6
Nathan bat Elise zu warten, bis er die Dachrinne hinuntergeklettert war, für den Fall, dass er abrutschte und stürzte. Aber nachdem er sich einmal aus dem Fenster gezwängt hatte, erwies sich der Abstieg als einfach. Er ließ sich die letzten zwei Meter mit einer gewissen Eleganz fallen und war froh, dass Elise ihm dabei zusah.
Dann folgte sie ihm mit der Geschicklichkeit eines Klammeräffchens.
Nathan schämte sich.
Sie rannten zum Gebüsch, hinter ihnen wummerte die Diskomusik in der Ferne. Sie hielten sich im Schatten, während sie der Kieseinfahrt zum Haupttor folgten. Dort versteckten sie sich in der Dunkelheit, die so schwarz und kalt war, dass sie wie eine zähe Flüssigkeit an ihnen klebte.
Wenige Minuten später fuhr Bob vor. Er saß am Steuer eines alten weißen Volvo Kombi.
Nathan und Elise kletterten auf den Rücksitz, hielten sich weiterhin geduckt, und Bob fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sie passierten das Tor, alle drei lachten.
»Okay«, sagte Bob, »jetzt müssen wir einen Ort finden, an dem es dunkel ist.«
»Ich kenne einen«, sagte Elise und legte die Hand auf Nathans Oberschenkel. Er küsste sie.
Ganz plötzlich hatte er das Gefühl, dies sei die beste Nacht seines Lebens.
Elise lotste Bob durch das Städtchen Socombe, an einigen Feldern vorbei, durch ein Dorf namens Sutton Down, dann eine Landstraße entlang, die einen Wald säumte – einen Eichenwald. Sie tippte Bob auf die Schulter.
»Fahr da hinten links.«
»Wo da hinten?«
Er sah nur Bäume und fuhr zu weit. Aber er setzte zurück, bis Elise ihn bat, anzuhalten. Vor ihnen beleuchteten die Scheinwerfer den von Ranken überwucherten Zugang zu einem schmalen Weg. Bob wendete in fünf Zügen, um den Wagen in diesen dunklen, holprigen Tunnel zu lenken, der gerade breit genug für ein Fahrzeug war. Bald wurden sie von der Dunkelheit verschluckt und folgten nur noch den Scheinwerfern.
»Woher kennst du diesen Ort?«, fragte Nathan.
»Alle jungen Leute hier kennen ihn. Man hört davon schon lange bevor man zum ersten Mal herkommt. Es ist eine Art Liebesnest. Zumindest im Sommer.«
»Cool«, meinte Bob. »Du warst also schon mal hier?«
»Ein, zwei Mal.« Sie warf Nathan einen Blick zu. »Aber die Älteren erzählen den Jüngeren, dass hier ein Geist umgeht. Eine weiße Frau.«
Bob grinste in den Rückspiegel. »Ist hier ein Fluss in der Nähe?«
»Eher ein Flüsschen. Ein Bach oder so.«
»Es gibt immer fließendes Wasser neben Wegen, an denen es spukt. Angeblich spukt.«
»Warum?«
»Keine Ahnung. Geothermische Kräfte, was weiß ich.«
»Lass ihn bloß nicht davon anfangen«, warnte Nathan.
Bob lenkte das Auto an den Wegesrand. Die Räder auf der Beifahrerseite wurden mit vermoderten Blättern und Matsch überzogen. Er schaltete den CD-Player ein. Charlie Parker.
Nathan holte das restliche Kokain hervor. Bob schaltete die Innenbeleuchtung ein. Sie wurden in kränkliches, intimes Licht getaucht. Nathan schob einige breite, dicke Lines auf der CD-Hülle zurecht. Er schnupfte zuerst und gab die CD dann an Elise weiter. Als sie sie ihrer Nase näherte, sahen Bob und Nathan erst sie, dann einander an. Sie gab die CD an Bob weiter, der sie auf dem Lenkrad ablegte.
Elise wischte sich die Nase. Die Bewegung ließ das T-Shirt über ihren Nabel hochrutschen. Sie hatte den Mantel im Haus gelassen.
Bob drückte sich tief in den Fahrersitz.
»Alter Schwede.«
Er schaltete die Innenbeleuchtung aus. Ein paar Sekunden lang war die Dunkelheit vollkommen. In die Schwärze hinein sagte Elise: »Ich mag solche Abende. Wenn man gar nichts plant und alles einfach auf einen zukommt.«
Bob drehte sich um und sagte: »Okay, ihr beiden. Es tut mir leid. Ich habe das Gefühl, ich hab euch den Abend ruiniert – weil ich euch unterbrochen habe. Als ich vorhin ins Zimmer kam, ihr wisst schon.«
Elise gab ihm einen Klaps und sagte: »Na ja, dein Timing war nicht gerade toll.« Dann sprach sie seinen Namen mit starkem amerikanischem Akzent aus: Bahb.
Nathan versuchte zu lachen, Bob grinste und legte seinen breiten Kiefer auf die Kopfstütze.
»Dann macht doch einfach da weiter, wo ihr aufgehört habt.«
Elise versetzte ihm noch einen Klaps. »Wie bist du denn drauf?«
Bob sah ihr in die Augen und hielt ihrem Blick stand.
»Ich würde ja einen Spaziergang machen. Aber der Weg ist dunkel und kalt und, wie ich zugeben muss, etwas gruselig. Und selbst wenn ich rausginge, würdet ihr euch ständig Sorgen machen, dass ich im falschen Augenblick zurückkomme, und könntet euch gar nicht entspannen. Aber vielleicht seht ihr euch nie wieder. Das wäre echt schade. Also passt auf. Ich lehne mich zurück, mache die Augen zu und drehe die Musik auf. Und ihr beide könnt … ihr wisst schon.«
Sie lachte noch einmal – es klang laut in der Dunkelheit – und sagte: »Du bist echt krank.«
Elise sah Nathan an. Dann sah sie Bob an.
»Du würdest zuschauen.«
»Ich versuche, nicht hinzuschauen.«
»Du wirst zuhören.«
»Dann seid eben leise.«
»Ich kann das nicht.«
»Du kannst nicht? Oder du willst nicht? Bist du zu prüde?«
Sie wollte etwas erwidern, aber dann lachte sie schallend los und schlug Bob noch einmal auf die Schulter. Sie wandte sich an Nathan. »Willst du?«
»Willst du?«
»Willst du? Hast du ein Problem damit?«
»Womit?«
»Dass Bob dabei ist.«
»Nein.«
Plötzlich lächelte keiner mehr.
Elise zog ihr T-Shirt aus.
»Bob, du schaust her.«
»Ich schau gleich weg.«
»Wehe, wenn nicht.«
Nathan beugte sich vor. Diesmal war ihre Zunge langsamer. Sie schien sehr erregt zu sein. Er wusste, dass das vom Alkohol und Kokain und der abenteuerlustigen Stimmung an diesem Abend kam. Sie schmeckte nach Wein und Zigaretten. Ihre Hand zerrte an seinem Hemd, berührte seinen Körper. Er küsste ihren langen Hals. Er schälte sich aus seinem Sakko. Sie küsste seinen Hals, seine Brust, half ihm, das Hemd auszuziehen. In der Eile verlor er ein paar Knöpfe. Sie tastete nach seinem Hosenknopf. Als sie seinen Schwanz befreite, war er knüppelhart, aber eiskalt. Sie nahm ihn in den Mund. Die Wärme war so plötzlich, dass Nathan zurückzuckte, als verlöre er das Gleichgewicht. Dann machte er sich von ihr los und nestelte an ihrem Rock herum. Sie hob die Pobacken an, um ihm zu helfen, wand ihre Taille, und als sie murmelte: »Bob, du schaust immer noch her«, war das kein wirklicher Protest mehr.
Nathan betrachtete gebannt die Abdrücke des Rockbunds auf ihrer nackten Haut, die Schatten, die ihre schlanken Hüften warfen, die Bewegungen ihrer kleinen, weißen Brüste, als sie sich für ihn bereit machte. Sie biss in seine Schulter, als er in sie eindrang, und schnappte nach Luft. Sie stemmte die Füße, die immer noch in den Adidas-Turnschuhen steckten, gegen die Lehne des Beifahrersitzes. Sie war so warm. Sie schlang die Knöchel um ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was er nicht verstand. Sie ließ die Augen offen.
Es dauerte nicht lange. Als Nathan sich beim Orgasmus anspannte, die Zähne zusammengebissen und die Kehle zugeschnürt, stieß sie ein einziges Wort hervor.
Bobs düsterer, amüsierter Blick lag schwer auf Nathans Rücken, als Elise ihn vorsichtig aus sich herauszog. Nathan fiel keuchend auf den Sitz neben ihr. Sein Oberkörper war entblößt und die Hose hing ihm um die Knöchel. Seine Erektion ging zurück. Nackt bis auf ihre Adidas saß Elise lachend und schwer atmend da. Ein paar Tröpfchen von Nathans Soße glänzten in ihrem Schamhaar.
»O Gott«, seufzte sie und strich sich über die nackten Schenkel, als ob sie juckten.
Sie und Nathan sahen sich in die Augen. Zärtlich und verständnisvoll drückte sie seinen erschlaffenden Schwanz.
»Ich weiß. Tut mir leid. Gib mir eine Minute«, entschuldigte er sich.
»Aber zuerst … noch mehr Koks, würde ich sagen.«
»Und was ist mit Bob?«, fragte Bob.
Elise beugte sich vor und schlug ihm noch einmal auf die Schulter.
»Jetzt sei nicht so ein alter Perversling.«
»Aber ich bin sehr erregt.«
»Bob«, sagte sie.
Auf den Knien und gegen die Vordersitze gelehnt, strich sie ihren Pony zurück.
»Schau mal, ich mag dich. Wirklich. Aber ich kann das nicht.«
»Du kannst nicht? Oder du willst nicht?«
»Ich mach das nicht.«
»Aha. Du machst das nicht. Du machst das nicht heißt, dass da moralische Bedenken gegen niedrigere Instinkte ankämpfen. Bist du gerade gekommen?«
Elise lachte über Bobs Dreistigkeit.
»Nein.«
»Würdest du gerne kommen?«
Flink wie ein Fisch schoss Bobs Hand zwischen ihre Beine. Er ließ zwei Finger in sie gleiten. Elise zuckte.
»Du freches Schwein.«
Das sagte sie dreimal. Jedes Mal klang es mehr wie ein Kompliment. Ihre schmalen Hüften beschrieben eine Acht.
Nathan sah Bob in die Augen. Bobs Augen waren leer.
»Nathan hat doch nichts dagegen, oder?«
Nathans Erregung nahm wieder zu. Aber er zog sich die Hose hoch und antwortete: »Natürlich nicht.«
»Lass uns die Plätze tauschen, Alter«, befahl Bob.
Elise lehnte sich zurück.
»Das werde ich morgen bereuen.«
»Das wirst du nicht«, sagte Bob, »das verspreche ich dir.«
Nathan griff nach seinem Jackett und seinem Hemd. Seine Kleider waren feucht.
Riesenhaft und entschlossen begann Bob auf die Rückbank zu klettern. Nathan öffnete die Tür und stieg mit Sakko und Hemd im Arm aus.
Elise streckte die Hand nach ihm aus. Sie umklammerte sein Handgelenk und drückte so fest zu wie auf dem höchsten Punkt einer Achterbahn. Er drückte ermutigend zurück – das hoffte er zumindest – und ließ dann los.
Ein Schwall kalte Dezemberluft kam ihm entgegen. Nathan schlüpfte schnell in seine Kleider. Seine Hände hatten Schwierigkeiten mit den Knöpfen.
Im Auto rief Elise: »O mein Gott.«
Der Volvo schaukelte hin und her.
Nathan beschloss, sich auf den Fahrersitz zu setzen und zuzuschauen. Aber erst musste er pinkeln. Er ging hinter das Auto. Es war nicht leicht, in der Eiseskälte zu pinkeln, vor allem nicht mit einer wachsenden Erektion – und bei den Geräuschen, die sie machte, dem Stöhnen und Schreien. Es dauerte lange, und als es so weit war, nahm der Wind den blassen Strahl mit und spritzte ihn über die Heckscheibe des Volvo.
Die zunehmend heftigen Bewegungen des Autos wurden von gedämpften, vulgären Ausrufen begleitet. Elises Stimme nahm an Höhe und Dringlichkeit zu, abwechselnd rief sie Gott und Jesus an. Eine Art unterdrückter Schrei. Nathan wollte sie so zum Schreien bringen. Bobs Stimme war leiser und drängend. Nathan fragte sich, wie sie aussah, wenn sie ihre weißen Beine um seinen breiten Rücken schlang. Er hörte auf zu pinkeln und zog nicht ohne Schwierigkeiten seinen Reißverschluss hoch. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Drinnen war es warm, und es roch nach schwitzenden Körpern wie in einem Schlafzimmer, nach Zigaretten und Ledersitzen.
Inzwischen musste das Auto aufgehört haben zu schaukeln. Denn als Nathan die Tür zuschlug und sich auf dem Sitz umdrehte, war Elise bereits tot.