21

Eine Woche vor Hollys dreißigstem Geburtstag reservierte sie einen Tisch in einem griechischen Restaurant, damit Nathan ihre Freunde kennenlernen konnte. Er kam zu spät und eilte mit den Blumen im Arm, die er als Geschenk für Hollys Trauzeugin gekauft hatte, die Treppe hinauf.

Fünf Frauen und ein Mann saßen an einem langen Tisch, Holly in der Mitte neben Nathans leerem Platz.

Atemlos hielt Nathan die Blumen vorsorglich dem ganzen Tisch hin und verkündete: »Die sind für Jacki.«

Aus der Tatsache, dass alle Gesichter sich einer Person zuwandten, schloss er, dass Jacki die Frau war, die Holly gegenübersaß. Sie sah ihn an und stand lächelnd auf.

Er erkannte sie sofort als die Polizistin, die mit Kommissar William Holloway zu ihm in die Wohnung gekommen war. Er erinnerte sich daran, wie sie still dagestanden und den vorbeifahrenden Bussen nachgesehen hatte.

»Nathan?«, fragte sie.

Er nickte.

»Komm, lass dich umarmen.«

Er und Jacki umarmten sich. Der Tisch klatschte und kreischte und pfiff. Er überreichte ihr den Strauß, dann ging er um die Tafel herum und begrüßte alle. Er setzte sich neben Holly. Sie drückte sein Knie.

»Alles klar?«

»Ja, super.«

»Du siehst blass aus.«

»Ich musste mich irre beeilen. Viel los bei der Arbeit, krass viel Verkehr. Das Taxi kam zu spät.«

»Egal«, meinte Jacki. »Willst du ihn uns nicht vorstellen

Holly drückte Nathans Hand flach auf den Tisch. »Also, hört alle mal her, das ist Nathan.«

Er hob schwach die Hand wie ein exzentrischer, kränkelnder Monarch. Darauf folgte noch mehr Klatschen und Kreischen.

Er nahm nur Jacki wahr. Sie war ziemlich klein – kleiner als er gedacht hätte, dass Polizistinnen sein durften. Glattes, dunkles Haar, praktischer Schnitt, hinter die Ohren gekämmt.

Sie sagte: »Wir haben schon viel von dir gehört.«

»Hoffentlich nicht nur Schlechtes.«

»Nein, nicht nur«, sagte der Mann, Martin.

(Alle lachten, als hätte er eine gewagte Anspielung gemacht.)

Holly drückte Nathans Hand. Es war eine Frage. Er drückte eine Antwort zurück: Wirklich, es geht mir gut.

Er fürchtete sich vor dem Blitz des Wiedererkennens in Jackis Augen. Dass sie die Gabel klappernd auf den weißen Tellerrand fallen ließe und es am ganzen Tisch still würde und Köpfe sich drehten und dann alles zu Ende wäre.

Nathan zwang sich, die Vorspeise zu essen und stürzte dann ein Glas Wein hinterher. Steph beugte sich über den Tisch, um ihm nachzuschenken. Er dankte ihr. Er spürte den Wein kalt im Magen. Er brauchte dringend eine Zigarette, aber niemand rauchte.

Endlich kam ein Kellner, um den ersten Gang abzuräumen. Jacki holte ein Päckchen Silk Cut aus ihrer Tasche und ließ es wie einen Stapel Spielkarten auf den Tisch fallen. Erleichtert griff Nathan in seine eigene Tasche.

Jacki sah sich am Tisch um. »Raucht sonst niemand?«

Als sie aufstand, nahm sie Nathan an der Hand.

»Dann ist das ja die perfekte Gelegenheit für ein paar warnende Worte an den Bräutigam.«

Nathan ließ sich nach draußen zerren. Martin machte einen lauten und einfallslosen Witz über Handschellen und widerstandslose Festnahme. Nathan warf einen flehenden Blick über die Schulter. Der Tisch lachte.

Draußen stellten Nathan und Jacki sich unter eine Straßenlaterne. Nieselregen schwirrte wie Mücken im gelben Lichtschein.

Jacki zündete sich eine Silk Cut an, hielt ihm das Päckchen hin. Er lehnte dankend ab, nahm eine seiner eigenen Zigaretten.

Sie stieß eine lange Rauchfahne aus und fragte: »Sie hat keinen Schimmer, oder?«

Ein Auto fuhr vorbei. Nathan sah ihm nach.

»Nein.«

»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

»Ich wusste es nicht.«

»Haha.«

»Sie hat es nie erwähnt. Und als sie es mir dann irgendwann gesagt hat, war es zu spät.«

»Du musst es ihr sagen.«

»Was soll ich ihr sagen? Dass ich zusammen mit einer Million anderen Leuten auf derselben Party war wie ihre Schwester?«

»In der Nacht, in der sie verschwunden ist, ja. Und dass du den Verdächtigen kennst.«

»Es war seine Party. Ich war sein Angestellter. Ich habe ihn gehasst wie die Pest. Und er wurde nicht einmal angeklagt

Sie schwiegen und traten zur Seite, um ein Pärchen vorbeizulassen, das eng aneinandergeschmiegt und mit gesenkten Köpfen durch den Regen ging.

»Sie hat ein Recht, es zu erfahren.«

»Es würde ihr das Herz brechen.«

Jacki funkelte ihn herausfordernd an.

»Meine Güte«, sagte Nathan, »glaub mir, sie ist glücklich. Das ist doch die Hauptsache.«

»Ja«, antwortete Jacki. »Schon klar.«

»Ich weiß, dass du dich um sie sorgst.«

»Ich kenne sie, seit sie elf war. Natürlich sorge ich mich um sie!«

»Okay, ich kenne sie noch nicht so lange wie du. Aber um Himmels willen. Bitte. Jetzt sei nicht so.«

»O Mann«, sagte Jacki und schüttelte den Kopf.

»Komm schon«, drängte Nathan. »Bitte.«

Jacki verzog das Gesicht. Er dachte, sie würde gleich ausspucken. Sie warf ihre Kippe weg und sah zu, wie sie in der Abflussrinne hin- und hertanzte.

»Ich hatte Holly jahrelang nicht gesehen, nachdem wir zusammen in der Schule waren. Aber sie ist zu mir gekommen, als Elise nicht nach Hause kam. Sie ist zu mir gekommen, weil wir Freundinnen waren. Ich habe ihr etwas versprochen. Verstehst du das?«

»Natürlich. Natürlich verstehe ich das.«

»Ich lasse nicht zu, dass du ihr wehtust.«

»Das habe ich auch nicht vor.«

»Wenn du nicht ehrlich bist, mache ich dich fertig. Ich reiß dir die Eier raus.«

»Aber es liegt mir völlig fern …«

»Das ist auch gut so. Lass dir das gesagt sein.«

»Vertrau mir. Komm schon«, sagte er.

Drinnen war scheinbar niemandem aufgefallen, wie lange sie weg gewesen waren. Nathan trank direkt hintereinander zwei Gläser Wein. Er und Jacki vermieden Blickkontakt wie heimliche Geliebte.

Die Freunde am Tisch kannten sich seit vielen Jahren. Die Anekdoten waren glatt poliert vom Gebrauch, die Unterhaltung voll von Anspielungen und für Nathan unverständlichen Insiderwitzen. Anfängliche Versuche, Nathan mit einzubeziehen, versiegten nach einigen Drinks – alle einschließlich Holly wurden es müde, ihm alles erklären zu müssen.

Er bemerkte es kaum. Aber als der Abend zu Ende ging und die Rechnung bezahlt und der Kaffee ausgetrunken war und alle ihre Mäntel und Taschen zusammensuchten und Taxis bestellten, umarmte Jacki ihn besonders fest und lange. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und sagte ihm – vielleicht etwas zu schrill – wie sehr sie sich für sie beide freue, und dass sie ihnen alles Glück der Welt wünsche. Dass niemand das mehr verdiene als Holly.

Er dankte ihr. Sie schwankte hinunter zu ihrem wartenden Taxi.

Nathan und Holly blieben allein am Tisch sitzen. Holly war etwas rot im Gesicht und sah glücklich aus. Nathan war betrunken. Sein Magen rebellierte. Holly bat ihn um eine Zigarette, ihre erste seit dem abgebrochenen Date.

»Bist du sicher?«

Sie bewegte die Hand wie jemand, der sich über einen schlechten Komiker lustig macht. Er gab ihr eine Zigarette.

»Alles klar?«, fragte er.

Tiefe Grübchen in ihren Mundwinkeln.

»Ich bin glücklich.«

»Gut«, sagte er. »Das ist die Hauptsache.« Und es war die Wahrheit.

Sie heirateten im September in der kleinen normannischen Kirche in Sutton Down. Nathan lud nur wenige Leute ein, alles Kollegen. Sie mischten sich unter Hollys scheinbar unendlich großen Kreis von Freunden, Verwandten und Nachbarn. Holly trug Weiß. Als sie in Satinschuhen den Mittelgang entlangschritt, vergossen ihre Cousinen, Tanten und ihre Grundschullehrerin ein paar Tränen.

Nachdem Graham beim Empfang einen Toast auf seine Tochter ausgebracht hatte, blieb er stehen. Er sah die leichte Verwirrung der Gäste ruhig mit an und wartete, bis sie sich setzten und still wurden. Dann fuhr er fort: »Das ist jetzt nicht die übliche Reihenfolge. Und, wie viele der hier Versammelten sicher wissen, nehme ich es mit der Ordnung normalerweise sehr genau.«

Er machte eine Pause für das liebevoll dahinplätschernde Gelächter.

»Aber June und ich wollten bei dieser Gelegenheit sagen, dass vor wenigen Monaten – vor sehr wenigen Monaten …«

Mehr Gelächter.

»… Nathan ein bisschen wie ein Wirbelwind in unser Leben gekommen ist. Und um die Wahrheit zu sagen, hat uns vermutlich, wie viele von euch auch wissen werden, ein wenig Wirbelwind in unserem Leben gefehlt.«

Jetzt gab es kein Gelächter. Nur Stille.

»Dieser junge Mann hat nicht nur das Herz meiner Tochter erobert, sondern auch meins und Junes Herz – weil er Leben in unser Haus gebracht hat. Und dafür möchten wir ihm danken. Also: auf Nathan.«

Sie tranken auf ihn, während Nathan stolz und verängstigt am Kopf der Tafel saß.

Als er mit seiner eigenen Rede an der Reihe war, hielt er inne, um sich zu sammeln, und konnte eine Zeit lang nicht sprechen. Das sorgte für noch mehr Tränen und weiteres Gelächter.

Nachdem Nathan sich wieder gesetzt hatte, nahm Holly seine Hand und Jacki kam vorbei, um ihn von hinten zu umarmen. Sie verschränkte die Arme vor seiner Brust und drückte fest zu.

Holly hatte auf einen weiteren Toast bestanden. Sie stand auf und erhob ihr Glas mit den Worten: »Wie wir alle wissen, fehlt heute ein Gast. Seit wir klein waren, haben Elise und ich von diesem Tag gesprochen. Wir haben uns überlegt, was wir anziehen würden und welchen Popstar wir heiraten wollten. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie ziemlich auf George Michael fixiert war. Das heißt, nachdem sie sich überhaupt bereit erklärt hatte, einen Jungen zu heiraten. Es ging ihr vor allem um das Kleid und darum, mit ihrem geliebten Dad den Mittelgang entlangzugehen. Sie fand, ein Junge würde dabei nur alles kaputtmachen.«

Graham blickte lächelnd auf den Tisch.

»Aber Elise ist hier. Ich weiß, dass sie mit dem Jungen einverstanden ist, den ich zu heiraten beschlossen habe – obwohl er kein Popstar ist.« Sie musste eine Pause machen. »Und ich kann spüren, wie sie ungeduldig darauf wartet, dass wir endlich anfangen zu tanzen. Spätestens jetzt würde sie ihre Kitten Heels gegen ihre Doc Martens tauschen wollen. Deshalb bitte ich euch aufzustehen und eure Gläser zu erheben. Bitte trinkt mit mir auf meine liebe Schwester – Elise.«

Zweihundert Leute standen auf und erhoben die Gläser. Sie sagten laut ihren Namen, und es klang wie der Ozean.

Als erstes tanzten sie zu Van Morrisons »Brown Eyed Girl.«

Später hoffte Nathan, dass niemand ihn auf der Toilette schluchzen hörte.

In einem Hotelzimmer auf Barbados entkleidete er sie zum ersten Mal. Nathan hatte seit fünf Jahren keinen Sex mehr gehabt. Er und Holly hatten noch nie im selben Bett geschlafen.

Er erwachte in der tropischen Nacht und sah, dass sie sich auf einen Ellbogen gestützt hatte und ihn in der Dunkelheit mit undurchdringlicher Miene ansah.

»Was?«, fragte er.

»Du weißt schon.«

Er küsste ihren weichen Bauch.

»Ich dich auch.«

Sie fuhr mit einem Zeigefinger durch sein vom Schlaf zerzaustes Haar.

Er legte einen Arm um ihre warme, nackte Taille.

Sie schloss die Augen und schlief lächelnd ein.

Sie blieben vierzehn Tage lang.