«, verabschiedete er sich. »Warte nicht auf mich.«

Um 19.45 Uhr rief er Bob an.

»Hallo?«, meldete sich Bob.

»Wo bist du?«

»Warum?«

»Hintergrundgeräusche.«

»Ich bin im Pub.«

»Okay. Gut. Pass auf, ich hab ein Problem bei der Arbeit. Ich sitze im Büro fest. Ich komme fünfzehn bis zwanzig Minuten später. Ist das schlimm?«

»Nee, kein Problem.«

»Dann sehen wir uns so um Viertel nach.«

Er beendete den Anruf, schaltete das Handy aus und legte es ins Handschuhfach.

In Wirklichkeit war er nicht bei der Arbeit. Er parkte vor Bobs Garage.

Er wartete, bis niemand auf der Straße zu sehen war, stieg dann mit dem Mantel über dem Arm aus und ging zum Kofferraum. Er nahm den Bolzenschneider heraus, versteckte ihn unter dem Mantel und schlug den Kofferraumdeckel zu. Er ging zum Garagentor. Er sah sich nach links und rechts um und legte das kalte, schnabelförmige Ende des Bolzenschneiders an die Kette des Vorhängeschlosses an. Er umklammerte die langen Griffe mit den Fäusten und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf.

Es war schwerer als er erwartet hatte, viel schwerer als es im Fernsehen aussah. Als die Kette endlich nachgab, schwitzte er, und über seine Brust und unter seine Achsel und über seinen Magen zog sich ein schmerzendes Band.

Er schlich in die Garage und schaltete das Licht ein. Er schloss das Tor hinter sich und schob die Riegel vor. Der Audi war nicht da: Bob hatte ihn verkauft. Er hatte sich noch kein neues Auto besorgt, und die Garage war seltsam leer bis auf die alte Werkbank und die zweckmäßigen Regale und die rostige, brummende Kühltruhe. Es roch nach feuchtem Beton und verschüttetem Öl und alten Abgasen.

Er untersuchte die Kühltruhe. An der Rückseite war sie durch dicke, staubige Spinnweben mit der Porenbetonwand verbunden. Nathan hielt einen Augenblick inne, dann durchschnitt er mit dem Bolzenschneider das kleine Vorhängeschloss am Deckel der Kühltruhe – es gab verhältnismäßig leicht nach.

Nathan hob den Deckel der Gefriertruhe an. Ihre kalten Dämpfe kühlten den Schweiß in seinem Gesicht und auf der Vorderseite seines Hemdes ab. Er nahm die Körbe mit gefrorenen Erbsen und Mais heraus und stellte sie vorsichtig auf den Boden.

Er fragte sich, ob die Zeit reichen würde, um Elises Kleider vor seinem Treffen mit Bob zu verbrennen. Die Knochen könnte er pulverisieren und dann in Ätzkalk legen. Die spermagetränkte Kleidung, jene pilzbefallenen Lumpen, stellten die größte Bedrohung dar.

Nathan beugte sich tief in die Kühltruhe.

Aber das zugeklebte Plastikpaket war nicht da.

Die Knochen und die Kleider waren fort. Bob hatte sie woanders hingebracht.