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In jenem September starb der tolerante alte Besitzer des Hauses in der Maple Road und vererbte es seiner Tochter, die es sofort zum Verkauf inserierte. Da die Mieter nicht vertraglich geschützt waren, verstreuten sie sich in alle Winde.
Nachdem Petes Band Odorono sich aufgelöst hatte, zog er in ein besetztes Haus in London. Einige Jahre später entdeckte Nathan ihn auf einem kleinen Foto im Melody Maker: Aus Odorono waren die Odorons geworden. Sie brachten ein einziges unabhängiges Album heraus, bevor sie sich aufgrund musikalischer Differenzen trennten. Nathan war einer der wenigen, die die CD kauften, sie hieß The Malibu Stacey Sessions. Er hörte sie dreimal und versuchte jedes Mal, sie zu mögen, aber es gelang ihm nicht. Also stellte er The Malibu Stacey Sessions ganz hinten in seine Sammlung, wo sie ihn nicht wegen seiner Gleichgültigkeit beschämen konnte.
Nun war Weihnachten 1997.
Nathan arbeite seit drei Jahren in der Redaktion eines lokalen Radiosenders für die Late-Night-Show Mark Derbyshires Lösung. Der Moderator Mark Derbyshire hatte einen Bierbauch, schütteres Haar und einen säuberlich gestutzten Bart, der seine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Biber nicht verschleiern konnte. Er trug Satinhemden in den Grundfarben und ließ die beiden obersten Knöpfe immer offen.
Normalerweise konnte man sich darauf verlassen, dass die einsamen Zuhörer von Mark Derbyshires Lösung ihre Meinung zum aktuellen Tagesgeschehen herausposaunten. Wenn die Nachrichtenmeldungen sich nicht zum Late-Night-Talk eigneten, musste Nathan irgendeinen aktuellen Fall zu Tage fördern, bei dem es um Kindesmissbrauch, Satanismus, Einwanderung, Kindsmord, Krebs-Wunderheilungen, absurde Political Correctness oder den Beitritt zur EU ging. Diese Arbeit nannte sich Recherche, hauptsächlich bestand sie aber darin, die Daily Mail zu lesen.
Wenn das Themensortiment für die Einsamen in angemessen haarsträubende Form gebracht worden war, behielten Mark Derbyshire und der Showproduzent (ein zwielichtiger ehemaliger Zeitungsjournalist mit rotem Gesicht namens Howard) Nathan nur noch da, um jemanden demütigen zu können.
Ein großer Teil von Nathans Job bestand folglich darin, zur nächsten Tankstelle oder zu einem vierundzwanzig Stunden geöffneten Supermarkt zu gehen, um Tampons, extradicke Kondome, Abführ- oder Gleitmittel zu kaufen. Manchmal auch alles auf einmal. Ab und zu, wenn Mark besonders großzügig war, schickte er Nathan stattdessen den Jaguar waschen. Gelegentlich wurde er auch mit einer Tasche voller Fünf-Pfund-Scheine losgeschickt, um in den frühen Morgenstunden Fremde anzusprechen – auf der Straße, auf den Vorplätzen noch geöffneter Tankstellen, an Taxiständen – und sie nach dem Codewort des Abends zu fragen, das von Mark festgelegt worden war: Es konnte ganz einfach Riesen-BH heißen oder auch Atom-Saddam oder Mark Derbyshire ist eine Sexmaschine!
Mit der Zeit wurde diese Einlage beinahe ein fester Bestandteil des Programms. Schließlich bekam sie auch einen Namen: Eine Faust voll Fünfer, in Zusammenarbeit mit Infinity Motors Ltd. Mark schickte Nathan um zwei Uhr morgens mit zweitausend Pfund Bargeld auf die Straße. Nathan trieb sich dann herum und wartete darauf, ein glückliches Mitglied von Derbys Crew zu treffen, wie Mark seine Zuhörer nannte.
Nathan fand bald heraus, wie er das Geld schnell und sicher verteilen konnte. Meist gab er es bündelweise an die Taxifahrer weiter, die an der rund um die Uhr geöffneten Tankstelle um die Ecke tankten – sie lag nicht sehr weit von der Polizei entfernt.
Viele der Taxifahrer hörten regelmäßig Mark Derbyshires Lösung – obwohl viele von ihnen Einwanderer und somit auch Teil von Mark Derbyshires Problem waren.
Nathan war siebenundzwanzig und am bitteren Ende seiner Beziehung mit einer Frau namens Sara angelangt, von der er einst, vor nicht allzu langer Zeit, geglaubt hatte, dass er sie liebte. Nun nervte und frustrierte ihn schon ihr bloßer Anblick.
Sara mochte Nathan auch nicht besonders – vermutlich war es also ein Glück, dass sie sich kaum über den Weg liefen. Mark Derbyshires Lösung wurde ab Mitternacht ausgestrahlt, was bedeutete, dass Nathan kurz nach neun Uhr zur Arbeit ging. Sara arbeitete in einem Büro und kam nicht vor halb acht nach Hause. So blieben ihnen etwa neunzig Minuten, die sie gemeinsam durchstehen mussten.
Nathan war ziemlich sicher, dass Sara eine Affäre mit ihrem Chef hatte, der Alex hieß und wie jener gewisse Typ Mann aussah.
Es gab Indizien. Sie hatte sich angewöhnt zu duschen, wenn sie nach Hause kam und auch bevor sie zur Arbeit ging. Sie zog nicht mehr ihre etwas spießige, praktische Unterwäsche fürs Büro und ihre Dessous am Wochenende an, sondern dieses Verhaltensmuster hatte sich plötzlich (und komplett) umgekehrt.
Nathan sah in ihrem Gesicht manchmal den Betrug aufblitzen: der abgewandte Blick, das heimliche Lächeln über eine vertrauliche Anspielung.
»Geht’s dir gut?«, fragte er dann.
Und sie antwortete: »Ja« – und lächelte jenes verträumte, wissende Lächeln.
Nathan tat sie leid.
Nun hatte er beschlossen, dass es an der Zeit war, mit Sara Schluss zu machen; einer von ihnen beiden musste es tun. Deshalb hatte er in jenem Jahr die Einladung zu Mark Derbyshires Weihnachtsparty angenommen. Sie sollte eine Art Abschiedsgeschenk sein und eine Art unausgesprochene Entschuldigung.
Sara hörte Mark Derbyshires Lösung nicht – sie wurde zu spät gesendet –, aber es hatte sie immer beeindruckt, dass Nathan für Mark Derbyshire arbeitete, der einmal berühmt gewesen war. Und sie wollte immer zu seinen Partys gehen. Aber Nathan hatte jedes Jahr einen Vorwand gefunden, um abzusagen.
Die Weihnachtsparty war in Marks Vertrag festgeschrieben worden, als er noch wichtig war, was allerdings schon sehr lange zurücklag. Aber der Radiosender bezahlte immer noch die Getränke, die Häppchen und einen erbärmlichen Dorfhochzeits-DJ, der Boney M. Platten auflegte. Die meisten Mitglieder der Chefetage und auch einige DJs und Nachrichtensprecher des Senders fühlten sich verpflichtet hinzugehen. Viele jüngere Mitarbeiter freuten sich wirklich darauf, ebenso wie, angeblich, die Anwohner aus der Gegend um Marks Haus.
Bevor Nathan am Mittwochabend zur Arbeit ging, sagte er also zu Sara: »Es ist so weit. Wir sind wieder eingeladen.«
»Zu Marks Party?«
»Ja.«
Sie erstarrte wie ein Rehkitz im Wald.
Nathan zog die karierte Jacke an, die er im Winter bei der Arbeit trug. »Wir gehen besser nicht hin. Da werden bestimmt viele Drogen genommen.«
Normalerweise war Sara gegen Drogen. Aber nun nahm ihr Gesicht einen verzweifelten Ausdruck an. Das hier war Mark Derbyshires Weihnachtsparty, und ob es dort Drogen gab oder nicht, interessierte sie nicht im Geringsten.
Sie wurde ernst: »Aber ich würde wirklich gerne hingehen.«
Das sagte sie jedes Jahr. Und jedes Jahr antwortete Nathan: »Vielleicht nächstes Mal.«
Nun schaute sie ihn mit einem Hundeblick an, halb im Spaß, halb im Ernst, strich mit der Oberseite ihrer Fingernägel über seinen Oberarm und säuselte »Bittebittebitte?«
Und Nathan antwortete: »Na gut. Warum nicht?«
Sie kreischte vor Freude und drückte ihm dicke Schmatzer auf Wange und Stirn.
Bis vor wenigen Monaten hätten sie das wahrscheinlich sofort mit einem Quickie gefeiert. Aber Nathan und Sara hatten keinen Sex mehr. Keiner von ihnen sprach das Thema an, es machte sie zu traurig, zu unsicher und zu verlegen.
Jetzt war Sara so aufgeregt – sie jauchzte und sprang herum wie ein Kind –, dass sie zur Toilette rennen musste.
Zuerst gefiel ihm das, denn in seiner Gesellschaft war sie schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Dann fragte er sich, wann genau sie damit begonnen hatte, die Badezimmertür zu schließen, wenn sie pinkeln musste.
Er hatte das Gefühl, dass er so etwas wissen sollte – und wenn auch nur, um den Moment benennen zu können, in dem er sicher wusste, dass es endgültig vorbei war.
Aber es war ihm nicht aufgefallen, und der Moment, in dem er sicher wusste, dass es endgültig vorbei war, war genau jetzt, in genau dieser Sekunde.
Nachdem der Moment verstrichen war, rief er: »Ich bin spät dran, ich muss los!«, und öffnete die Haustür.
»Bis morgen, Schatz«, rief sie aus dem Badezimmer, und er lächelte.
Er nahm den Bus zur Arbeit.
Die Party fand am Samstag statt. Nathan schlief lange und erwachte davon, dass Sara singend durchs Haus lief, was nicht oft vorkam. Es war ein sonniger Winternachmittag und in der Wohnung hörte man den Verkehrslärm nur wie ein monotones Summen.
Er stand auf und zog ein altes, ausgeblichenes Band-T-Shirt an. (Oberaffengeil stand darauf in Grün auf schwarzem Hintergrund. Oberaffengeil fühlte sich Nathan nie, zumindest nicht mehr.) In diesem T-Shirt und einer Calvin-Klein-Unterhose schlurfte er barfuß in das voll gestellte Wohnzimmer.
Sara saß mit einer Tasse Kaffee am Tisch und las das Feuilleton des Guardian. Nathan fiel ihre Natürlichkeit auf. Er sah, wie hübsch sie war und wie jung. Da ihr Gesicht frisch gewaschen und abgeschminkt war, konnte er die winzigen Unreinheiten und Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen sehen, und ihre Augen wirkten nackt und verletzlich. Ihre Beine waren unbedeckt, sie trug nur eins seiner T-Shirts. An ihr sah es aus wie ein Minikleid. So hatte sie auch immer an jenen weit zurückliegenden Samstagmorgen ausgesehen, als er sie gerade kennenlernte, an jenen Tagen, als es undenkbar schien, dass er sie jemals nicht mehr mögen könnte, oder sie ihn. Oder dass sie jemals aufhören könnten, Sex zu haben.
Später am Nachmittag kuschelten sie keusch auf dem Sofa und sahen einen Schwarz-Weiß-Film, während die Wintersonne im Westen unterging.
Um halb sechs begannen sie, sich fertig zu machen. Nathan duschte und rasierte sich. In seinem Schrank hingen einige feine Anzüge – er hatte sie mit seiner ersten Kreditkarte gekauft, als er und Sara gerade ein Paar geworden waren und er leichtsinnig war vor Verliebtheit und dem Gefühl, von diesem wundervollen Mädchen ebenfalls geliebt zu werden. Er besaß auch ein paar feine Hemden (die ebenfalls noch bezahlt werden mussten), und mehrere feine Krawatten. Nathan trug nie Krawatten, er hatte den falschen Job dafür. Aber Sara kaufte immer wieder welche, und mit jeder Krawatte, die er aus dem Seidenpapier wickelte, spürte er, wie ihre Verachtung für seinen mangelnden Ehrgeiz noch ein Stück zunahm. Die Krawatten hingen auf einer Stange in seinem Schrank wie eine grell leuchtende Anklage.
Als Sara schließlich inmitten einer parfümierten Dampfwolke und in ein weißes Handtuch gehüllt aus dem Badezimmer trat, war Nathan schon fertig angezogen und legte sein Portemonnaie und den Schlüssel auf dem Küchentisch bereit. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug über einem schwarzen T-Shirt.
Er setzte sich aufs Bett und sah ihr zu. Sie war kein bisschen unschlüssig; sie hatte schon seit Tagen geplant, was sie anziehen würde. Sie fönte ihr kurzes Haar energisch und schwungvoll, sodass ihr schräger Pony über ein Auge fiel. Das Make-up trug sie mit sparsamen, schnellen und geübten Bewegungen auf (aber in einer Weise, die, wie er wusste, ein ebenso gewissenhaftes, jahrelanges Training voraussetzte wie Hochleistungssport). Handtuch runter, Höschen an. BH. Halterlose Strümpfe. Ein Spritzer Parfüm. Kleid. Stöckelschuhe anziehen. Sich plötzlich daran erinnern, das Deo aufzutragen. Sich aus verschiedenen komplizierten Winkeln im Spiegel betrachten, Falten glätten und dabei charmant die Hüften wiegen. Handtasche öffnen. Schlüssel, Adressbuch, Handy und was für andere Geheimnisse die Tasche sonst noch enthält, überprüfen. Sich zum Spiegel vorbeugen. Am Pony herumzupfen und ihn minutiös glatt streichen. Wimperntusche auftragen.
Sie bestellte ein Taxi und mischte für sich und Nathan Gin Tonic. Der Plan war, Musik zu hören – Saras Musik –, bis das Taxi kam. Nathan hasste die Cranberries.
Er ging ins Bad und schloss die Tür ab. Seine eigene Nervosität machte ihn ein wenig verlegen, und er drehte die Wasserhähne nur auf, um ein Geräusch zu machen. Dann holte er ein kleines Plastiktütchen aus seiner Tasche, das vier Gramm Kokain in vier Briefchen enthielt. Er hatte sein Sparbuch leer geräumt, um es zu kaufen. Sein Dealer war Howard, der grauhaarige Ex-Journalist, der Mark Derbyshires Lösung produzierte.
Nathan schob sich zwei dicke Lines auf dem Spülkasten zurecht, nahm dann den kleinen Kokslöffel aus Zinn, den er in einem inzwischen geschlossenen Headshop in Cornwall gekauft hatte, in einem wunderbaren Sommer, der nun eine Million Jahre zurückzuliegen schien, und schnupfte rasch und geübt. Dann richtete er sich auf und schaute schniefend zur Decke. Sein Rotz schmeckte chemisch. Er lächelte vor Freude über die Erinnerung daran und merkte, dass es schon wirkte.
Er steckte den Löffel in die eine Hosentasche und die Briefchen in die andere, öffnete die Badezimmertür und trat schniefend hinaus.
In ihrem Partykleid stand Sara allein in der Mitte des Zimmers. Mit der einen Hand umfasste sie ihren Ellbogen, in der anderen hielt sie ein großes Glas Gin Tonic – als sei sie die Gastgeberin, die darauf wartete, dass die Party begann.
Am Bahnhof standen sie nach Tickets an. Sie mussten zwanzig Minuten herumkriegen. Sie tranken etwas in der uralten Bahnhofskneipe. Nathan ging auf die Toilette. Dann beeilten sie sich, um den Zug noch zu erreichen. Er stand an einem winterlich kalten Bahnsteig. Sie stiegen ein und setzten sich schweigend. Sara starrte scheinbar nachdenklich auf den leeren Blick ihres Spiegelbildes im Zugfenster und hindurch auf die Fahrgäste am Bahnsteig, die gespenstisch vorbeizogen.
»O Mann. Für eine Zigarette würde ich alles geben«, seufzte Nathan.
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
»Komm schon«, sagte er. »Nur heute Abend. Das sind die Nerven vor der Party.«
Sie ließ sich zu einem gutmütigen Lächeln herab. »Na gut. Es ist ja nur ein Abend.«
Es ist ja nur Krebs, dachte er und holte ein Päckchen Marlboro Lights aus seiner Manteltasche – eines von vieren, die er für diesen langen Abend gekauft hatte. Er stellte sich zwischen die Abteile des ratternden Zuges und blies den Rauch zum Fenster hinaus.
Eine halbe Stunde später erreichten sie Sutton Parkway. Der Bahnhof bestand nur aus einem dunklen, bitterkalten Betonbahnsteig.
Nathan nahm sich zusammen und dachte ein wenig traurig, dass für Sara der schönste Teil des Abends, die Vorfreude, nun beinahe vorbei war. Es war fast sicher, dass der Abend von jetzt an nur noch schlimmer werden würde.
Vor dem Bahnhof nahmen sie ein Taxi.